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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1050–1053

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Willi-Plein, Ina

Titel/Untertitel:

Opfer und Kult im alten Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse

Verlag:

Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1993. 172 S. 8° = Stuttgarter Bibelstudien, 153. Kart. DM 39,80. ISBN 3-460-04531-0

Rezensent:

Bernd Janowski

Bis vor wenigen Jahren hatten Bücher über Opfer und Kult im alten Israel nicht gerade Konjunktur. Es gab sie zwar(1), sie standen aber nicht im Blickpunkt des exegetischen und theologischen Interesses. Die Nachwirkungen dieses besonders im deutsprachigen Raum verbreiteten Defizits sind in Theologie und Kirche gleichermaßen spürbar, seine Wurzeln aber nur schwer auszumachen. Eine der Ursachen wird von I. Willi-Plein in ihrer Studie gleich eingangs genannt: "Die ´Kultkritik´ der Propheten im Sinne einer Überwindung kultischen Denkens, was auch immer man sich darunter im einzelnen vorstellen mag, gilt überwiegend als ausgemacht. Die daraus abgeleitete Parole vom ´überholten Opferkult´ liefert rasche Antworten in theologischen Examina und hurtig spiritualisierenden Predigten" (7). Das Dilemma reicht aber tiefer. Es hängt offenbar mit der Unfähigkeit zusammen, den Kult statt als Versuch einer "Selbsterlösung des Menschen" (L. Köhler)(2) als Diskurs wahrzunehmen, der ­ religionswissenschaftlich gesprochen ­ die Welt der Götter und der Menschen mittels Sprache und Ritus zusammenhält. Die Anstöße zu einer Neubewertung des (Opfer-)Kults kamen seit den 80er Jahren denn auch von außen(3) und trafen in der atl. Wissenschaft auf eine Situation, in der man sich den Fragen der Religionsgeschichte Israels und der materiellen Kultur Palästinas (´Biblische Archäologie´) wieder zu öffnen begann. In diesen Forschungskontext gehört auch das vorliegende Buch. Obwohl die Vfn. nach eigenem Bekunden nur Zwischenergebnisse vorlegt, hat sie doch mehr als nur erste Schritte in Richtung auf eine Gesamtschau von Opfer und Kult im alten Israel gemacht.

Die aus fünf Kapiteln und einer Schlußzusammenfassung bestehende Studie setzt mit einer "Suche nach den Anfängen" des israelitischen (Opfer-)Kultes ein (9-24). Einen Blick in diese Anfänge gewährt z. B. die Überlieferung von Ri 17 f., auch wenn sie nur "in der Brechung einer späteren Erzählung" (16) vorliegt. Wenn man aber nicht in der Erwartung eines einheitlichen Bildes an die (frühe) Religionsgeschichte Israels herangeht und den literarischen Charakter der Texte in Rechnung stellt, geben Ri 17-18 (und weitere Texte) doch zumindest implizite Hinweise auf den Privatkult der frühen Eisenzeit (ca. 1250-1000 v. Chr.). Da zum Inventar des früheisenzeitlichen Hausheiligtums außer dem Kultbild ­ kein Altar, aber ­ Ephod und Teraphim gehört haben, dürfte dieser Privatkult weniger im Opfervollzug als in der sakralen Entscheidungsfindung sein Zentrum gehabt haben: "Die biblische Überlieferung weiß und berichtet von dezentralen Kulten und Hausheiligtümern, wandernden Leviten als Berufspriestern oder Kultsachverständigen, Privatkult und Stammesheiligtümern, Götterbildern sowie Efod und Terafim als Orakelmitteln, und zwar von diesen allen als integralen Bestandteilen des JHWH-Kultes. Israel oder jedenfalls die Menschen, die das spätere Israel bilden (werden), partizipiert also an den Kultformen und dem Kultinventar ­ v. a. im privaten Bereich ­ seiner nichtisraelitischen Umwelt, v. a. im syrischen Raum" (23, vgl. auch die kultgeschichtlichen Folgerungen 12 ff. sowie die Ausführungen zu den Orakelinstrumenten Ephod und Teraphim 17 ff.).(4)

Gibt es aber (archaische) Kultausübungen auch ohne Opfer oder ist nicht jede kultische Darbringung von vornherein ein Opfer? Diese Fragen leiten zum zweiten Kapitel ("Der kultische Lebenszusammenhang", 25-70) über, in dem die Vfn. nach dem Wesen des Opfers (einziger übergreifender Opferterminus des Alten Testaments ist qorban "[Annäherung >] Darbringung"), der Unterscheidung von rein und unrein, dem Phänomen und Begriff des Heiligen, der Antithese von Leben und Tod und der Gegenwart Gottes im Kultgeschehen fragt und dabei immer wieder (s. bes. 39 ff.) Ergebnisse der Kulturanthropologie(5) berücksichtigt. Bei der Analyse der für den "kultischen Lebenszusammenhang" konstitutiven Grundakte und -begriffe (Opfer, rein/unrein, heilig/profan, Leben/Tod, Gottesdienst) stehen bestimmte Leittexte im Mittelpunkt: Am 4,4 f.; 5,21-25; Hos 3,4; 4,12-14; 9,3-5; 10,1 f. (zum Opferbegriff); Dtn 12 ff.; Lev 11 ff. u. a. (zur kultischen Reinheit); Jes 6,3; Hos 11,9; Hag 2,11-13 u. a. (zur Heiligkeit); Dtn 18,10; 1Sam 28; Jes 29,4; Ez 16; 23 u.a. (zur Leben/Tod-Alternative, verdeutlicht anhand der Totenbefragung, des Höhenkults, des Molek-Opfers). Den Kontrapunkt zu der "synkretistischen Kultvielfalt", wie sie in spätvorexilischer Zeit um sich zu greifen beginnt (vgl. 51 ff.), bildet eine ansprechende Kurzexegese von Ex 24,1-11 ("Der ideale Gottesdienst", 64-70), die für den literarisch ältesten Kern des Kapitels in V.1+9-11 (noch vorexilisch) den Zusammenhang von Gottesschau und Mahlgemeinschaft als konstitutiv herausstellt.

Mit dem Kapitel "Vielfalt und Eigenart der Einzelopfer" (71-95) nimmt die Vfn. ihre Überlegungen zum Wesen des Opfers (vgl. bes. 26) auf und bespricht anhand ausgewählter Textbeispiele zunächst die Opferarten, die sich nicht durch den Anlaß/Zweck, sondern durch den jeweiligen Ritus definieren lassen: zaebah. "Schlachtopfer" (1Sam 9; 1Sam 1 u. a., vgl. die Zusammenfassung 78), minh.â "Huldigungsopfer" (Gen 4; Mal 1,11 u. a.), ´ôlâ "Brandopfer" (Ri 6; 13; 1Kön 18; Gen 22 u. a., vgl. zum Charakter des Brandopfers 86 ff.), ´issæ- "Feueropfer"(6) und zaebah. sela-mîm "Heils-Schlachtopfer"(7). Im Unterschied dazu werden anschließend die Rituale/Riten dargestellt, die als "Bewältigung der Bedrohung von Lebenszusammenhängen" (96-127) vollzogen wurden. Dazu zählen das Sünd- und das Schuldopfer (hat.t.´a-t und ´a-sa-m Lev 4 f. u. a., vgl. 104 ff. zum Sündenbockritus Lev 16,5 ff.20 ff.), aber auch die Sühnezeremonie am Großen Versöhnungstag Lev 16 (besonders an der kapporaet "Sühnegelegenheit" [Übers. der Vfn.], vgl. Ex 25,17-22 u. a.) und den Passa-Ritus/das Passa-Opfer (Ex 12,1-13,10). Besonders die Passa-Überlieferung von Ex 12 (vgl. 114 zur überlieferungsgeschichtlichen Hypothese: JE-Texte [8. Jh.?], D-Texte [+/- 600 v.Chr.], P-Texte [frühestens exilisch]) wird eingehender interpretiert (111-127)(8) und mit den übrigen Passa-Texten des Alten Testaments (Dtn 16; 2Kön 23,21-23; 2 Chr 30 u.a.) verglichen. Warum die Samaritaner das Passa als einziges Opfer bis zur Gegenwart beibehalten haben, obwohl der Tempel zerstört war, wird im Gespräch mit Joachim Jeremias erörtert (125 ff.).

Angesichts der Vielfalt der Kult- und Opferformen stellt sich die Frage nach der Einheit des Kultes: Wann und wodurch wurde sie herbeigeführt? Mit dem Stichwort der ´Einheit´ ist der Grundgedanke der deuteronomischen Reform und der mit ihr verbundenen Auffindung des Buches Deuteronomium (´Urdeuteronomium´) benannt. Dieses Buch "hat ­ v. a. auch über das von ihm geprägte ´deuteronomistische Geschichtswerk´, die deuteronomische Überarbeitung des Pentateuch und überhaupt die deuteronomistische Prägung und Redaktion der literarischen Traditionen Israels ­ das nachexilische Israel, das Judentum und somit auch unser Bild vom Glauben Israels und seinen Ausdrucksformen nachhaltig und umfassend geprägt" (128). Diesen Zusammenhängen ist das fünfte Kapitel ("Die Einheit im Kult", 128-152) gewidmet, das den tiefen kultgeschichtlichen Einschnitt des Deuteronomiums (verdeutlicht an Dtn 16)(9) und dessen Wirkungsgeschichte thematisiert. Nach Dtn 22,10 löste die Auffindung und Durchsetzung des Deuteronomiums Erschütterungen aus, die bis in die Prophetie Jeremias ("Tempelrede" Jer 7,1-15) und deren dtr Fortschreibungen (Jer 7,16-8,3 u. a.) nachwirkte. In der Prophetie der späten Königszeit (Zeph 1,4-7; 3,9 f.) und der nachexilischen Zeit (Mal 1,11 u. a.) lebt dann wieder die Tradition der prophetischen Kultkritik des 8.Jh. v. Chr. auf (149 ff.).

Wie der Kurzdurchgang durch die Themen und Ergebnisse ihrer Studie zeigt, hat die Vfn. wesentliche Bausteine für eine ausgreifende Religions- und Theologiegeschichte des altisraelitischen (Opfer-)Kults zusammengetragen. Angesichts der verbreiteten Verlegenheit gegenüber Opfer und Kult ­ beide "haben für den modernen Menschen etwas Peinliches an sich, weil sie materiell vollziehen, was spirituell wirken soll" (157) ­ versucht sie erfolgreich verständlich zu machen, daß es im Kult um die Begegnung mit dem Heiligen, also um etwas Geistiges, aber "in den Gegebenheiten von Ort und Zeit dieser Welt" (157f.) geht. Dieser durch alle Teile dieses vorzüglichen Buchs durchgehaltene Grundgedanke(10) macht es zu einem verläßlichen Führer durch ein zwar schwieriges, von Theologie und Kirche aber allzuoft und immer zu ihrem Schaden gemiedenes Gelände, dessen Lektüre und Gebrauch nachdrücklich zu empfehlen ist.

Fussnoten:

(1) Die Situation hat sich erst in den 80er Jahren geändert; bis dahin gab es im deutsprachigen Raum nur wenige, aber gehaltvolle Monographien (von H.-J. Hermisson, Sprache und Ritus im altisraelitischen Kultus, Neukirchen-Vluyn 1965; K. Elliger, Leviticus, Tübingen 1966; R. Rendtorff, Studien zur Geschichte des Opfers im alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1967 u. a.), s. den Überblick bei H. Seebaß, Art. Opfer II (AT), TRE 25 (1995) 259-267 und B. Janowski, Art. Opfer (AT), NBL III/11 (1996).
(2) Theologie des Alten Testaments, Tübingen 41966, 171ff, vgl. zur Sache M. Limbeck, "Wer Dank opfert, der preiset mich" Ps 50,23. Möglichkeiten und Grenzen kultischer Opfer, BiKi 49 (1994) 132-137 und Chr. K. Saßmann, Die Opferbereitschaft Israels. Anthropologische und theologische Voraussetzungen des Opferkultes (EHS.T XXIII/529), Frankfurt a.M. 1995, 11 ff.
(3) Vor allem durch die ­ in Anlage und Absicht so unterschiedlichen ­ Arbeiten von W. Burkert, Homo necans, Berlin/New York 1972; R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987 (frz. Paris 1972), ders., Das Ende der Gewalt, Freiburg u. a. 1983 (frz. Paris 1978), und M. Detienne/J.-P. Vernant, La cuisine du sacrifice en pays grec, Paris 1979. Zum Entstehungskontext dieser Arbeiten s. W. Burkert, Zur Anthropologie des religösen Opfers, in: H. Rössner (Hrsg.), Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie, München 1986, 205-227 und R. Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt a. M. 1994, 296 ff.
(4) Das hier entworfene Bild des frühisraelitischen Kults ist, wie die Vfn. natürlich selber weiß und auch betont, lückenhaft, nicht nur was die Quellenlage, sondern auch was die angeschnittenen Themen angeht, s. ergänzend und vertiefend R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit (GAT 8/1-2), Göttingen 1992, 104 ff.143 ff. (zum familiären Kleinkult 150 ff.); O. Keel/Chr. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole (QD 134), Freiburg u.a. 1992/31995, 123 ff.; W. Zwickel, Der Tempelkult in Kanaan und Israel (FAT 10), Tübingen 1994, 204 ff. 285 ff. u. a.
(5) M. Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigungen und Tabu, Berlin 1985 (engl. 1966). Die Diskussionslage ist inzwischen allerdings komplexer geworden, s. dazu die Lit.-Hinweise bei B. Janowski/U. Neumann-Gorsolke, in: B. Janowski u.a. (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 217 f.
(6) Zu der auch von der Vfn. (a.a.O. 92) geteilten These einer Verbindung von ’issæ- mit ug. tt s. jetzt aber M. Dietrich/O. Loretz, Ugaritisch it-, t-yndr und hebräisch ’sh, sy, UF 26 (1994) 63- 72.
(7) Mit ihrer Vermutung, daß "die Akten über den Charakter des alttestamentlichen Schelamimopfers noch nicht endgültig geschlossen werden" (94) können, dürfte die Vfn. im Recht sein, s. zu dieser Opferart jetzt noch D. Schwemer, Das alttestamentliche Doppelritual Œlwt wslmym im Horizont der hurritischen Opfertermini ambassi und keldi, in: Studies on the Civilization and Culture of Nuzi and the Hurrians 7 (1995) 81-116 und Th. Seidl, Art. sela-mîm ThWAT VIII (1995) 101-111.
(8) Zu ergänzen ist E. Otto, Art. pa-sah./paesah. , ThWAT VI (1989) 659-682 und K. Gründwaldt, Exil und Identität. Beschneidung, Passa und Sabbat in der Priesterschrift (BBB 85), Frankfurt a. M. 1992, 71 ff.
(9) Zur deuteronomischen Opfertheologie s. zusammenfassend H.U. Steymans, Die Opfer im Buch Deuteronomium. Ihre Funktion im Leben des Gottesvolkes, BiKi 49 (1994) 126-131 (Lit.).
(10) Er ließe sich m. E. durch entsprechende kultur- und religionstheoretische Weiterführungen noch erheblich ausbauen, s. dazu F. Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft (KVR 1527), Göttingen 1988, und die Beiträge bei J. Assmann (Hrsg.), Das Fest und das Heilige. Religöse Kontrapunkte zur Alltagswelt (Studien zum Verstehen fremder Religionen 1), Gütersloh 1991, und B. Janowski/M. Welker (Hrsg.), Opfer ­ theologische und kulturelle Kontexte (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), Frankfurt a. M. 1997.