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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

280-283

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kratz, Reinhard G., u. Hermann Spieckermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht. Antike Stimmen zu einem aktuellen Thema.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. VIII, 298 S. kl.8°. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-149463-5.

Rezensent:

Markus Witte

Der Sammelband bietet die Vorträge einer öffentlichen Ringvorlesung der Göttinger Akademie und Universität zum Jahr der Geis­teswissenschaften 2007, die vom Göttinger Graduiertenkolleg »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Mo­notheismus in der Welt der Antike« veranstaltet wurde. Im Zentrum der aus den Bereichen Ägyptologie, Altorientalistik, Alte Geschichte, Bibelwissenschaften, Iranistik, Klassische Philologie, Religionsphilosophie und Religionswissenschaft beigesteuerten Beiträge steht die Frage nach dem Verhältnis von Schicksalsglauben, menschlicher Freiheit und Verantwortung, Vorherbestimmung und Lenkung der Welt durch eine göttliche Macht.
Dabei zeigt sich für alle thematisierten Religionen und Kulturen, besonders deutlich aber im Blick auf Mesopotamien und auf das antike Rom, die Rationalität der Theologumena »Vorsehung«, »Schicksal« und »Macht« und der damit verbundenen rituellen Praktiken. Durchgehend erscheint der Glaube an Vorsehung und Vorherbestimmung als ein grundlegender Teil der religiösen Weltwahrnehmung in der Antike und im Alten Orient. Mit je eigenen Schwerpunkten bilden die Fragen nach dem Wesen des Göttlichen, nach dem Handlungsraum, der Handlungsabsicht und dem Handlungsziel des Menschen, nach Zeit und Ewigkeit sowie nach der legitimatorischen Funktion die Rahmenelemente der unterschiedlichen Vorstellungen von der Lenkung des Lebens durch Gott oder die Götter. Differenzen zeigen sich in der Zuschreibung der Verfügungsgewalt über das Schicksal, sei es an eine unpersönliche Macht, der – zumindest partiell – auch die Götter unterliegen, wie es sich beispielhaft in römischen Vorstellungen oder bei Homer zeigt, sei es an einen persönlichen Gott, der zugleich als der Einzige und der Allmächtige geglaubt wird, wie es beispielhaft für das jüdische, christliche und islamische Verständnis ist. Ebenso zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den behandelten Religionen im Blick auf die Korrelation eines Glaubens an die Vorsehung und der Haltung gegenüber dem Tod bzw. der Vorstellung von einem Jenseitsgericht und einem ewigen Leben. Insofern alle Beiträge ausgiebig Beispiele aus den behandelten Quellen, die jeweils knapp literatur- und zeitgeschichtlich eingeordnet werden, und entsprechende Hinweise zu weiterführender Literatur geben, sind die Leser eingeladen, sich selbst intensiv mit den präsentierten Texten auseinanderzusetzen.
Die Anordnung der einzelnen Beiträge spiegelt die Reihenfolge der Vorlesungen wider und ist, mit Ausnahme des Eröffnungsaufsatzes aus der Feder des Erfurter Religionswissenschaftlers Jörg Rüpke, an die kulturgeschichtliche Chronologie angelehnt. J. Rüpke thematisiert das römische Auspizien- und Prodigienwesen von der frühen Republik bis in die Kaiserzeit und definiert, dabei die Grenzen der römischen Welt überschreitend, Divination als rituelle Technik, die den Willen der Götter situationsspezifisch in Erfahrung bringen und so die Unsicherheit des Handels reduzieren soll (1–22). Sachlich steht diesem Artikel der Beitrag von Peter A. Kuhlmann zur Geschichte der Prodigien in Rom zur Seite, in dem die politischen und literarischen Faktoren bestimmt werden, welche die jeweiligen Blüten, Krisen und Gestalten der römischen Deutung und Applikation der göttlichen Zeichen bedingen (171–192).
Brigitte Groneberg beschreibt unter der Überschrift »Anzû stiehlt die Schicksalstafeln. Vorherbestimmung im Alten Orient« Lebens- und Todesverständnis der Menschen in Mesopotamien vom 3. bis 1. Jt. v. Chr. und führt in die Welt der babylonischen und assyrischen Zeichen- und Himmelskunde ein (23–39). Heike Sternberg el-Hotabi schreibt eine musterhafte Geschichte der Isis und zeigt eindrucksvoll, wie diese im Verlauf des 1. Jt.s v. Chr. von einer ursprünglich im Osiris-Mythos verankerten und auf die jenseitige Sphäre gerichteten Totengöttin zu einer allumfassenden Schick­salsgöttin mutiert (40–60).
Heinz-Günter Nesselrath stellt an ausgewählten Textbeispielen aus der Ilias und der Odyssee die Komplexität und die Differenziertheit des homerischen Verständnisses des Schicksals und des Verhältnisses der Götter zu diesem dar, das sich entgegen einem schon in der Spätantike nachweisbaren Missverständnis nicht einfach auf die Formel bringen lässt, auch Zeus unterliege ausnahmslos der Macht der Moira (61–82).
Philip G. Kreyenbroek schreitet als Stationen der Entwicklung des Schick­salsdenkens in der iranischen Religion die altiranische Zeit (seit 2000 v. Chr.), Zarathustra, den er früh datiert (1400/1200 v. Chr.), die achämenidische Zeit (6.–4. Jh. v. Chr.) und die Zeit der Sassaniden (3.–7. Jh. n. Chr.) ab. Eindrücklich arbeitet er die Modifikationen heraus, die der Zoroastrismus durch die Integration der babylonischen Astrologie im 6./5. Jh. v. Chr. und nach dem Zusam­menbruch des Achämenidenreichs unter Alexander d. Großen im 4. Jh. v. Chr. hinsichtlich der Entfaltung eines Geschichtsdeterminismus erfährt (83–103).
Hermann Spieckermann bietet die alttestamentliche Perspektive, wobei er auf das weitgehende Fehlen eines Begriffs für »Schicksal« und »Vorsehung« in der Hebräischen Bibel hinweist und sich dem vom Hellenismus wie von der Lektüre der biblischen Urgeschichte (Gen 1–11), dem Hiobbuch oder der aufkommenden Apokalyptik geprägten Buch Kohelet widmet, das er als einen Aufruf zum »Vertrauen gegen Lethargie und Resignation« liest (104–124). Gleichfalls jüdischen Schriften der hellenistisch(-römischen) Zeit ist der Beitrag von Reinhard G. Kratz verpflichtet, der am Beispiel der Loblieder aus Qumran (1QHodayot) und der Gemeinderegel (1QSerek) und entsprechenden Seitenblicken auf zeitgenössische jüdische Schriften, vor allem das Sirachbuch, aufzeigt, wie sich innerhalb der Qumrangemeinschaft im Verlauf des 2./1. Jh.s v. Chr. die Vorstellung von der Prädestination und dem unfreien Willen des Menschen entwickelt und wie sich dies in der Theologie, Anthropologie, Eschatologie und Ethik (nicht nur) der Qumrangemeinschaft niederschlägt (125–146).
Konstatierte bereits H. Spieckermann das Phänomen, dass das jüdische Schrifttum der hellenistischen Zeit relativ selten von der göttlichen pronoia spricht (Ausnahmen bilden das Zweite bis Vierte Makkabäerbuch und die Weisheit Salomos; sachlich müsste hier auch Ben Sira genannt werden), so entwirft Reinhard Feldmeier eine systematische Übersicht über die Transfor­mation des aus der platonischen und stoischen Philosophie stammenden Vorsehungsdenkens im Neuen Testament (147–170): Im Gegensatz zum ge­sichtslosen fatum, das J. Rüpke für die römische Religion beschrieben hat, aber in Analogie zu der von H. Sternberg el-Hotabi am Beispiel der Isis geschilderten »Genderisierung der Religion« (59 f.), sind in den neutestamentlichen Schriften die Äquivalente für »Vorsehung« strikt bezogen auf Gottes Heilszusagen, die in Jesus Christus ihr personales Profil und im Erweis der göttlichen Barmherzigkeit ihre Eindeutigkeit bekommen. Die Erfahrung, dass diese Eindeutigkeit gleichwohl kein eindeutiges Echo findet, kennzeichnet das Ringen des Paulus um die universale Anerkennung des Evangeliums als der guten Botschaft, das Florian Wilk vor dem Hintergrund der Biographie und des Schriftgebrauchs des Paulus analysiert (193–214).
Mit den Beiträgen von Tilman Nagel zu islamischen Konzepten der Vorherbestimmung (215–240) und von Martin Tamcke zur Deutung von Katastrophen in der ostsyrischen Literatur (241–263) sowie dem »religionsphilosophischen Versuch« zu »Gott und Macht« des Mainzer Bischofs Karl Kardinal Lehmann (264–290) folgen Stimmen, die den Rahmen der Antike überschreiten, wenngleich sie alle in dieser ihre Wurzeln haben. T. Nagel tritt dem pauschalen Bild eines muslimischen Determinismus entgegen, weist auf schon innerkoranische Differenzierungen hin und stellt exemplarisch Entwicklungen von der Lehre der sog. Mu‛tazila im 9. Jh. über die Theosophie des Ibn ‛Arabi im 13. Jh. bis hin zur islamischen Theologie des 19. Jh.s dar. M. Tamcke dokumentiert anhand ausgewählter Textbeispiele aus der ostsyrischen Literatur, wie die nestorianische Kirche als eine von ihren Anfängen im 2. Jh. bis heute verfolgte Kirche in der biblischen Tradition der Klage vor und gegen Gott und der Akzeptanz eines von Gott geschickten Leidens mit Erfahrungen von Hunger, Not, Unterdrückung und Vertreibung umgehe. Der von Tamcke nachgezeichneten Blutspur, die sich durch die ostsyrische Kirche zieht, steht das kräftige Bekenntnis K. Lehmanns zur Allmacht Gottes, die sich in ihrer Differenz zu weltlicher Macht, in ihrer Verankerung in der Einzigartigkeit Gottes, in ihrer Einladung des Menschen zur Partizipation, in der Selbsthingabe des Gottessohnes und in der Macht seiner Liebe manifestiere, gegenüber.
Die Stärke dieses Aufsatzbandes liegt nicht nur in der Qualität der einzelnen Beiträge, die eine gelungene Mischung aus Überblicksvorlesungen und exemplarischen Vertiefungen darstellen, sondern auch in seiner thematischen Fokussierung, womit er sich klar von anderen Tagungsbänden, die im Rahmen des »Jahres der Geisteswissenschaften« produziert wurden, absetzt. Anlass zur Kritik mag lediglich die Beschränkung auf religionsgeschichtliche Disziplinen der Geisteswissenschaften bieten, was auch nicht durch den religionsphilosophischen Beitrag von K. Lehmann aufgefangen wird. Zwar kündigt schon der Untertitel des Bandes an, dass antike Stimmen zu einem aktuellen Thema geboten werden, doch wäre es durchaus reizvoll gewesen, auch jeweils eine Stimme aus dem Bereich der Mathematik, der Hirnforschung, der Philosophie und nicht zuletzt der empirischen Religionsforschung in diesem Konzert zu hören, zumal in einzelnen Vorträgen, wenn auch nur punktuell, auf die gegenwärtige Hochkonjunktur von Horoskopie und Astrologie oder auf naturwissenschaftliche Erkundungen der biochemischen Prozesse im Akt der menschlichen Willensbildung und Willensbindung verwiesen wird.