Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1039–1041

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

1. Mandau, Luise – 2. Stamm, Hugo – 3. Hemminger, Hansjörg

Titel/Untertitel:

1. Tödlicher Sektenwahn – 2. Sekten. Im Bann von Sucht und Macht. Ausstiegshilfen für Betroffene und Angehörige – 3. Was ist eine Sekte? Erkennen ­ Verstehen ­ Kritik

Verlag:

1. Essen: Bettendorfsche Verlagsanstalt 1995. 367 S. 8°. geb. DM 39,80. ISBN 3-88498-073-4 - 2. Stuttgart: Kreuz Verlag 1995. 217 S. DM 29,80 - 3. Grünewald Verlag 1995. Stuttgart: Quell-Verlag 1995. 182 S. DM 32,­

Rezensent:

Andreas Fincke

Seit dem Giftgasanschlag der Aum Shinrikyo Sekte in der Tokioter U-Bahn und mehreren kollektiven (Selbst-)Morden der Sonnentempler-Sekte in der Schweiz bzw. in Kanada gewinnt das Thema "Sekten" in der Öffentlichkeit hohe Attraktivität. Sekten sind «en vogue», was häufig jedoch nicht mehr bedeutet, als daß die interessierte Öffentlichkeit beim Stichwort "Sekten" zwar geheimnisvolles Schaudern assoziiert, aber längst keine plausible Antwort auf die Frage geben kann, was denn eine Sekte nun eigentlich ist: Sind Sekten das skurril Andersartige, das religiös Fremde oder sind Sekten alle religiösen Gemeinschaften, die ihren Glauben ernsthaft und nach außen sichtbar leben? Ist folglich jeder sektiererisch, der Mission betreibt? Wie ist es möglich, daß gelegentlich Boulevardzeitungen, das private Fernsehen und die kirchlichen Sektenbeauftragten gleichermaßen vor "Sekten" warnen? Haben sie einen ähnlichen Sektenbegriff? Oder genauer: Verfügen sie über eine gemeinsame religiös-weltanschauliche Basis, von welcher sie über religiöse Verirrungen oder über Abspaltungen vom Glauben urteilen könnten?

Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, bedarf es fundierter Untersuchungen, wie der Sektenbegriff im Kontext einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft genutzt werden kann, wo seine Grenzen, aber auch, wo seine Möglichkeiten liegen.

Drei Publikationen sind binnen weniger Monate erschienen, die sich diesem Thema aus recht unterschiedlichem Blickwinkel zuwenden.

Da ist als erstes Luise Mandaus Beitrag über die "teuflischen Tricks der Seelenfänger" zu nennen. Das Buch hält, was der Titel befürchten läßt: Es entwirft ein Horror-Szenario über "die Sekten", wobei das Weltbild der Vfn. von bemerkenswerter Schlichtheit ist: Alles Übel der Welt lokalisiert sie bei Gruppen, die sie für Sekten hält, während die gutgläubigen Menschen noch gar nicht ahnen, welch heillose Gefahr hier lauert.

Dabei scheint es dem Zufall überlassen, welche Gruppen ins Visier der Vfn. geraten sind: So werden zahlenmäßig wichtige Gemeinschaften wie beispielsweise die Neuapostolische Kirche, welche sich mit dem großen Kaliber der Autorin doch leicht hätte treffen lassen, übersehen, vergleichsweise kleinen Gruppen wie der ISKCON (International Society for Krishna Consciousness = Hare-Krischna-Bewegung) wird mit zwanzig Seiten unangemessen viel Platz eingeräumt (97-115).

Die sachgemäße Gewichtung mißlingt des öfteren: So erfährt der verwunderte Leser auf S. 11, daß bereits zwei Millionen Deutsche "treue Anhänger" der unterschiedlichsten Sekten wären. Aus welchem Orakel diese Zahl, die seriöse Schätzungen weit übertrifft, stammt, bleibt das Geheimnis der Autorin. Apropos Geheimnis: Dunkel bleibt auch die Quelle für eine weitere Angabe: Auf S. 299 berichtet die Autorin, daß es in Deutschland über 100 000 jugendlichen Satanisten gäbe, drei Seiten weiter sind´s nur noch "mehr als 10 000" (302). So beliebig können Zahlen sein, wenn es um Feindbilder geht.

Die wenigen aussagefähigen Kapitel entpuppen sich beim genaueren Hinsehen als längere Zitate, welche dem Leser ohne weitere Erläuterung präsentiert werden; häufig fehlen gar Fundort und Quellenangabe. So entsteht der trügerische Eindruck, die Autorin hätte selbst in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen, was sie von anderen nur übernommen hat. Ein Beispiel: Das Kapitel über Sri Chinmoy (127-131) geht bis ins kleinste Detail auf Thomas Gandow: "Guru Chinmoy und die Sri-Chinmoy-Bewegung" (München 1993) zurück und das, ohne auf dieses Heftchen auch nur mit einer Fußnote hinzuweisen. Auch das Kapitel über "Sekten in den neuen Bundesländern" kam dem Rez. gleich bekannt vor: Die Seiten 313 bis 320 gehen auf einen Beitrag in einer Wochenzeitung ("Wochenpost" 3/1995) zurück, nur, daß die Autorin durch ihre Kürzungen die an sich recht brauchbare Vorlage verschlechtert hat. Dafür war sie wenigstens bei der Übernahme der Fehler aus der "Wochenpost" konsequent!

Sicher: Man ist geneigt das Buch zu anderen schlechten Publikationen zu stellen und sich abzuwenden. Aber solche Publikationen verursachen auch Schäden, weil sie das bei vielen Sektenmitgliedern verbreitete Vorurteil, die Journalisten und die Sektenexperten wollten sie ja doch nur mit der "Sektenkeule" erschlagen, leider bestätigt. Wenn der Sektenbegriff so platt wie hier genutzt wird, dann dient er nicht mehr der (heute so dringend nötigen!) "Unterscheidung der Geister" sondern nur noch der Beförderung simpler Feindbilder.

Durchaus hilfreich ist dagegen die Arbeit von Hugo Stamm. Er behandelt verschiedene der wichtigsten und konfliktreichsten Sekten, wobei er jedoch für Kenner der Szene wenig Neuigkeiten bietet. Interessant, wenn auch nicht völlig überzeugend, sind die von Stamm aufgezeigten fünf Phasen der Indoktrination: So unterscheidet der Vf. zwischen der Anwerbung, der Einführung in die Heilslehre, der Einbindung in die Gruppe, der sich anschließenden Entfremdung von der Umwelt (Isolation) sowie der Festigung der Heilslehre (91 ff.).

Problematisch ist, daß evangelikale und charismatische Bewegungen im vorliegenden Buch zu unbedacht neben äußerst aggressive (und teilweise kriminelle) Organisationen wie Scientology, Fiat Lux oder das Universelle Leben gestellt sind. Hier zeigt sich, daß der Vf. keinen klaren Sektenbegriff kennt und zu unbedacht zwischen Sekten im theologischen Sinn und Sekten im Sinne von einer Abweichung vom ethischen Konsens einer westlichen Gesellschaft hin und her springt. Spätestens hier wird deutlich, daß der Vf. kein Theologe ist, sondern als Journalist arbeitet.

Wirklich grundlegend führt Hansjörg Hemminger in die Thematik ein: Seine Arbeit bietet viel mehr, als der etwas spröde Titel erwarten läßt: Denn der Vf. bietet einen bis dato nicht vorliegenden Überblick über die soziodynamischen Hintergründe des Sektiererischen, die sozialen Konflikte im Umfeld von Sekten und analysiert das Milieu der unterschiedlichen "Anti-Sekten-Arbeit".

Ausgangspunkt für den Vf. ist die bei Stamm vermißte Beschreibung eines doppelten Sektenbegriffs: H. schreibt: "Durch das Auftreten der neuen religiösen Bewegungen, der Psychokulte und Politsekten (ist es) notwendig geworden, den säkularen, umgangssprachlichen Sektenbegriff von einem christlich-theologischen Sektenbegriff zu unterscheiden." (61) Denn: "Heute gibt es keine religiösen ´öffentlichen Wahrheiten´ mehr... Folglich sind die Sektierer heute für die Öffentlichkeit nicht mehr diejenigen, die vom religiös Anerkannten abweichen. Sektierer sind diejenigen, die von den noch existierenden gemeinsamen Überzeugungen abweichen ­ und das sind fast nur noch ethische Überzeugungen, die den Umgang mit Menschen betreffen." (65) Der umgangssprachliche Sektenbegriff bezieht sich daher, so der Vf., immer mehr auf Gruppen, die gegen Werte wie Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit und Toleranz verstoßen: "Was aus christlicher Sicht eine Sekte ist, muß nach den Maßstäben der säkularen Gesellschaft keine Sekte sein und umgekehrt" (65).

Die Stärke des Vf.s liegt in seinem scharfen Blick auf die soziale Dynamik vieler Sekten und sektenähnlicher Gruppen. So springt er in seiner Beschreibung häufig von einer Gruppe zur anderen, bei welcher es ähnlich oder genau anders ist. Das macht die Lektüre so ausgesprochen kurzweilig: Der Leser fühlt sich nicht mit spröden Details gelangweilt sondern wird vom Vf. auf die Reise durch das Milieu des Sektiererischen mitgenommen.

Besonders die Kapitel III (Sekten und Sektenexperten) sowie IV (Die Sekten und ihre Konflikte) sind hochinteressant. So stellt der Vf. beispielsweise fest, daß die deutschsprachige akademische Theologie das Thema weitgehend ignoriert und damit einem problematischen, nichttheologischen Milieu überläßt. Hier sind es dann oft religionswissenschaftliche Arbeiten, die unter der Überschrift vermeintlicher Neutralität dazu neigen, Mißstände und Kriminalität in einigen Sekten nicht angemessen wahrzunehmen (70-81).

Als Kern des Sektierertums beschreibt H. den Personenkult (100 ff.). Die Aufwertungen von Sektenführern als "Gottähnlich" oder als "Sprachrohr Gottes" wie in vielen Neuoffenbarergruppen führt zur Entindividualisierung der Anhänger: "So wie der Meister oder die Meisterin zu ´Überpersonen´ werden, die in der Beziehung zu anderen Menschen mehr gelten als normale Menschen, werden die Anhänger zu ´Unterpersonen´, die weniger gelten als Menschen in einer normalen Beziehung" (103).

Von großer Bedeutung scheint mir auch der Hinweis des Vf.s, daß nicht nur "Prozesse der Versektung, sondern auch solche der ´Entsektung´ gibt und daß es zu den Aufgaben von Staat Gesellschaft und Kirche gehört, letztere zu fördern" (110). Gerade dieser Hinweis scheint dem Rez. für die Arbeit in den nächsten Jahren besonders wichtig. Dem Buch von Hemminger gebührt ein besonderer Platz in der Reihe der konfessions- und sektenkundlichen Literatur.