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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1054 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dettwiler, Andreas

Titel/Untertitel:

Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 328 S. gr. 8° = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 169. Pp. DM 128,­. ISBN 3-525-53852-9

Rezensent:

Jürgen Becker

Die Methodendiskussion in den beiden exegetischen Disziplinen der Theologie zeigt nicht ganz selten, daß der Ausgangspunkt einer neuen Fragestellung bei den Alttestamentlern liegt. Ein solcher Vorgang scheint nun ein weiteres Mal zu beobachten zu sein. Denn nachdem seit einigen Jahren die atl. Forschung ihr Augenmerk auf die redaktions- und rezeptionsgeschichtlichen Fragen der geschichtlich erzählenden und der prophetischen Literatur des Alten Testaments richtet, hat nun diese Forschungsrichtung auch die ntl. Wissenschaft erreicht. D. ist dafür mit seiner bei J. Zumstein entstandenen Dissertation zu den johanneischen Abschiedsreden ein gutes Beispiel, zu dem der Doktorvater durch verschiedene Aufsätze zum vierten Evangelium selbst die erste Weichenstellung vorgab (vgl. Miettes exégétiques, MoBi 25, 1991).

Wer wie D. mit vollem Recht und guten Gründen die synchrone Kohärenz sowie die diachrone Komplexität des Johannesevangeliums betont, muß sich notwendigerweise der geschichtlichen Tiefe des Werkes stellen. Das haben in der Vergangenheit in der Tat nicht wenige Forscher getan. Meistens geschah das allerdings so, daß man mehr oder weniger konsequent, von den Textverwerfungen ausgehend, Traditionsstücke rekonstruierte (z. B. den Logoshymnus in Joh 1,1-18) oder literarische Schichten ausmachte (z. B. eine Semeiaquelle). Dann warf man noch einen Blick auf die theologische Arbeit, die der vierte Evangelist oder die kirchliche Redaktion leistete und bestimmte ihren theologiegeschichtlichen Ort innerhalb der Geschichte der johanneischen Gemeinde(n). Man gab sich jedoch nur ansatzweise Rechenschaft darüber, welche konkreten Rezeptionsprozesse dabei unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten eine Rolle spielten und wie sich auf dem Hintergrund solcher Beobachtungen bestimmen läßt, wie ein redigierender Interpret das ganze Werk theologisch neu verstand, ja ein neues Ganzes schaffen wollte. Genau in diese Richtung zielt die Untersuchung von D.

Sicherlich gab es bisher schon z. B. Beobachtungen, daß etwa einer der literarkritischen Testfälle des vierten Evangeliums, nämlich Joh 21, nicht nur eine nachträgliche Stoffaddition ist, sondern mit den zur selben Schicht gehörenden Lieblingsjüngertexten dem Evangelium insgesamt ein neues "kanonisches" Gesicht geben sollte. Auch hatte J. Zumstein gerade an diesem Text schon ausprobiert, inwiefern die Kategorie, die für D. Leitfunktion erhält, nämlich der Fall einer relecture, den Text angemessen zum Sprechen bringt. Doch ist es das Verdienst von D., den Begriff der relecture einer gründlichen definierenden Bemühung unterworfen und dann diese Kategorie auf die Abschiedsreden angewendet zu haben, also auf Joh 13-16 (Joh 17 wird ganz zurückgestellt). Dies geschieht alles in einer so bestechenden Klarheit der eigenen Gedankenführung, der exakten Beschreibung des Forschungs- und Diskussionsstandes und der eigenständigen Beobachtung an den Texten, daß D. mit seiner Dissertation der Erklärung von einzelnen Textphänomenen im vierten Evangelium mit Hilfe der Kategorie der relecture wohl endgültig den Weg gebahnt hat. Nicht zuletzt die eindringliche und umsichtige exegetische Bemühung und die vorbildliche Weise, mit der Textgestalt, Textgehalt und Textsituation beschrieben wurden, begründen für mich diese Annahme.

Was meint D. mit einer relecture? Für ihn ist relecture (46-52) ein intertextuelles Phänomen, das einen Rezeptionstext und einen Bezugstext so zueinander geordnet versteht, daß dabei der Bezugstext auf den Rezeptionstext aufbaut, ihn weiter entwickelt und dabei neues Licht auf den Bezugstext wirft. So entsteht eine neue Sinntotalität, die eine diachrone Geschichte der Textentwicklung voraussetzt und zugleich ein neues synchron-kopräsentes Verhältnis repräsentiert. So wird der Text Joh 13-16 als Vergegenwärtigung des Vollzugs einer geschichtlich vollzogenen Denkbewegung verstanden. Dabei behält der Bezugstext weiter Gültigkeit und wird unter Akzentverlagerungen ausgelegt. Der Rezeptionstext wird dementsprechend von Anfang an als Rezeptionstext erstellt. Der Anlaß für solche Tätigkeit kann das Bedürfnis nach mehr theologischer Klarheit wie auch eine neue geschichtliche Situation sein. Bei diesen re-lecture-Vorgängen ist endlich die Autorenfrage zweitrangig. Die Hypothese einer johanneischen Schule legt sich D. mit Recht nahe.

Konkret hat D. insbesondere an Joh 16,4b-33 (ich neige jedoch weiterhin dazu, lieber 16,16-33 abzugrenzen) gezeigt, wie diese letzte Abschiedsrede auf der ersten (13,31-14,31) fußt, eine relecture vollzieht und zugleich alle Abschiedsreden bündelt (213 ff.). Er deutet an, daß er außerhalb seines Textfeldes in Joh 21 und Joh 6 dieselbe Kategorie anwenden will. Dem kann man zustimmen. Allerdings weiß der Autor auch, daß er nicht die gesamte diachrone Geschichte des Johannesevangeliums so erklären kann. Dies gilt es zu betonen. Aber ist nicht gerade bei diesem Evangelium schon viel gewonnen, wenn ein Teilaspekt seiner Entstehung präzise beschrieben wird?

Schade, daß D. auf Chr. Niemand: Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium, StAns 114, 1993, nicht (mehr?) eingegangen ist. Auch zu Joh 15,1-17 bleiben Fragen offen: Der Text entbehrt der Abschiedssituation und ist wohl besser als ehedem selbständige Einzeltradition zu deuten (ÖTK 4/2, 3. Aufl., 572 ff.). Dann aber kann er nicht als relecture verstanden werden, sondern verdankt sich einem anderen Prozeß, nämlich der Literarisierung mündlicher Tradition, die literarisch durch spezielle "Vortexte" (hier 13,34 f.) eingebunden wird. Doch wie immer man solche einzelnen Textphänomene beurteilen mag, entscheidend an der Dissertation ist der überzeugende Versuch, einen wichtigen Aspekt bei der Entstehung des so komplexen Evangeliums nachhaltig herausgestellt zu haben.