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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

247-248

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Hage, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Das orientalische Christentum.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 545 S. gr.8° = Die Religionen der Menschheit, 29/2. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-17-017668-3.

Rezensent:

Karl Pinggéra

In der ersten Folge der Reihe »Die Religionen der Menschheit« war es der Marburger Kirchenhistoriker Peter Kawerau (1915–1988), dem die Darstellung des gesamten christlichen Ostens in einem einzigen (1972 erschienenen) Band anvertraut worden war. Angesichts der Stofffülle hatte sich Kawerau dafür entschieden, in einer Sammlung von biographischen Einzelporträts lediglich exemplarische Stationen der Ostkirchengeschichte zu beleuchten. Bei der Fortführung der Reihe, zur Jahrtausendwende in Angriff genommen, wurde das Gesamtgebiet des Christlichen Ostens nun in zwei Bände aufgeteilt, um so die Geschichte der einzelnen Kirchen ausführlicher und im Zusammenhang entfalten zu können. Neben einem angekündigten Band zur (byzantinischen) Orthodoxie steht die hier anzuzeigende Arbeit zum orientalischen Christentum. Kaweraus Nachfolger in Marburg, Wolfgang Hage, hat sie verfasst. Die Etablierung einer Marburger Filiation erwies sich als (naheliegender) Glücksgriff der Herausgeber. H. darf nicht nur als einer der besten Kenner der Materie im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) gelten, er besitzt auch die seltene Gabe, weitläufige Spezialkenntnisse mit den Ergebnissen der neueren Forschung zu einer ansprechenden und allgemein verständlichen Darstellung zu verbinden.
Weitläufig ist der hier präsentierte Ausschnitt der allgemeinen Kirchengeschichte allemal. Das gilt schon in geographischer und zeitlicher Hinsicht: H. verfolgt die Christentumsgeschichte des Nahen und Mittleren Ostens bis hin nach Zentralasien, Kaukasien, Äthiopien und Südindien, und zwar von den Anfängen in apostolischer bzw. altkirchlicher Zeit bis in die Gegenwart. Anschaulich werden die wechselnden historischen Rahmenbedingungen be­schrieben, unter denen sich die Kirchen des Orients in solch unterschiedlichen Zeiten und Regionen zu behaupten hatten.
Weitläufig ist der thematische Zugriff auch in konfessioneller Hinsicht: Neben der Apostolischen Kirche des Ostens (vulgo »Nestorianer«) stehen die »orientalisch-orthodoxen« (miaphysitischen) Kirchen der Syrer, Kopten, Äthiopier, Eriträer und Armenier. Auch die untergegangenen Kirchen Nubiens und der kaukasischen Albaner, die dem Islamisierungsdruck auf Dauer nicht standzuhalten vermochten, werden hier berücksichtigt. Hinzu kommen die autokephalen »östlich-orthodoxen« (byzantinischen) Kirchen des Vorderen Orients: Alexandria, Antiochien, Jerusalem (mit dem autonomen Erzbistum Sinai) und Georgien. Mit einbezogen werden auch die mit Rom unierten katholischen Ostkirchen des Orients, die aus den zuvor genannten Konfessionsfamilien hervorgegangen sind. Es dient der Übersicht, dass die bunte Welt der Thomaschristenheit Indiens in einem eigenen Abschnitt zusammengefasst wurde. Das Nebeneinander von orientalisch-orthodoxen und unierten Kirchen verschiedener Ritenkreise und Jurisdiktionen wird verständlich, wenn H. die einzelnen Stränge der komplizierten Kirchen­geschichte Südindiens seit der Ankunft der Portugiesen geduldig entwirrt (in einer Kombination von Übersichtlichkeit und Detailliertheit, wie sie sonst in der Handbuchliteratur schwerlich zu finden sein dürfte).
Zwei rahmende Kapitel lassen die Einheit der hier vorgeführten Kirchtümer erkennbar werden. Einleitend beschreibt H. »Anfänge und gemeinsame Herausforderungen« des Christentums im Orient: seine Wurzeln in der frühesten Missionsgeschichte, die konfessionellen Auswirkungen und interkonfessionellen Wechselwirkungen der christologischen Streitigkeiten, die Existenzbedingungen unter dem Islam und schließlich die Begegnung mit dem abendländischen Christentum römischer und reformatorischer Prägung in der Neuzeit. Das Schlusskapitel zeigt die Einbindung der orientalischen Kirchen in die Ökumene, verschweigt aber auch nicht, dass die Existenz dieser Kirchen in ihren Ursprungsgebieten heute weithin bedroht ist.
Im Vorwort nimmt H. eine wichtige Begriffsklärung vor: Unter »orientalischen Kirchen« sollen jene Kirchen verstanden werden, die mit ihrer Tradition im Orient beheimatet sind. Deswegen behandelt der Band zwar die Katholiken der östlichen Riten, be­rück­sichtigt aber nur am Rande die lateinischen Katholiken, die Anglikaner und die Protestanten, »die unter Verlust ihrer alten Tradition die westliche Gestalt des Christentums angenommen ha­ben« (13). Es liegt in der Konsequenz dieser Grundentscheidung, wenn bei der Besprechung der indischen Thomaschristen dann doch eine anglikanische Kirche, die Mar-Thoma-Kirche, gleich­berechtigt auftritt: Trotz ihres reformatorischen Bekenntnisses pflegt sie das Erbe des westsyrischen Ritus.
Historische Überblicke zu Handbuchzwecken besitzen zuweilen den Charme von Telefonbüchern. Trotz einer Fülle von Namen, Daten und Fakten ist dies im vorliegenden Band nicht der Fall. Denn H. versteht es, lange historische Zeiträume im Sinne einer Entwicklungsgeschichte verstehbar zu machen. Die einzelnen Kirchen werden in geschichtlichen Längsschnitten vorgestellt. Die innere Fragestellung, die H. dabei bewegt, wird jeweils in einem Schlusskapitel explizit gemacht: Es ist die Frage nach der Identität der einzelnen Kirchen und ihrer Mitglieder. Es ist die Frage nach einer Identität, die geschichtlich gewachsen ist, die durch historisches Erinnern vermittelt wird und die heute nicht selten eine gebrochene ist. Wie verstehen sich etwa armenische oder syrisch-orthodoxe Christen? Primär als Angehörige eines Volkes, einer Kirche oder einer Konfessionsfamilie? Wie verstehen sich byzantinische Christen im Nahen Osten? Als Griechen (so die Kirchenleitungen Alexandriens und Jerusalems) oder als Araber (so dezidiert das rum-orthodoxe Patriarchat von Antiochien)? Welche politischen Optionen und Einstellungen ergeben sich aus solch divergierenden Selbstverständnissen? Ethnische, sprachliche, konfessionelle und theologische Aspekte spielen hier eine Rolle und setzen sich bei den einzelnen Kirchen in je verschiedener Gewichtung zusammen. Zu den großen Verdiensten des Buches zählt es, die Identitätsfrage für die kirchengeschichtliche Rekonstruktion fruchtbar gemacht zu haben. Zugleich gelangt H. von dieser Fragestellung aus zu präzisen Charakterisierungen der einzelnen Kirchen in der Gegenwart.
Ein Glossar, Hierarchenlisten, umfangreiche Literaturhinweise sowie ein Orts- und ein Personenregister erschließen den Band, der sich durch außergewöhnlichen Kenntnisreichtum, durch kluge Gedankenführung und – dies nicht zuletzt – durch sprachliche Eleganz auszeichnet. H.s Buch wird für lange Zeit als zuverlässi-ger Begleiter durch die Welt des orientalischen Christentums dienen.