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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

285-287

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ballhorn, Egbert, u. Georg Steins [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 347 S. gr.8°. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-17-019109-9.

Rezensent:

Ansgar Wucherpfennig

Die historisch-kritische Methode war ursprünglich gegen eine dogmatische Theologie gerichtet. Mittlerweile ist sie aber selbst in der Gefahr, zu einer dogmatischen Wissenschaft zu erstarren. Oft wiederholt sie lehrbuchartig nicht mehr hinterfragte Glaubensüberzeugungen einer aufgeklärten Exegese. Die Berücksichtigung des Kanons als Voraussetzung der Auslegung der Schrift ist ein Ansatz, mit dem in der Exegese der letzten Jahrzehnte neue Wege beschritten worden sind – nicht konkurrierend, sondern komplementär zu historischen Fragestellungen. Mittlerweile ist die kanonische Exegese mehrfach auch durch Papst Benedikt in öffentlichen Stellungnahmen und Veröffentlichungen gewürdigt worden. Das vorliegende Buch über den Bibelkanon in der Auslegung der Schrift geht auf Treffen einer Arbeitsgruppe von jungen Exegetinnen und Exegeten des Alten und Neuen Testaments zu diesem Thema zurück (s. Vorwort). Referenzautor ist dabei immer wieder B. S. Childs, dessen Arbeiten in den 60er Jahren ihn mittlerweile zu einem Gründungsvater der kanonischen Exegese gemacht haben.
Der erste Teil widmet sich der methodischen Reflexion kanonischer Exegese. Im zweiten Teil folgen Beispiele kanonischer Auslegung zu Texten aus dem Alten und aus dem Neuen Testament. Egbert Ballhorn vergleicht in seinem Eröffnungsessay das kanonische Paradigma mit dem herkömmlichen historischen. Eine vom Kanon ausgehende Exegese ist nicht unhistorisch. Der Unterschied der beiden Paradigmen besteht in ihrer unterschiedlichen Suchrichtung (22): Historisch-kritische Erforschung steigt von der Ebene eines zu untersuchenden Textes herunter in die historischen Ursprünge auch seiner kleinster Einheiten. Kanonische Exegese geht dem Weg eines zu untersuchenden Textes nach, den er im Lauf seiner Überlieferungsgeschichte in den Kanon der Schrift gefunden hat. Durch die Einordnung in den Kanon erhält der biblische Text erst seine für die kanonische Auslegung maßgebliche Aussage. Die Vorgaben des Kanons geben der Auslegung ihre theologische Ge­stalt (vgl. für das Alte Testament etwa den Beitrag von Georg Steins, vor allem 124–128, für das Neuen Testament etwa den Beitrag von Karl-Wilhelm Niebuhr, 95–109).
Die unterschiedlichen konfessionellen Gemeinschaften, in denen ein Text überliefert wird – einschließlich des Judentums –, prägen daher auch sein Verständnis. Denn in ihnen findet der Kanon eine jeweils unterschiedliche Form. Die hebräische Schrift für die Juden ist im TaNaK anders angeordnet als die christliche Septuaginta, an deren Ende nicht die Ketubim, sondern die Propheten stehen. In der vorbyzantinischen Anordnung der neutestamentlichen Schriften im 39. Osterfestbrief des Athanasius stehen die katholischen Briefe unmittelbar nach der Apostelgeschichte noch vor Paulus. Im byzantinischen Kanon erhalten die Paulusbriefe diesen Platz und folgen unmittelbar der Apostelgeschichte. Erst so liest sich der Römerbrief kanonisch als Inhalt der Predigt des gefangenen Apostels an seine Glaubensbrüder in Rom am Ende der Apostelgeschichte (vgl. ebenfalls den Beitrag von Niebuhr).
Durch die unterschiedliche Ausrichtung zum historischen Paradigma hat die kanonische Auslegung der Schrift eine prinzipielle Tendenz zur theologischen Betrachtung eines Textes, die die rein historische ebenfalls prinzipiell nicht haben darf. Historische Kritik ist »Archäologie der Kommunikation«, wie Ballhorn schreibt (16), und daher einem Forscher von jedwedem Standpunkt aus möglich. Kanonische Exegese ist an den jeweiligen Kanon und damit auch an die damit verbundene Konfession zurückgebunden. Sie gibt damit die Geschichtswissenschaft nicht auf. Aber Ge­schichtswissenschaft wird zur ancilla einer theologischen Auslegung der Schrift. Ballhorn nennt sie »Hilfswissenschaft« (14). – Da­durch, dass der Schriftkanon nicht nur Christen vorliegt, sondern zudem prägend für weite Literaturbereiche außerhalb eines expliziten Bekenntnisses zum Christentum ist, öffnet kanonische Auslegung die Schrift auch für »›anonyme Mitglieder‹ der Lesegemeinschaft Kirche« (25). Ballhorn beschreibt hier treffend einen der Vorzüge kanonischer Exegese. Allerdings drückt der Karl Rahner entlehnte Ausdruck diesen Vorzug etwas schief aus. Ein Schriftsteller wie Thomas Mann, der die Schrift in seinem Joseph durchaus kanonisch liest, bleibt ja weder anonym noch wird er durch seinen Roman schon zum bekennenden Mitglied einer Kirche.
Angesichts der methodischen Offenheit der kanonischen Exegese fragt der Beitrag von Johannes Taschner nach den Regeln dafür, dass sie nicht in einem unendlichen »Spiel ohne Grenzen« zerfasert. Den Garant sieht er in den Gemeinschaften, in denen sich der Kanon der Heiligen Schrift etabliert hat und in denen er weiter überliefert wird. Die soziale Einbettung der Überlieferung gibt der kanonischen Auslegung Grenze und Kontur: »Welche Interpretation ›möglich‹ oder ›unmöglich‹ ist, wird immer unmerklich durch die jeweilige Auslegungsgemeinschaft festgelegt«, fasst Taschner zu­sam­men (43). Hier bleibt die Frage, ob die soziale Einbindung der Auslegung als einzige Spielregel genügt. Irenäus fasst nach seiner Darstellung der eigenartigen bis rätselhaften Schriftauslegungen der Valentinianer, die aber dennoch alle ihre Lehren aus der sola scriptura begründen, den christlichen Glauben in einer regula veri­tatis als Wahrheitsgarant der Schriftauslegung zusammen (Iren. haer. 11,1–2). Im Kern besteht sie in einer Vorform der späteren Symbola, also in einem ausdrück­lichen Bekenntnis zum Monotheismus, den das Christentum von Israel geerbt hat. Marius Reiser hat deshalb mehrfach auf die Notwendigkeit einer solchen regula fidei für die Exegese aufmerksam gemacht (vgl. Marius Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, WUNT 217, Tübingen 2007 [Sachregister]). Sie muss Grundregel der Auslegungsgemeinschaft sein und ist gleichzeitig Kriterium für die Stimmigkeit ihres Urteils.
Ilse Müllner reflektiert die kanonische Schriftauslegung aus feministischer Perspektive. Ihr Beitrag spiegelt deren Wandel von der »Woman’s Bible« von Elisabeth Cady Stanton 1895 bis zu ihren eigenen kritischen Anfragen an das Verhältnis von Kanonbildung und Macht wieder. Cady Stanton hatte ihre Woman’s Bible mit einem erschütternden negativen Credo begonnen: »I do not believe that any man ever saw or talked with God, I do not believe that God inspired the Mosaic code, or told the historians what they say he did about woman …« (76). Auf der anderen Seite dieses Spektrums zitiert Müllner das Dokument der päpstlichen Bibelkommission über die Interpretation der Bibel in der Kirche von 1993. Dessen letzter Abschnitt über die feministische Exegese »ruft den Frauen die jesuanische Lehre von der Macht als Dienst in Erinnerung und warnt davor, dass feministische Ansätze ihrerseits dem angeklagten Übel (i. e. des Machtmissbrauchs) erliegen könnten« (82). Allerdings er­wähnt derselbe Passus des Dokuments auch Gal 3,28, den neuen Umgang zwischen Männern und Frauen in den christlichen Gemeinden, und würdigt die Verdienste feministischer Exegese. Am Schluss ihres Beitrags macht Müllner darauf aufmerksam, dass Macht, sofern sie bei Kanonbildung und Auslegung als unvermeidbarer Faktor mit eingeht, sich immer als »dialogische Autorität« äußern muss. In diesem Punkt leistet kanonische Auslegung einen wertvollen Beitrag, insofern sie die »Vielstimmigkeit« der Schrift lebendig werden lässt.
Die beiden Beiträge von Marianne Grohmann über jüdische Psalmenexegese als Paradigma kanonischer Intertextualität und von Ludger Schwienhorst-Schönberger über die Auslegung von Psalm 1 bei Hieronymus werfen einen Blick in die Auslegungsgeschichte. Der Beitrag von Ludger Schwienhorst-Schönberger über Psalm 1 zeigt, wie die kanonische Auslegung der Schrift der Exegese wieder einen Dialog über die Jahrhunderte hinweg eröffnen kann. War die Auslegung der Väter lange Zeit als Allegorese verpönt, eröffnet die intertextuelle und kanonische Auslegung der Schrift hier ein faszinierendes Gespräch des Hieronymus mit dem heutigen Alttestamentler. Eine Regel der Väterexegese ist ihre Erklärung der Vielstimmigkeit. Die Vielstimmigkeit ist keine gellende Disharmonie, sondern: »Die Heilige Schrift ist in sich widerspruchsfrei« (219) hält Schwienhorst-Schönberger als einen für die heutige Exegese provokativen Grundsatz fest. »Alle Widersprüche der Schrift sind nur Scheinwidersprüche.« (220) Als Wort des einen Gottes kann die Schrift keinen objektiven Widerspruch in sich enthalten. »Dies zu zeigen, ist Aufgabe der Schriftauslegung. Und dies geschieht dadurch, dass man den Text sehr sorgfältig wahrnimmt und über das Wahrgenommene nachdenkt.« (220), ist die Folgerung für die Exegese. Damit leistet kanonische Exegese einen unaufgebbaren Beitrag zur Reflexion und Verkündigung des dreieinen Gottes und seiner Geschichte mit den Menschen.