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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

234-236

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Dressler, Bernhard

Titel/Untertitel:

Blickwechsel. Religionspädagogische Einwürfe.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 334 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02605-0.

Rezensent:

Friedrich Schweitzer

Der Band versammelt 17, mit einer Ausnahme bereits veröffentlichte Arbeiten in zum Teil bearbeiteter Form. Den Wiederabdruck rechtfertigt nicht nur die hohe Qualität der Texte. Vielmehr wird nun ihr Zusammenhang erkennbar – gleichsam D.s Religionspädagogik, die als Hintergrund der viel diskutierten »performativen Religionsdidaktik« besonderes Interesse verdient.
Der Buchtitel signalisiert ein Programm: »dass Religion gerade in ihrer bildenden Kraft einen bestimmten Blick auf die Welt einzunehmen ermöglicht, also die Perspektive einer Welt- und Selbstdeutung eröffnet, in der die Welt und das Selbst anders verstanden werden können als in der lebensweltlichen Alltagsperspektive« (7). Beschrieben wird dies in vier Hauptteilen: »Bildung« – »Zeitdiagnosen« – »Religionspädagogische Positionen« – »Religionsdidaktik«. Dieser Aufriss lässt weitere Grundanliegen erkennen: das Bemühen um eine bildungstheoretische Verankerung der Religionspädagogik; die bewusste Hinwendung zu Herausforderungen der Gegenwart; ein Verständnis von Religionspädagogik, das über den Religionsunterricht hinausreicht; praxisbezogene Entfaltung.
Sein Bildungsverständnis entfaltet D. im Horizont der Gott­ebenbildlichkeit (11 ff.), vor allem aber mit der für ihn kennzeichnenden These, religiöse Bildung sei als »Unterscheidungsvermögen« zu fassen (23 ff.). Nachdem es »keine Zentralperspektive« mehr gebe, »aus der die Welt ... wie mit den Augen Gottes zu betrachten wäre«, »leben Bildungsprozesse vom Perspektivenwechsel und dem damit verbundenen Unterscheidungsvermögen« (30). Der »Ausdifferenzierung moderner Lebenswelten« entspreche zum einen die grundsätzlich plurale Verfasstheit der Gegenwartssituation, zum anderen die Unterscheidung zwischen dem Reden über Religion und dem religiösen Reden selbst – hier verstanden als »Unter­scheidung zwischen Religion und Glaube« (37). Soweit der Religionsunterricht die damit verbundenen Aufgaben wahrnimmt, ge­winne er Bedeutung als »ein transdisziplinäres Regulativ im schulischen Fächerkanon«. Er bilde »fachintern jene Übergänge nach, die für das Verhältnis zwischen den Fächern bedeutsam sind« (44) – eine These, die hier leider nicht weiter entfaltet und deshalb auch nicht vor dem Missverständnis in Schutz genommen wird, hier werde mehr als ein – nämlich das – »Regulativ« für Schule und Bildung beansprucht. Die Ziele eines solchermaßen bildungstheoretisch ausgelegten Religionsunterrichts sieht D. in der »Partizipationskompetenz« einerseits (sie schließe auch die »Fähigkeit zur begründeten Nichtteilnahme« ein, 46) und der »religiösen Urteilskompetenz« andererseits (48). Erreichbar werden solche Kompe­tenzen nach D., angesichts der in Familie und Gesellschaft man­gelnden »Pflege der Religion«, nur unter der Voraussetzung, »dass religiöse Erfahrung in der Schule erst hergestellt bzw. konkretisiert werden muss, jedenfalls in der Regel nicht mehr bloß nachträglich reflektiert werden kann«. Oder, mit einer bezeichnenden Formu lierung: Der Religionsunterricht »muss Religion ›zeigen‹, d. h. nicht nur mitteilen, sondern auch darstellen« (49) – was dem Ge­meinten wohl auch angemessener ist als die zunächst gewählte, pädagogisch und theologisch problematische Rede vom »Herstellen« religiöser Erfahrung.
Implizit enthalten bereits die bildungstheoretischen Ausführungen »Zeitdiagnosen« (zweiter Hauptteil). Kennzeichnend ist die Rede vom »Traditionsbruch«, den D. offenbar mit der 1968er Zeit in Verbindung bringt: »Wir haben es nämlich mit Kindern und Ju­gend­lichen einer Generation zu tun, die weitgehend nach dem von ihren Eltern, z. T. bereits von ihren Großeltern vollzogenen Traditionsabbruch lebt.« (119) Wie immer wieder im Anschluss an P. L. Berger hervorgehoben wird, herrschen nun bei rückläufiger Kirchlichkeit religiöse Pluralisierung und Individualisierung (»häretischer Imperativ«) vor. Alle »weltanschaulichen und religiösen Konzepte« seien »nur noch als Deutungen denkbar« – »reflexiv« in dem Sinne, dass sie als »Deutungen« be­wusst und austauschbar werden (84).
Diesen Herausforderungen könne die Religionspädagogik (dritter Hauptteil) mit den Prinzipien von Problemorientierung und Korrelationsdidaktik nicht mehr gerecht werden (147). D.s Programm heißt insofern: Religionspädagogik nach dem problemorientierten Religionsunterricht. Dazu gehört, dass dieser Unterricht seine Plausibilität nicht durch einen Beitrag zur Werte­bildung oder durch – angebliches – Problemlösungspotential ge­winnt, sondern durch die ihm eigene Möglichkeit einer religiös be­stimmten »Problemformulierung« (151). Die von Religion ausgehende »Blickrichtung auf die Pluralität« begründe eine spezifische »Lebensführungskompetenz unter den Zumutungen von Pluralität«. Dabei soll diese »Blickrichtung« didaktisch die Gestalt eines »Probedenkens«, also nicht einer aufgezwungenen Perspektive, annehmen (152) – allerdings in der Begegnung mit Lehrpersonen, die an eine transparent auszuweisende Perspektivität gebunden sind (156). Im letzten Hauptteil (263ff.) wird – vor allem am Beispiel der biblischen »Wundergeschichten« – eine »performative Religionsdidaktik« dargestellt, die durch »didaktische Inszenierungen von Religion« »Probeaufenthalte in religiösen Welten« ermöglichen will (270).
D.s Programm ist m. E. in vieler Hinsicht konsensfähig – vor allem als Option für eine bildungstheoretisch verankerte Religionspädagogik sowie als bewusstes Sich-Einlassen auf eine veränderte Situation der religiösen Sozialisation. Dennoch gibt es auch Rückfragen: Außer punktuellen Anspielungen auf Luther und Schlei­ermacher verzichtet D. auf eine geschichtliche Verortung seiner Position. So bleibt mindestens offen, ob die von ihm bevorzugte Metapher »Traditionsabbruch« im Singular auch in einem empirischen oder historischen Sinne haltbar ist. Damit verbindet sich die Frage, ob Problemorientierung und Korrelationsdidaktik, die sich eben auch als Signaturen moderner Theologie insgesamt verstehen lassen, sich so einfach am Ende des 20. Jh.s ablösen lassen.
Durchgängig grenzt sich D. gegen »Werteerziehung« und »Wertevermittlung« (sind beide miteinander gleichzusetzen?) ab. Die bekannte Polemik schon gegen den Begriff des Wertes hat einen richtigen Kern. Wenn daraus aber ein grundsätzlicher Verzicht auf einen Beitrag des Religionsunterrichts zur ethischen Bildung abgeleitet wird, kann dies kaum überzeugen. In dieser Hinsicht geht auch die Berufung auf die reformatorische Theologie eindeutig fehl, wie schon Luthers Vorrede zum Kleinen Katechismus zeigt. Religiöse Bildung und christlicher Glaube gehen nicht in Werteerziehung auf, tragen aber in entscheidender Hinsicht zu dieser bei.
Die Kritik an (manchen) Ansätzen interreligiösen Lernens (248 ff.) überzeugt. Wiederum ergibt sich die Rückfrage, ob mit der Kritik auch das gesamte Anliegen interreligiöser Bildung erledigt sein kann.
Schließlich: Für D. scheint ein performativer Ansatz die einzige Möglichkeit, nach dem »Traditionsabbruch« Religion zu unterrichten. Mir selbst erscheint sie als eine mögliche Option, zu der es Alternativen gibt. Sonst würde die dem performativen Ansatz zu Grunde liegende Semiotik zu einer Wissenschaftsrichtung von geradezu weltgeschichtlicher Bedeutung.