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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

301-302

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kunz-Lübcke, Andreas

Titel/Untertitel:

Das Kind in den antiken Kulturen des Mittelmeers. Israel – Ägypten – Griechenland.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2007. 260 S. m. zahlr. Abb. 8°. Kart. Eur 24,90. ISBN 978-3-7887-2208-1.

Rezensent:

Ilse Müllner

Kinder genießen seit einigen Jahren in den Bibelwissenschaften erhöhte Aufmerksamkeit. Ob Kindheit allgemein zum Thema gemacht wird (wie im 2002 erschienenen Jahrbuch Biblische Theologie und im hier besprochenen Titel) oder ob der Fokus auf Einzelaspekten liegt (Geburt etwa wie in einem Band von Marianne Groh­mann, Lernprozesse wie in den Arbeiten von Karin Finsterbusch oder Gewalt wie in einer Monographie von Andreas Michel): Kinder und Kindheit stehen im Fokus exegetisch-bibeltheologischen Interesses. – Dieser Band zeichnet sich gegenüber den anderen mir bekannten Arbeiten durch die Breite seines Ansatzes aus. K.-L. arbeitet zwar als Bibelwissenschafter (dieses Buch entstand im Rahmen eines DFG-Projekts in Leipzig »Das Kind in Israel in alttestamentlicher Zeit«), das ausgewertete Material stammt aber aus einem zeitlich wie geographisch viel weiteren Raum. So stehen neben biblischen Texten auch textliche und ikonographische Quellen aus dem alten Ägypten, dem antiken Griechenland, aber auch aus Mesopotamien.
Die Darstellung ist thematisch geordnet. In 31 Kapiteln werden Themenbereiche wie »Voraussetzungen von Empfängnis und Schwangerschaft«, »Geburtsgeschichten«, »Adoption«, »Die Morphologie des Kindes« oder »Kinderarbeit« behandelt. Unter jedem dieser 31 Schlagworte stellt K.-L. die unterschiedlichen Quellen zusammen und wertet sie thematisch aus. Dabei bleibt die thematische Orientierung auch innerhalb der Kapitel leitend, sie wird an keiner Stelle zu Gunsten etwa einer historisch-chronologischen oder kulturspezifischen aufgegeben. Hierin liegt eine Stärke des Buchs, da es einen thematisch orientierten Zugriff auf eine beachtliche Anzahl von Quellen eröffnet. Aber auch eine Schwäche, da sowohl Kulturspezifika als auch quellenspezifische Unterschiede zurücktreten. So erfolgt die Auswertung narrativer Texte der Bibel nach demselben Prinzip wie diejenige griechischer Tragödien oder ägyptischer Grabkunst. Gerade da, wo sozialhistorische Schlüsse gezogen werden, ist diese Vorgehensweise problematisch.
Die Vertrautheit mit den antiken Quellen erlaubt es K.-L., gängige sozialhistorische Urteile kritisch zu hinterfragen. So begegnet er der These vom Fehlen der Kindheit als relevanter Lebensspanne, wie sie von Philippe Ariès auf Grund des Fehlens ikonographischer Belege und von Neil Postman auf Grund der semantischen Spezifika des Griechischen vertreten wird, durch den Hinweis auf entsprechende bildliche und sprachliche Quellen. Besonders die ägyptische Ikonographie kennt eine Reihe von Kinderdarstellungen, die gerade auch im Rahmen der Sepulchralkultur auf eine Hochschätzung der Kinder in den entsprechenden Kreisen schließen lassen. Ebenso wenig lässt die semantische Unschärfe des Griechischen – wie auch des Hebräischen – den Schluss zu, dass Kindheit nicht als Lebensabschnitt wahrgenommen wurde. Das Fehlen eines ausschließlichen Begriffs für »Kind« darf, so K.-L., nicht dahingehend interpretiert werden, dass »Kinder nicht als Kinder wahrgenommen« worden wären (86). Gegenüber diesem sozialhistorischen Ansatz, der »Kindheit« als Entwicklung der Neuzeit im Gefolge der Industrialisierung ansieht, betont K.-L. in Bezug auf alle in seinem Buch berücksichtigten Mittelmeerkulturen: »Die Kindheit wird als eine eigene Lebensphase gewertet, von deren Gelingen die sich anschließende Erwachsenenbiographie abhängt.« (236)
Ökonomische Faktoren spielen in der Bewertung des Lebens mit Kindern bzw. der Kinderlosigkeit eine große Rolle. Sie allein können aber nicht erklären, warum gerade in Bezug auf wohlhabende Schichten im antiken Rom immer wieder deren mangelnde Bereitschaft zur Geburt und zum Aufziehen von Kindern beklagt wird. Dagegen ist in der Welt des Alten Orients, von der auch die biblischen Texte Zeugnis ablegen, der bewusste Verzicht auf Kinder undenkbar. Im Gegenteil: Kinderlosigkeit wird als großes Übel wahrgenommen.
Die Stärke dieses Buchs liegt darin, dass es einen Zugang zu einer großen Anzahl von Quellen unterschiedlicher antiker Kulturen eröffnet, die um »Kinder« kreisen. Hierin leistet K.-L. auch die Detailarbeit, bislang wenig Wahrgenommenes sichtbar zu ma­chen. Denn die oben erwähnten Positionen von Ariès, Postman und anderen verdanken sich auch einer Quellenlage, in der Kinder oftmals nicht ins Zentrum des Interesses gerückt, sonder eher en passant mit erwähnt werden. Andererseits ist die Verallgemeinerung vereinzelter Beobachtungen zu Motiven problematisch. Selbstverständlich kann in einem solch materialreichen Band nicht jede Einzeldiskussion Berücksichtigung finden. Einzelne Diskussionen, wie etwa die feministischen Untersuchungen zu Fragen nach Sexualität und Gewalt, oder fundierte Analysen, wie diejenige von Diethelm Michel zu Gewalt gegen Kinder im Alten Testament, hätten aber berücksichtigt werden müssen. Eine Einleitung wäre ebenso hilfreich wie ausführlichere Angaben zu den ikonographischen Quellen.
Diese Ausführungen können aber das Verdienst eines lesenswerten Buches nicht schmälern, anhand dessen Leserinnen und Leser sich einen guten Überblick verschaffen können.