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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1043 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Craig, Kenneth

Titel/Untertitel:

Reading Esther. A Case for the Literary Carnivalesque

Verlag:

Louisville, Kentucky: Westminster John Knox Press 1995. 192 S. 8° = Literary currents in biblical interpretation. Kart. ISBN 0-664-25518-3

Rezensent:

Wolfram Herrmann

Der Leser sieht sich immer wieder mit Versuchen konfrontiert, die biblischen Bücher als literarische Erzeugnisse jenseits des historisch-kritischen Urteils zu begreifen, indem das methodische Herangehen dem Bereich der Literaturwissenschaft entlehnt wird(1). Jetzt haben D. N. Fewell und D. M. Gunn sogar eine neue Buchreihe ins Leben gerufen, die es auf ihr Banner schreibt, die gegenwärtigen literarischen Strömungen nutzbar zu machen für die Interpretation der Bibel, welche sich heute dramatisch verändere, denn die historische Kritik leiste es nicht, einen lebensnahen Zugang zu eröffnen. Die Fragen nach den Autoren, der Zielsetzung, der Gattung und der Entstehungsgeschichte machten denen nach der literarischen Beschaffenheit Platz, und in dieser Perspektive könne man die Bibel existentieller erfassen.

C. orientiert in der Hinsicht seine Erklärung des Esterbuches, das nach seiner Art einzig in der Schrift dastehe und deshalb einer gesonderten Betrachtung bedürfe, an den Arbeiten des russischen Literaturwissenschaftlers M. M. Bachtin (1895-1975), der als die Zentralfigur unseres Jh.s im Reiche der antiken Literaturwissenschaft hochgelobt wird. Leider blieb er bis ca. 1970 außerhalb des Sowjetstaates unbekannt, und die Bibelwissenschaftler hätten ihn selbst seitdem so gut wie nicht zur Kenntnis genommen.

Vorab äußert sich C. zu Bachtins Werken und seiner Literaturtheorie und kommt in der Folge wiederholt darauf zurück. Es heißt, die Entstehung einer Erzählung und ihr Verständnis seien gesellschaftlich bedingt. Die angewandten sprachlichen Mittel enthüllten Werte und Auffassungen, die allen, welche die Geschichte lesen oder hören, offen seien, und die psychologische und geistige Beziehung zwischen Erzähler, Gestalten des Erzählten, Begebenheiten und Hörerschaft bauten ein gedankliches System auf. Die Welt der Novelle sei parodistisch und ambivalent. Neue, den festgefügten Oberflächenformen entgegengesetzte Erfahrungen seien in wechselnden Metaphern geschaffen worden und hätten den jeweils neuen Zielen einer Epoche gedient. So machten sie es möglich, die tieferen Schichten menschlicher Beziehungen zu erkunden. Diesen Vorgang nennt Bachtin "the carnivalization of literature"(2), wodurch sich neue Einsichten gewinnen ließen. Weil das Auditorium ständig im Fluß sei, bedürfe eine Erzählung fortwährend veränderter Auslegung.

C. ist nun der Überzeugung, man könne das hebräische Esterbuch auf literarisch-karnevalistische Weise recht verstehen. Das Gemeinte sei nachzuweisen an Gegensätzen und Umkehrungen, an Parodie, Travestie und invertierter Logik. Da im Gang der Ereignisse die Idee des Festes eine Rolle spiele, müsse man sich vergegenwärtigen, daß die Hochgestellten, das Heilige und ex officio Gültige in humorvollen Volksstücken parodiert wurden(3). Karneval feiere Freiheit gegenüber Reglementierung.

Der Vf. wendet sich gegen das Argument, Ester nach der von Bachtin entwickelten Methode zu erklären, sei unhistorisch, denn die herausgearbeitete Erscheinung habe es schon in der Antike gegeben. Deshalb sei es ebensowenig sachgerecht, das hebräische Esterbuch zu verwerfen, komme es doch aus der Volksüberlieferung. Den König und seinen höchsten Würdenträger lasse sie als Narren erscheinen, die von Ester und Mordekai ausgespielt und überlistet würden. Deutlich trete der karnevalistische Charakter durch das Purimfest zutage. Die Peripetie sieht C. freilich nicht an einer entscheidenden Stelle des Erzählgangs, sondern in einer ganzen Reihe an Umkehren der Vorgänge. Die Problematik von Kap. 9 mit der Schilderung exzessiver Vergeltung seitens der Juden löst er durch die karnevalistische Sicht, welche besagt, hier handele es sich lediglich um eine literarisch vorgenommene Inversion, die real gar nicht geschehen konnte, gehe doch die Erzählung insgesamt hyperbolisch vor, um die eigene Sicht der Dinge zu präzisieren. Die Gattung von Ester sei eine ernst-heitere(4) Geschichte. Die Erzähler brächten sich selbst in die Position von Schelmen, Clowns und Narren. C. schließt mit dem Satz: "Der Karneval der Renaissance stellt den Höhepunkt einer jahrtausendelangen Entwicklung dar, und das hebräische Esterbuch ist ein sehr früher Teil dieses historischen Prozesses."

Die kritischen Ausführungen sind gut zu lesen, und man kann den Urteilen vielfach zustimmen. Freilich basiert der Beweisgang zu einseitig auf den Einsichten des russischen Wissenschaftlers. C. blendet dadurch eine Menge dessen aus, was man vor ihm schon in ähnlicher Richtung zum Verstehen von Ester vorgetragen hatte. Daß das Literaturverzeichnis außerdem unter den 140 Titeln nur sieben deutsche sowie zwei französische(5) aufweist, ist einfach nicht ausreichend. Will man dem Vf. zugute halten, daß sich das Wahrheitsmoment seiner Auffassung nur einseitig überzeugend nahebringen läßt, so muß man doch betonen, die von ihm vorgetragene Sicht kann lediglich als ein zusätzlicher Baustein zu den Bemühungen um dieses biblische Buch angenommen werden.

Fussnoten:

(1) Repräsentativ dafür sind etwa L. R. Klein, The Triumph of Irony in the Book of Judges, 1988, und K. J. Dell, The Book of Job as Sceptical Literature, 1991.
(2) Der Begriff ´carnivalization´ ist noch nicht in die neuen Wörterbücher des Englischen aufgenommen.
(3) Dabei liegt vornehmlich die Zeit der Renaissance im Blick.
(4) Nach dem griechischen Adjektiv spoudogeloios, ´Ernst und Scherz vermischend´.
(5) Anderssprachige fallen nicht ins Gewicht.