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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

240-242

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Ziebertz, Hans-Georg, u. Ulrich Riegel

Titel/Untertitel:

Letzte Sicherheiten. Eine empirische Studie zu Weltbildern Jugendlicher. Unter Mitarbeit v. St. Heil.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 303 S. 8° = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 11. Kart. EUR 34,95. ISBN 978-3-579-05741-5 (Gütersloher Verlagshaus); 978-3-451-29801-1 (Herder).

Rezensent:

Andreas Feige

Die Studie sucht Antworten auf die Frage, ob die Mit-Formung der gegenwärtigen Weltbilder der entfalteten Moderne auch über Bildungsprozesse, insbesondere über deren religiös orientierten Elemente möglich erscheint, wofür man Kenntnisse über die Komponenten-Struktur und die empirische Ontogenese dieser Weltbilder benötigt. Die Studie versteht sich daher als die nun auch allgemeine »Lebenseinstellungen, Wertorientierungen und politische Einstellungen« einbeziehende Kontextuierung einer Arbeit derselben Vf. von 2003 speziell über »Religiöse Signaturen« bei Jugendlichen. Sie ist zugleich Teil eines zehn Länder umfassenden europäischen Vergleichsprojekts. Die deutsche Stichprobe (von 2002) umfasst sieben Orte und Schüler und Schülerinnen der Jahrgangsstufe 11 in Gymnasien (davon 18 % in kirchlicher Trägerschaft). Dabei sollten die Orte »eine multiple Infrastruktur in ökonomischer, bildungsbezogener und kultureller Hinsicht« repräsentativ abbilden (Ros­tock, Dresden, Hildesheim, Aachen, Dortmund, Augsburg und Würzburg). Bei den Fragebogenrückläufen (Quote: 78,3 %) findet sich ein leichtes Übergewicht von weiblichen (55 %), von eher kirchenaffinen und von katholischen Jugendlichen (63 %). Anregungen für das In­strumenten-Konzept wurden aus einschlägigen Arbeiten deutscher und europäischer Projekte übernommen bzw. adaptiert.
Der Gesamtansatz konfiguriert sich aus fünf Teilkonzepten. In dessen Mittelpunkt steht 1. das »Weltbild« der Jugendlichen. Da­mit soll erfasst werden können, wie von Jugendlichen die Konsequenzen der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse (Funktionswandel der Institutionen, Pluralisierung der Orientierungen und Individualisierungserwartungen) wahrgenommen bzw. konzeptuell in »Weltbildern« verarbeitet werden. Insonderheit geht es um die Klärung, welche Chancen die klassischen Quellen der Weltbilder – die Religionen und speziell das Christentum – in der Moderne mit ihrem dominierenden naturwissenschaftlich-szientistischen Deutungsparadigma haben: Wie steht es um das gegenseitige Prägungsverhältnis von Überzeugungen in der Ausdrucksgestalt (herkömmlicher) religiöser Semantik einerseits und nicht in dieser Semantik formulierten Lebenseinstellungen andererseits, Werteorientierungen und politische Einstellungen? Als das jeweilige Weltbild mitbestimmend werden außerdem abgefragt: 2. individuelle Lebenseinstellungen und Wertorientierungen; 3. Einstellungen zum politischen und gesellschaftlichen Leben; 4. Einstellungen zur Religion sowie 5. soziodemographisch beschreibbare Lebenslagen.
Über die Teilkonzepte 1 und 2 an dieser Stelle nur so viel: Für die Spiegelung des »Weltbildes« (1.) wurden die dafür eingesetzten 45 Items 14 theoretischen Konzepten zugeordnet. Davon haben, so die Vf., sieben eine religiöse Konnotation, zwei seien naturwissenschaftlich – mit einer metaphysischen Komponente – orientiert und fünf nicht- bzw. antireligiös formuliert: christlich, Anthropozentrierung, Hu­manismus, Pantheismus, Deismus, Meta-The­is­mus, The­ismus; Uni­versalismus und Kosmologie; Nihilismus, Pragmatismus, Agnostik, Religionskritik und Atheismus. Bei den »Lebenseinstellungen« (2.) geht es um Aussichten für das eigene Leben im Zusam­menhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, differenziert in sechs theoretisch konzipierte Dimensionen: Rück­wärtsge­wandtheit, Zukunftspessimismus, Lebensabsicherung, Ge­genwartsorientierung, klare Lebensplanung und Flexibilität. Als »Wertorientierungen« werden tendenziell überdauernde, gleichwohl auch veränderungsoffene Richtlinien verstanden, an denen sich das individuelle und kollektive Leben ausrichtet bzw. ausrichten sollte. Die Vf. halten die Existenz homogener Wertstrukturen (in) der Gesellschaft für eher unwahrscheinlich, ebenso ihre Dichotomisierbarkeit (wie etwa die Inglehartsche Un­terscheidung von materiell versus postmateriell). Die Orientierungen werden in acht Dimensionen differenziert: Autonomie, Menschlichkeit, Disziplin, Familienorientierung, Be­rufsorientierung, Authentizität, Attraktivität und Modernität. Auf Teilkonzept 3 kann hier nicht eingegangen werden.
Das für Theologen, Pädagogen und Religionssoziologen be­son­ders interessante Teilkonzept 4 fragt die Jugendlichen nach ihrer Einschätzung a) des Verhältnisses zwischen Religion und Moderne, b) der kulturellen und c) der religiösen Pluralität, d) der Kirche (als Institution und ›vor Ort‹) und e) des schulischen Religionsunterrichts. Zudem wird f) nach »religiöser Praxis« und g) nach »religiöser Erfahrung« gefragt. Thematisieren die Items von a) bis f) die Funktionseinschätzung von Religion/Kirche bei der Ge­stal­tung des Sozialen, nimmt g) die ›akzeptierende Affinität‹ zu dem in den Fokus, was man die Anverwandlungsbereitschaft und -fähigkeit im Blick auf das ›Religiöse‹ in der eigenen Gefühlspraxis nennen kann. (Beispiel: »Manche Menschen sagen, dass der Glaube ihnen ein Gefühl der Geborgenheit gibt, das mit dem Verstand nicht erklärt werden kann«: [1] Glauben Sie, dass das stimmt? [2] Würden Sie sich dieses Gefühl auch wünschen? [3] Haben Sie diese Geborgenheit selbst schon erfahren?«) Insbesondere hiermit be­we­gen sich die Vf. weit außerhalb der ausgetretenen Pfade herkömmlicher Religiositätsdemoskopie und kommen damit ein wichtiges Stück der Antwort auf die Frage nach der Integrierbarkeit des Religiösen in das sich in der Lebenspraxis ausdrückende »Weltbild« näher. Somit etablieren sie einen wichtigen Modifikations- bzw. Korrekturfaktor des ebenso üblichen wie unzutreffenden Bildes vom defizienten religiösen Status der »Weltbild-Ontogenese« der großen Mehrheit der Jugendlichen, welches sich durch das alleinige Abfragen der kognitiven Akzeptanz ritueller Traditionen und dogmatischer Welterfassungsformulierungen zu ergeben pflegt. Freilich ist auch dieser Teilansatz noch ausbaufähig. Denn die drei Termini des Fragebereichs g) »Glaube« »Gott« und »Religion« sind ihrerseits noch explikationspflichtig, ehe sie mit Elementen von »Weltbildern« korreliert werden. Zum einen, um verdeckte Tautologien zu vermeiden (Beispiel: Für »nihilistische Jugendliche« spielt Religion »schlichtweg keine Rolle«, [193]). Und zum anderen müssen bei der Suche nach kommunikativen Anschlussstellen in religiösen Bildungsprozessen, nach deren Chancen ja diese Studie im Kontext von allgemeinen Weltbildstrukturen fragen will, lebenspraktische, also konkret benennbare Urteils- und Verhaltenselemente bekannt sein, die ein möglicherweise existierendes Gefühl für die Vorausgesetztheit des eigenen Lebens – seiner »schlechthinnigen Abhängigkeit« (Schleiermacher) – auch jenseits der gesellschaftsüblich als ›religiös‹ eingeführten Semantik(»Gott«/ »Glaube«) eventuell zu indizieren vermöchten. Eher sozialpsychologisch-soziologisch konzipierte Ansätze, wie sie andernorts realisiert worden sind (vgl. A. Feige/C. Gennerich, Lebensorientierungen Jugendlicher, Münster 2008) und die z. B. im Blick auf die Be­griffe Liebe oder Sünde Ergebnisse erbracht haben, die für nicht wenige sehr überraschend erscheinen, könnten synergetisch mit der hier vorgestellten Topographie der Weltbild-Konstruktionen Jugendlicher zusammengeführt bzw. weiterentwi­ckelt werden.
Insgesamt ist die Studie eine auch in ihren Details für Theologen und Pädagogen aufschlussreiche und methodisch-theoretisch seriöse Informationsquelle, die die Problemstellung materialiter zu fokussieren hilft, um die es heute systematisch-theologisch wie religionspädagogisch geht: wissenschaftstheoretisch der Argumentationsprimitivität einer Richard-Dawkins-Polemik zu wehren und gleichzeitig den ›neoeschatologischen‹ oder ›neotheistischen‹ Konstruktionen pfingstlerischer bzw. fundamentalistischer Provenienz den ihnen angemessenen Platz im Papierkorb der Geistesgeschichte zuzuweisen. Und genau dafür muss man empirisch wissen, aus welchen Quellen sich Weltbilder bei Jugendlichen speisen und mit welchen Versatzstücken sie operieren, deren Inkompatibilität sie nicht ohne Weiteres zu erkennen vermögen.