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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1055–1059

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haacker, Klaus

Titel/Untertitel:

Biblische Theologie als engagierte Exegese. Theologische Grundfragen und thematische Studien

Verlag:

Wuppertal-Zürich: Brockhaus 1993. 216 S. 8° = TVG: Monographien und Studienbücher. ISBN 3-417-29384-7

Rezensent:

Hans Hübner

Bereits 1977 hat Klaus Haacker (H.) im Neukirchener Verlag als Band 1 der "Biblische(n) Theologische(n) Studien" einen Aufsatzband unterschiedlich über Biblische Theologie denkender Autoren herausgegeben, der den Titel trägt "Biblische Theologie heute. Einführung ­ Beispiel ­ Kontroversen". Jetzt hat er unter dem obengenannten Titel eine Sammlung eigener Aufsätze vorgelegt, die zum größten Teil zuvor in den Theologischen Beiträgen veröffentlicht worden waren, aber auch seinen eigenen Beitrag aus der soeben genannten Publikation von 1977. Insgesamt ergeben seine Aufsätze in diesem neuen Sammelwerk ein recht geschlossenes theologisches Bild.

Ich nenne zunächst zur Information die Titel der Beiträge. Sie sind unter zwei Überschriften zusammengefaßt, nämlich unter "Theologische Grundfragen" und "Thematische Studien in gesamtbiblischem Horizont". Die Aufsätze zum ersten Themenkreis: Die Autorität der Heiligen Schrift ­ Sola Scriptura. Zur Bedeutung der Bibel für die Kirche heute ­ Thesen zur biblischen Hermeneutik ­ Securitas oder certitudo. Grundentscheidungen in der Anwendung und Kritik historischer Methoden in der Bibelauslegung ­ Die Fragestellung der Biblischen Theologie als exegetische Aufgabe ­ Existenz und Exegese. Zum Weg der Bibelauslegung zwischen Historismus und Assimilation ­ Die neutestamentliche Wissenschaft und die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden ­ Der reformatorische Ansatz in der Schriftauslegung Julius Schniewinds. Die Aufsätze zum zweiten Themenkreis: Was meint die Bibel mit dem Glauben? ­ Glaube im Neuen Testament ­ Wie redet die Bibel vom Heiligen Geist? ­ Wie redet die Bibel vom Menschen? Biblische Vorgaben zur anthropologischen Diskussion heute ­ Wie redet die Bibel von Wahrheit? ­ Das kommende Reich Gottes als Ansatz sachgemäßer und zeitgemäßer evangelischer Predigt ­ Krankheit und Heilung in biblischer Sicht. Außer dem Nachweis der Erstveröffentlichung findet sich am Ende des Buches ein Personenregister.

Den ersten Kontakt mit H. hatte ich vor fast einem Vierteljahrhundert. Nachdem ein Kollege ihm meinen Aufsatz über die Herkunft des Paulus gegeben hatte, in dem ich gegen Joachim Jeremias, der im Apostel einen ursprünglichen Hilleliten gesehen hatte, diesen als Schammaiten hinstellte (KuD 19 [1973], 215-131), sah er in mir einen exegetischen Bundesgenossen; denn unabhängig von mir war er, freilich mit anderen Argumenten, zum gleichen Ergebnis gekommen (Das Institutum Judaicum der Universität Tübingen 1971/72, 106-120). Seine Freude über die Bundesgenossenschaft währte wohl nicht lange. Denn er mußte zur Kenntnis nehmen, daß ich mich in einer Reihe von Publikationen auf das schärfste gegen den Beschluß der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" (1980) wandte, weil ich in ihm den christlichen Glauben tangiert sah. Er aber ist ein leidenschaftlicher Verfechter gerade dieses Synodenbeschlusses.

Nun las ich also seine Aufsätze im Zusammenhang. Ich registrierte, daß er seinen Aufsatz "Die neutestamentliche Wissenschaft und die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden" (1983) wieder abgedruckt hat. Doch dazu will ich mich heute nicht äußern. Vielmehr sollen in dieser Rezension die anderen Aufsätze im Mittelpunkt des Interesses stehen. Und ich gestehe auch sofort: Vieles, ja sehr vieles in ihnen habe ich mit großer Aufmerksamkeit und größtem Interesse, ja sogar mit innerer Zustimmung, theologischer Zustimmung gelesen. Vielleicht wundert es H., daß er auf einmal Zustimmung gerade von mir bekommt. Doch mag er sich wundern oder nicht ­ soviel zeigt sich: Da, wo wir Exegeten unsere exegetische Wissenschaft als wirklich durch und durch theologische Disziplin sehen und sie auch so ausüben, da kommt es zur Übereinstimmung.

Es ist natürlich nicht möglich, alle Aufsätze hier zu referieren, geschweige sie alle zu beurteilen. Das ist bekanntlich bei einer Aufsatzsammlung aus naheliegenden Gründen nicht möglich. Aber was möglich ist, das ist, einige Akzente zu setzen und von einigen Stellen aus das Ganze zumindest anzuleuchten. Und das soll hier auch geschehen.

Ich verschweige nicht meine Allergie demgegenüber, was unter dem Namen "evangelikal" läuft. Und H. hat anscheinend Sympathie für die Evangelikalen. So sind einige der abgedruckten Beiträge vor evangelikalen Theologen gehalten worden. Und ich sage auch recht offen, daß ich nie in den "Theologischen Beiträgen" publiziert habe. Die meisten Studien des vorliegenden Sammelbandes sind aber in dieser Zeitschrift veröffentlicht.

Die theologische Welt evangelikaler Theologen und die theologische Welt des Rez. sind also äußerst verschieden. Vielleicht wiegt aber dann das, was ich positiv zu H. zu sagen habe, um so schwerer, als es mir nun wirklich nicht darum geht, Wasser auf die Mühlen evangelikaler Denkweise zu gießen.

Und so sei zunächst mit Nachdruck gesagt: Es lohnt sich, sich mit H. auseinanderzusetzen! Spezifischer noch: Es lohnt sich, sich theologisch mit ihm auseinanderzusetzen! Seine Aufsätze und Beiträge, die hier zur Diskussion stehen, hier zu rezensieren sind, sind von einem hohen theologischen Ethos getragen, das es zu achten gilt. Sie sind zu einem großen Teil von einer theologischen Einsicht bestimmt, mit der H. der heute so oft begegnenden Tendenz, exegetische Methodologie als ein rein weltliches Geschäft zu betrachten, mit erfreulicher Offenheit und Energie widerspricht. Vielem, was H. theologisch sagt, kann ich zustimmen. Seinem theologischen Verantwortungsbewußtsein weiß ich mich entschieden enger verbunden als dem, was angeblich kritische Exegeten ohne Kritik gegenüber ihrer eigenen sog. kritischen Methode zu sagen haben und die ohne Sensorium für die Hermeneutik theologischer Texte und zuweilen mit bewußt grundsätzlicher Distanzierung von der hermeneutischen Aufgabe exegetische Wissenschaft so betreiben, etsi Deus non daretur!

Was zunächst in solcher Allgemeinheit gesagt wurde, soll nun konkretisiert werden. Ich tue es symptomatisch anhand der Besprechung seiner 1972 zum erstenmal publizierten "Thesen zur biblischen Theologie" (36 ff.). Diese Studie ist wie folgt gegliedert: 1. "Buchstäbliche" Auslegung; 2. "Wörtliche" Auslegung; 3. Intentionale Auslegung; 4. Geschichtliche Auslegung; 5. Theologische Auslegung; 6. Kerygmatische Auslegung; 7. Die Einheit des Auslegungsprozesses. H. geht so vor, daß er jeweils das Anliegen der betreffenden Auslegungsart aufzeigt, ihr zumeist sogar folgt und dann, wo nötig, das methodische Defizit benennt.

Zu 1.: "Buchstäblichkeit ist also keine Zielangabe der Auslegung, aber eine von Fall zu Fall nötige´Leitplanke´ am Wege rechter Auslegung der Bibel."

Zu 2.: "Wörtliche" Auslegung heißt, eine Rede wörtlich nehmen als eigentliche Rede. Dem scheint H. zuzustimmen. Eine gewisse Reserve seinerseits formuliert er so: "Vokabeln für sich genommen haben eine manchmal erstaunliche Bedeutungsbreite, wie man sich an jedem Wörterbuch vor Augen führen kann. Die Forderung wörtlicher Auslegung ist also, wenn man ihr Anliegen klar herausstellen will, zu übersetzen und am besten auch zu ersetzen durch das Gebot, dem jeweiligen Text gerecht zu werden. Dies ist der Maßstab der Sachmäßigkeit, d. h. Wissenschaftlichkeit, auf dem Felde der Auslegung, und zwar nicht nur der Auslegung der Bibel, sondern allgemein."

Zu 3.: Hierbei geht es nach H. darum, was ein biblischer Verfasser hat ausdrücken wollen. Aus dem intentionalen Ansatz gehe die historische Fragestellung hervor. Doch genüge dieser Ansatz nicht.

Zu 4.: H. sieht in der Frage nach der Intention die Gefahr, "daß die Dimensionen der Sprache in intellektualistischer, voluntaristischer und individualistischer Hinsicht verkürzt werden". Denn in der sprachlichen Äußerung vollziehe sich ein Stück Geschichte. Ist Sprache ein Handeln im Wort, so enthalte die Dramatik der Texte "das dialogische Miteinander von Autor und Adressat, umgreift es aber auch in Richtung auf die soziale Breitendimension und die zeitliche Tiefendimension der Geschichte".

Zu 5.: Mit der theologischen Auslegung stößt nach H. die Auslegung der Bibel unweigerlich auf die Gottesfrage. Während die intentionale Frage der Gottesfrage aus dem Wege gehe, fordere das unbegrenzte Eingehen auf die Texte als Geschichte jedoch das Weiterdenken bis an den Punkt, wo vom Exegeten ein Urteil über die Geschichte verlangt werde. Ein etwas längeres Zitat ist angebracht (40): "Eine Vorentscheidung für ein konsequent profanes, von Gott absehendes oder Gott ausschließendes Wirklichkeitsverständnis steht einer konsequent geschichtlichen Hermeneutik im Wege. Es könnte ja sein, daß das biblische Zeugnis vom Handeln Gottes in bestimmten Ereignissen und Ereignisketten, namentlich in der Geschichte Israels, wahr ist. Diese Möglichkeit muß erkenntnistheoretisch eingeräumt werden. Dann wäre die Wirklichkeit Gottes der äußerste Kontext aller biblischen Texte."

H. spricht in diesem Zusammenhang mit vollem Recht von einer konsequent geschichtlichen Hermeneutik. Denn die Wirklichkeit der Geschichte und die Wirklichkeit Gottes lassen sich in der Tat nicht voneinander trennen. Wer im Sinne das AT und NT von Gott spricht, muß zugleich von Geschichte sprechen. Der Gott der Heiligen Schrift ist der in der Geschichte wirkende Gott.

Wer biblische Texte und somit die biblische Botschaft verstehen will ­ ich meine verstehen im eigentlichen Sinne! ­, der kann das nur, wenn er sich auf die biblische Botschaft einläßt. Ein "neutrales" Verstehen gibt es in dieser Hinsicht nicht! Spricht z. B. Paulus vom rechtfertigenden Gott, so hat nur der die Wirklichkeit der Rede von diesem rechtfertigendem Gott verstanden, der sich selbst als Gerechtfertigter versteht. Wer hingegen erklärt, er habe einen solchen Text verstanden, weil er definieren könne, was Paulus mit dem Begriff dikaiosyne theou sagen will, wer also eine Realität nur als Begriff versteht, der hat von der Realität und somit von der Aussage über die Realität nichts, aber auch gar nichts verstanden! Der Theologe, der hier Hermeneutik als bewußt "profane" Methodologie begreifen will, ist nicht Theologe.

Er hat auch nicht verstanden, was eine Theologische Fakultät ist! Will Hermeneutik wirklich zum Verstehen bringen, so ist sie im Blick auf theologische Texte nicht a priori theologische Hermeneutik, sondern eine Hermeneutik, die a priori nichts anderes als Verstehen intendiert. Aber wenn sie diese Intention hat, wird sie, indem sie als Hermeneutik theologischer Texte gehandhabt wird, mit Notwendigkeit beim Prozeß der Auslegung zur hermeneutica sacra. Hermeneutik als Hermeneutik schlechthin wird im Prozeß der Auslegung theologischer Texte zu solcher hermeneutica sacra. H. ist deshalb unbedingt zuzustimmen, wenn er sagt, daß sich die Verstehensfrage und die Wahrheitsfrage von hieraus als prinzipiell untrennbar erweisen. In der Tat (40): "Wer den biblischen Texten als Ausleger gerecht werden will, der muß früher oder später selbst Aussagen über Gott machen." Dem ist zuzustimmen, auch wenn man vielleicht besser sagen sollte; "Aussagen´über´ Gott". Und H. hat auch recht, wenn er die Vorentscheidung für eine konsequent profane, "atheistische" Methode als assertorische Stellungnahme zu dem Gott der Bibel begreift.

Es ist die Einsicht in die "geschichtliche Wirklichkeit Gottes" (40), die H. dazu führt, das Postulat einer "Biblischen Theologie", verstanden als gesamtbiblische Theologie, aufzustellen. Er erwartet sogar, "daß dort, wo die Gottesfrage ernst genommen und nicht ideologisch verbaut wird, die Dringlichkeit Biblischer Theologie erkannt und von ihrer Erneuerung eine Erneuerung der gesamten theologischen Wissenschaft erwarten wird" (40). Ein bemerkenswerter Optimismus! Im Prinzip gebe ich ihm recht, vorausgesetzt ­ Biblische Theologie wird in der Tat so betrieben, daß sie theologisch verantwortlich eine Erneuerung bringt. Ich fürchte aber, daß H. hier unter Erneuerung etwas anderes, zumindest etwas partiell anderes verstehen könnte als die, die den Kurs der rheinischen Kirche mit ihrem bereits genannten Synodalbeschluß von 1980 ablehnen. Wenn nun sogar in der rheinischen Kirche inzwischen für das Ordinationsgelübde der evangelischen Pfarrer eine Formel in Richtung auf jenen unglücklichen Beschluß von 1980 gefordert wird, diejenigen aber, die eine solche Formel als für sich verpflichtend ansehen sollen(1), in ihrem theologischen Unterricht auf der Universität zur entgegengesetzten theologischen Überzeugung gelangen, kommt es dann in der rheinischen Kirche zum Gewissenszwang? Zum sacrificium intellectus für viele, weil eine Weigerung den Zugang zum Pfarramt verschlösse, wegen der angespannten Stellensituation aber in einer anderen Landeskirche keine Anstellung möglich ist? Darf, so frage ich in großer Sorge, eine evangelische Kirche so mit ihren Kandidaten umgehen?

Zu 6.: Es stimmt (40): "In der Auslegung der Bibel geht es um das Weitergehen der Geschichte zwischen Gott und den Menschen, von der die Bibel redet." Es stimmt: "Der Ausleger wirkt an dieser Geschichte mit ­ dienend oder hemmend." Mit H. wird man sagen können, daß die Auslegung in die Struktur der Botensendung, die innerhalb der Bibel in Prophetie und Apostolat gesetzt ist, in der Weise hineingezogen wird, daß dabei die Identität der Botschaft in der Überbrückung einer räumlichen, zeitlichen und damit auch geistigen Distanz zu wahren ist. Und gegen einen gewissen Trend intra muros ecclesiae ist auch unbedingt mit H. diese Identität der Botschaft zu wahren.

Wenn aber H. schreibt, daß eine Orientierung der biblischen Hermeneutik am Leitbild der Kunstinterpretation im Ansatz von Dilthey und Bultmann an dieser Aufgabe vorbeiführt, dann ist zunächst zu kritisieren, daß die unterschidlichen Ansätze dieser beiden zu undifferenziert gesehen werden (s. allein schon R. Bultmann, Glauben und Verstehen II, 211 ff.). Und zudem ist zu bedenken, daß das Problem der unterschiedlichen Abhängigkeit Bultmanns von diesen beiden komplizierter ist, als es zumeist dargestellt wird.(2)

Ob man, wie H. will, hier an Strukturen der politischen Hermeneutik anknüpfen soll, ist m. E. recht fraglich. Doch mag man an dieser Stelle nicht das eigentliche Problem sehen. Vielleicht habe ich ihn richtig verstanden, wenn ich seiner Auffassung zustimme, daß die Auslegung der Bibel nicht durch Überspringung der Wahrheitsfrage "kerygmatisch werden wollen" "darf" (41).

Zu 7.: Das Resultat (41): "Jeder dieser Maßstäbe (sc. 1-6) hat seine Geltung an seinem Ort. Keiner hebt den anderen auf." Einverstanden! Ebenfalls bin ich mit der Aussage voll einverstanden, "daß der Auslegungsprozeß vorzeitig abgebrochen wird, wo er nicht zu theologischen Aussagen führt und zum Kampf um den Menschen wird". In der Tat, "dies ist ein verbreiteter Mangel exegetischer Arbeit"!

Alle in allem: Das symptomatische Eingehen auf einen der Aufsätze des Sammelbandes zeigt, daß H. als Exeget Theologe ist. Es zeigt weiter, daß er wichtige Dinge richtig gesehen hat, weil er sie theologisch gesehen hat. Ich hoffe, daß dieses positive Urteil wichtiger ist als die Differenzpunkte, die ich nicht verschweigen wollte und auch nicht verschweigen durfte.

Fussnoten:

(1) S. dazu die aufschlußreiche Stellungnahme von Notger Slenczka, Durch Jesus in den Sinaibund? Zur Änderung des Grundartikels der rheinischen Kirche, LM 34 (1995), 17-20.
(2) Ich habe mich dazu schon zur Genüge geäußert, auch in der ThLZ. Ich verzichte deshalb darauf, hier ins Detail zu gehen.