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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

242-244

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bünker, Michael, u. Martin Friedrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gesetz und Evangelium. Eine Studie, auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen. Ergebnis eines Studienprozesses der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Law and Gospel. A study, also with reference to decision-making in ethical questions. Result of a study process of the Community of Protestant Churches in Europe (CPCE). Hrsg. im Auftrag des Rates der GEKE/Ed. on behalf of the CPCE Council.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2007. 297 S. 8° = Leuenberger Heft, 10/Leuenberg Documents, 10. Kart. EUR 16,00. ISBN 978-3-87476-536-7.

Rezensent:

Wolfgang Thönissen

Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium ist die höchste Kunst in der Christenheit, äußerte Luther in einer Predigt von 1532. In der Interpretation von Gerhard Ebeling ist das rechte Unterscheiden von Gesetz und Evangelium eine fundamental­theologische Aufgabe, die bis in die Bestimmung des Wesens des Christentums durchschlägt. Von dorther markiert diese Unterscheidung nicht nur die grundlegende Aufgabe der christlichen Theologie, sie bezeichnet zugleich die konfessionelle Grunddifferenz. Somit ist sie eine markante Grundgestalt reformatorischer Theo­logie.
Nun lässt sich allerdings historisch nicht leugnen, dass es in­nerhalb der reformatorischen Theologie durchaus unterschiedliche Auffassungen von der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz gibt. Zwar ist es mit der Leuenberger Konkordie von 1973 gelungen, eine Reihe von Lehrunterschieden zwischen lutherischer und reformierter Tradition aufzuklären, die keine kirchentrennende Wirkung mehr erzeugen, aber zu den noch zu klärenden Fragen gehört das Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Der durch die Leuenberger Konkordie angeregte Prozess des Zusam­menschlusses zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) hat offenbar gemacht, dass zu den Grundanforderungen europäischen evangelischen Christseins das gemeinsame Zeugnis der Christenheit gehört, u. a. auch mit einer Stimme zu sprechen. Vor diesem Hintergrund muss es als bemerkenswert eingeschätzt werden, dass die GEKE das Ergebnis eines langjährigen Studienprozesses vorlegen kann.
Die Studie umfasst drei Teile. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Evangelium und Gesetz in den Traditionen der reformatorischen Kirchen, der zweite Teil stellt Anfragen an den reformatorischen Gebrauch aus anderen konfessionellen Traditionen heraus, der dritte Teil befragt Gesetz und Evangelium im Blick auf heutige Lehre und Praxis. Ausführliche Darstellungen orientieren über die verschiedenen traditionellen Unterscheidungen und Zuordnungen. Dabei kommt innerhalb der lutherischen Tradition nicht nur die lutherische Bekenntnistradition zur Geltung, sondern auch der Beitrag der finnischen Lutherforschung mit ihrer Betonung des effektiven Charakters der Rechtfertigung. Die reformierte Zuordnung von Gesetz und Evangelium hebt die klarere Fassung des göttlichen Gesetzes hervor. Die aus methodistischer Tradition stammende Überzeugung kann unter dem Stichwort der Heiligung eine klarere Zuordnung von Verkündigung des Evangeliums und Durchdringung des Lebens der Glaubenden beisteuern. Über diese konfessionskundliche Zuordnung hinaus kann ein verzerrtes Verständnis des Gesetzes und des Evangeliums zurückgewiesen werden (so u. a. das biblizistische, naturalistische, formalis­tische Gesetzesverständnis). Zu einem interessanten Teil ist die Darstellung der Anfragen an den reformatorischen Gebrauch von Gesetz und Evangelium geraten. Sowohl anglikanische, römisch-katholische und orthodoxe Theologie wie auch die jüdische Tradition werden auf ihren spezifischen Beitrag hin befragt. Bringt die anglikanische Tradition unter Heiligung die sakramentale Erneuerung ins Gespräch, so die katholische Tradition die klassische naturrechtliche Fassung, die orthodoxe Tradition den Gedanken des In-Christus-Seins des Gerechtfertigten. Abgerundet wird dieses Kapitel durch Anfragen aus der kontextuellen Theologie.
Brisant ist das Kapitel über heutige Lehre und Praxis. So bringt die erneute Begegnung mit dem Zeugnis der Heiligen Schrift unter Heranziehung neuerer exegetischer Literatur ein differenziertes Verständnis des Gesetzes hervor, das nicht auf seine anklagende und fordernde Funktion reduziert werden kann: das Gesetz als umfassende Weisung für ein Leben in der Bundesgemeinschaft mit Gott, als Rechtsordnung und Formgebung für eine Ethik der Barmherzigkeit, das Gesetz als Basis der Gemeinschaftlichkeit und als Quelle und Leitlinie der weisheitlichen Lebensführung in Gottesfurcht. Ohne das Evangelium ist das Gesetz blind für die Tatsache, dass es trotz seines normativen Reichtums und seiner Dynamik unter die Macht der Sünde geraten kann. Und umgekehrt wird das Evangelium ohne einen Rückbezug auf das Gesetz leicht um seine klare Botschaft von der Errettung und Befreiung ge­bracht.
Diese exegetischen und systematischen Klärungen führen schließlich in den beiden letzten Kapiteln zu Erwägungen und Unterscheidungen in ethischer Hinsicht. Das Anliegen der Menschenrechte kann deutlicher wahrgenommen werden. Wenngleich evangelischer Skepsis bezüglich der natürlichen Erkennbarkeit einer göttlichen Schöpfungsordnung entsprochen wird, so wird doch andererseits auch die Suche der Vernunft nach dem Recht des Menschen als Kriterium politischer Praxis betont. Die Würde jeder menschlichen Person kann aber aus profaner Vernunft allein nicht einsichtig gemacht werden. Diese Auffassung können katholische und evangelische Theologie trotz unterschiedlicher Begründungsfiguren miteinander teilen. Weitere Einsichten lassen sich auch in der Problematik der Bioethik erkennen. Wenn es auch evangelischen Kirchenleitungen unmöglich ist, in ihren Stellungnahmen mit der Autorität von katholischen Lehramtsäußerungen aufzutreten, so ist dennoch klar, dass sich aus dem im Evangelium enthaltenen Verständnis des Menschen bestimmte Werte und Prinzipien ergeben, die zur ethischen Urteilsbildung beitragen. Wird das Gesetz dergestalt vom Evangelium her gedeutet, so lässt sich die ethische Aufgabe klarer bestimmen. Damit beschränkt sich die Aufgabe der evangelischen Theologie nicht auf das Angebot von allgemein konsensfähigen Argumenten, sondern sie kann zur religiösen Orientierung innerhalb der pluralen demokratischen Gesellschaften beitragen.
Die Lektüre der Studie lässt eine Reihe von bedenkenswerten Einsichten erkennen: 1. Der innerprotestantische Antagonismus in der Bestimmung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium kann jenseits einer einseitigen Fixierung auf eine Unterscheidungslehre zu Gunsten einer komplexeren Verhältnisbestimmung überwunden werden. 2. Die Berücksichtigung von Anfragen aus anderen konfessionellen Traditionen führt zu einer Bereicherung der innerevangelischen Standortbestimmung. 3. Das gemeinsame Zeugnis evangelischer Kirchen in pluralistischen Gesellschaften darf sich nicht auf reine Verfahrensmodalitäten in der ethischen Urteilsfindung beschränken. Das alles lässt sich zwar nicht zu konkreten ethischen Weisungen fokussieren, enthält aber das Angebot zu gemeinsamer ökumenischer Wahrnehmung ethischer Verantwortung. Dabei erscheint auch ein Konsens in den Grundauffassungen hinsichtlich der Einsicht in die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens möglich. So rücken evangelische und katholische Argumen tationsfiguren einander näher. Insgesamt heißt das: Innerevan­gelische Klärungen auf der Grundlage reformatorischer Bestim­mungen müssen nicht einseitig zu einer neuen reformatorischen Profilbildung führen, deren Sinn in der Abgrenzung von anderer Konfessionalität zu suchen wäre, sondern können auch zu einer weiteren ökumenischen Klärung in ethischen Fragen beitragen.