Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2009

Spalte:

287-289

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ehrman, Bart D.

Titel/Untertitel:

Abgeschrieben, falsch zitiert und missverstanden. Wie die Bibel wurde, was sie ist.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 256 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 22,95. ISBN 978-3-579-06450-5.

Rezensent:

Andreas Lindemann

»Misquoting Jesus. The Story Behind Who Changed the Bible and Why« lautet der amerikanische Originaltitel. Der Klappentext der deutschen Ausgabe informiert darüber, dass die Bibel »nicht vom Himmel gefallen« ist: »Und die, die die Geschichten aufgeschrieben und die Texte weitergegeben haben, waren nicht immer die Hellsten, die Sorgfältigsten und die Uneigennützigsten. Da wurde geschlafen, geschlampt und – wenn es denn der höheren Wahrheit oder dem, was man dafür hielt, diente – auch schon mal getrickst.« Nach dieser werbenden Einladung zur Lektüre erwartet man kaum, dass das Buch des einschlägig ausgewiesenen Autors eine Darstellung der Entstehung und Überlieferung des neutestamentlichen Textes ist. E. wendet sich »an Laien«; sein Buch ist, so E., »meines Wissens das erste seiner Art«, das »für Menschen geschrieben [wurde], die nichts über Textkritik wissen, die aber vielleicht gerne etwas darüber lernen möchten« (29). Zweifellos: In der vorliegenden Fassung (wer für die Übersetzung zeichnet, erfährt man nicht) liest sich das Buch zügig; es bietet viele interessante Details, und der Anmerkungsapparat (245–253) enthält auch zahlreiche Hinweise auf Sekundärliteratur, freilich nur englischsprachige; dass es auch deutschsprachige Forschung zur Textkritik gibt, erfährt der wissbegierige »Laie« nicht.
Am Anfang steht als »Einführung« eine autobiographische Darstellung von Erfahrungen, die E. einst mit seinem Glauben an die Verbalinspiration der Bibel gemacht hatte; die Auseinandersetzung mit Anhängern solcher Vorstellungen spielt eine entscheidende Rolle. E. lernte dann, dass es die »Urschriften« nicht gibt, sondern »nur Abschriften voller Fehler«, die sich vom Original »offenkundig in tausenderlei Hinsicht« unterscheiden (20). Was genau gemeint ist, wird allerdings nicht deutlich: Einerseits gibt es »mehr Unterschiede zwischen unseren Manuskripten als Worte im Neuen Testament«, aber dann sind andererseits die meisten Unterschiede »völlig bedeutungslos und unerheblich« (24).
In Kapitel 1 wird nach kurzen einleitenden Bemerkungen zum Judentum als einer »Religion des Buches« (30–34: Jesus »lehrte seine Jünger die Interpretation dieser Bücher«, 34) das Christentum unter der gleichen Überschrift dargestellt; E. beginnt mit den Paulusbriefen, es folgen die anderen »Buchtypen«. Die Hinweise zur Kanonsgeschichte enthalten die etwas überraschende Feststellung, dass wir »inzwischen genau die Zeit bestimmen« können, als erstmals »ein prominenter Christ« die neutestamentlichen Schriften aufzählte (50). Man erfährt schließlich vieles über Lesefähigkeit und öffentliches Vorlesen in der Antike. In Kapitel 2 geht es um das Abschreiben und die Probleme mit der scriptio continua; dass sich hier Fehler einschleichen konnten, wird am Beispiel von Hebr 1,3 gezeigt (70). In Kapitel 3 wird zunächst die Geschichte der frühen Textausgaben beschrieben; die Zahl der Varianten liege zwischen 200000 und 400000 (106), aber »in bemerkenswert vielen Fällen – den meisten eigentlich – stimmen Gelehrte im Großen und Ganzen überein« (111; ähnlich 233: »Hunderttausende von Textänderungen«, aber »die meisten völlig belanglos«). Es folgt in Kapitel 4 die Geschichte der neuzeitlichen Ausgaben, von John Mill (1707) über Tischendorf bis Westcott und Hort (1881) – neuere Editionen scheint es nicht zu geben, jedenfalls erfährt der »Laie« nichts von Nestle oder Aland. In Kapitel 5 werden Methoden der Textkritik beschrieben, u. a. mit der Annahme, die D-Lesart vom »wütenden Jesus« sei in Mk 1,41 wohl ursprünglich (153–160). In Kapitel 6 stellt E. theologisch motivierte Textänderungen vor, darunter als Beispiel die D-Lesart in Mk 1,11/Lk 3,22 (181–183 – ohne Hinweis auf Ps 2,7). In Kapitel 7 (»Der soziale Kontext des Textes«, 201–231) erfährt man etwas überrascht, das Kopieren früher christlicher Texte sei »insgesamt ein ›konservativer‹ Prozess« gewesen: »Die meisten Schreiber versuchten zweifellos, ihre Arbeit gewissenhaft zu tun, und stellten sicher, dass der von ihnen reproduzierte Text dem vorliegenden exakt glich« (201). Bewusste Veränderungen zeigten sich bei der Erwähnung von Frauen (202: »Von Jesus wird erzählt, dass er öffentlich mit Frauen debattierte und mit ihnen öffentlich Gottesdienst feierte«, wofür auf Mk 7,24–30; Joh 4,1–42 hingewiesen wird), wobei E. gute Argumente für den sekundären Charakter von 1Kor 14,34–35 nennt (207 f.; dass es dazu ebenso wie zu Junia in Röm 16,7 auch deutschsprachige Literatur gibt, erfährt man freilich nicht). Das Fehlen von Lk 23,34a in einigen Handschriften gilt als »antijüdische Textveränderung« (215–218), was freilich nicht recht zu der doch sehr breiten Bezeugung ebendieses Jesuswortes passt. »In einigen syrischen und lateinischen Manu­skripten« von Joh 4,22 stehe »das Heil kommt von Judäa«, d. h. »nicht das jüdische Volk hat die Welt errettet, sondern Jesu Tod im Land Judäa« (219); hier wüsste man gern Näheres, denn weder Nestle-Aland noch die Vulgata-Ausgaben erwähnen diese Lesart. Erstaunlich ist auch, dass eine ganz isolierte Lesart wie D in Mk 14,62 als einer im 2. Jh. typischen Tendenz entsprechend dargestellt wird – der Textbefund zeigt ja eher das Gegenteil.
Im Schlusskapitel lädt E. dazu ein, die biblischen Texte interpretierend zu lesen, was auch bedeute, »einen Text zu verändern«. Allerdings: »Wenn wir in unseren Köpfen einen Text umformulieren, verändern wir nicht die geschriebenen Worte auf der Seite. Doch genau dies taten manchmal die Schreiber: Sie tauschten die Worte aus« (243).
Nach der Lektüre des Buches ist man einigermaßen ratlos: Wer soll hier worüber informiert werden? Geht es um eine gemeinverständliche, gleichwohl wissenschaftlich verantwortete »Einführung in die Textkritik und -geschichte«? Oder sollen die Leser über die »Schlampereien« und »Verfälschungen«, die es beim Abschreiben der biblischen Texte gab, endlich »aufgeklärt« werden? Wem sollen die Literaturangaben dienen, wenn selbst die Kanonsgeschichte von Bruce Metzger, dem das Buch gewidmet ist, nur in ihrer Originalausgabe genannt wird, nicht aber in der deutschen Übersetzung? Auch Schriften der Apologeten und der Kirchenväter gibt es offenbar nicht in deutscher Übersetzung, so dass genau die Leser, an die sich das Buch doch wendet, uninformiert bleiben (sollen?).
Bisweilen scheint die deutsche Ausgabe den Sinn des vermutlich von E. Geschriebenen zu verfehlen; so wird zum Galaterbrief gesagt, es bereite »bereits der Ort, an dem der Text ursprünglich geschrieben wurde, … zahlreiche Schwierigkeiten« (72), aber die Fortsetzung zeigt, dass E. nicht vom Abfassungsort, sondern von der unklaren Adresse Galatien spricht. Der Palimpsest Codex Ephraemi wird zunächst falsch, dann richtig beschrieben (105.137). Zumindest missverständlich ist es, wenn man erfährt (108), »das Wort ›Herr‹, kyri o-« sei »in Manuskripten typischerweise mit KW abgekürzt« worden. Erstaunlich ist die häufige Verwendung des Verbs »ausmerzen« (111 u. ö.).