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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

228-231

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schweyer, Stefan

Titel/Untertitel:

Kontextuelle Kirchentheorie. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem Kirchenverständnis neuerer praktisch-theologischer Entwürfe.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2007. 470 S. 8°. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-290-17439-2.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Das Buch stellt die gekürzte und für den Druck leicht überarbei­tete Fassung der Dissertation dar, die im September 2006 von der »Evangelische Theologische Faculteit« in Leuven (Belgien) angenommen wurde. Das Thema der Untersuchung ist von hoher Aktualität und Wichtigkeit: Dass sich die christliche Kirche vor allem in West- und Mitteleuropa gegenwärtig in einer Krise befindet – und diese Beobachtung gilt für die großen Volkskirchen und die traditionellen Freikirchen gleichermaßen –, ist opinio communis bei allen, die sich innerhalb und außerhalb der Theologie mit ekklesiologischen Fragen befassen. Der amerikanische Religionssoziologe Peter L. Berger spricht von Mitteleuropa als einem »Ka­tastrophengebiet für die Christenheit«. Große Differenzen zeigen sich jedoch, wenn es um die Frage nach dem konkreten kirchlichen Handeln als Antwort auf diese Krise geht. Die Arbeit leistet genau an dieser Stelle einen wichtigen Beitrag, indem sie die wichtigsten neueren praktisch-theologischen Entwürfe in kirchen­theo­retischer Perspektive betrachtet und danach fragt, welche Er­kenntnisse sich daraus für eine zukünftige praktisch-theologische Kirchentheorie gewinnen lassen, die Kriterien für ein angemessenes kirchliches Handeln angesichts dieser krisenhaften Situation bereitzustellen vermag.
Ziel des Vf.s ist es, Grundzüge einer eigenständigen kontextuellen Kirchentheorie vorzulegen. Das geschieht im Teil III des Buches. Dass dazu ein längerer Anlauf nötig ist, verwundert nicht, da sich wissenschaftlich-theologisches Arbeiten in Aufnahme und Abgrenzung von den Erkenntnissen anderer vollzieht. Den dafür notwendigen Erkenntnisweg geht der Vf. in Teil I und II seines Werkes, was mit Recht im Untertitel der Arbeit dokumentiert wird: »Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem Kirchenverständnis neuerer praktisch-theologischer Entwürfe«. In Teil I wird der religiöse Pluralismus als Herausforderung praktisch-theologischer Kirchentheorie entfaltet. In Teil II werden die kirchentheoretischen Ansätze neuerer praktisch-theologischer Entwürfe analysiert.
Den drei Teilen des Buches ist eine Einleitung vorgeschaltet, worin der Begriff »Kirchentheorie« näher bestimmt und über Forschungsstand und Aufbau und Methodik der Untersuchung Rechenschaft abgelegt wird. Erkenntnisleitend ist dabei die Frage, welches Kirchenverständnis das Handeln der Kirche im Kontext einer religiös pluralistischen Gesellschaft konstruktiv anzuleiten vermag. Damit ist präzis das Neue der Situation des Christentums im postmodernen Europa auf den Punkt gebracht, das die christliche Kirche in Europa zu einer Neubegründung ihres Handelns herausfordert. Aus diesem Ansatz ergeben sich konsequenterweise die drei Hauptteile der Untersuchung.
Zu Teil I: Hier wird ausgehend von empirischen Untersuchungen exemplarisch am Beispiel der Schweiz die Kontur einer religiös pluralistischen Gesellschaft entfaltet. Sie zeichnet sich durch eine zu­nehmende Individualität religiöser Überzeugungen, eine zu­nehmende Pluralität religiöser Anbieter, eine wachsende Dis­tanz zu den Großkirchen (auch auf Seiten der eigenen Mitglieder) und eine damit verbundene Abnahme des Einflusses der Religion für die persönliche Lebensgestaltung aus. Die christliche Kirche hat einerseits ihr religiöses Monopol verloren, andererseits lässt sich im Ganzen gesehen eine zunehmende Säkularisierung und Entkirchlichung beobachten. Die neue Situation eines religiös-pluralistischen Kontextes führt nach Meinung des Vf.s zu drei Leitfragen, die eine zukünftige Kirchentheorie in praktisch-theologischer Perspektive zu beantworten hat: die Frage nach der Identität der Kirche inmitten der religiös-weltanschaulichen Pluralität, die Frage nach der Beziehung der Kirche zur Gesellschaft angesichts des Verlusts ihres religiösen Monopols und die Frage nach einer inhaltlichen Näherbestimmung des Auftrags der Kirche angesichts eines zunehmenden christlichen Traditionsabbruchs.
Zu Teil II: Die drei Leitfragen dienen dem Vf. in diesem Teil dazu, wesentliche neuere praktisch-theologische Entwürfe auf ihre kirchentheoretischen Ansätze hin zu untersuchen. Dabei stellt er zu Recht fest, dass sich in der Praktischen Theologie in den vergangenen Jahren ein Paradigmenwechsel ereignet hat: Viele neue praktisch-theologische Ansätze sind nicht mehr ekklesial fundiert, sondern gehen von einem allgemeineren Religionsbegriff aus. Der Vf. kommt zu dem Schluss, dass das ekklesiale Paradigma durch ein religiöses abgelöst worden sei. Er versucht im weiteren Verlauf von Teil II aufzuzeigen, dass die dem ekklesialen Paradigma verpflichteten praktisch-theologischen Ansätze zwar von einem vorgegebenen (mehr oder weniger traditionellen) Kirchenbegriff her das Handeln der Kirche zu verstehen vermögen, aber an ihre Grenze kommen, was die Berücksichtigung der neueren religiösen Entwicklungen außerhalb der Kirche betrifft. Dabei subsumiert er unter dem ekklesialen Paradigma so unterschiedliche Ansätze wie die von Herbst, Winkler, Anderson, Hübner, Preul und Bloth, ohne allerdings die durchaus vorhandenen Unterschiede zu verschweigen.
Der Vf. würdigt die Stärke der einem religiösen Paradigma verpflichteten Ansätze, die gesellschaftlichen Entwicklungen besser wahrnehmen zu können. Er kritisiert an ihnen jedoch den Mangel an theologischen Kriterien, um das Handeln der Kirche angemessen anzuleiten. Das führe dazu, dass sich all diese Ansätze ihre Kriterien von außerhalb der Theologie vorgeben lassen. Er führt das am Beispiel von Ottos der Kritischen Theorie verpflichtetem Ansatz, an Gräbs der Religionstheorie verbundenem Ansatz, an­hand von Knoblochs von der Subjekttheorie und Rösslers von der Christentumstheorie ausgehenden praktisch-theologischen Entwürfen aus.
Der Vf. will darum sowohl über die dem ekklesialen als auch über die dem religiösen Paradigma verpflichteten Ansätze hinausführen. Eine tragfähige Kirchentheorie müsse heute sowohl kritisch als auch konstruktiv auf die gegenwärtige Situation eingehen. Dazu bedürfe es Kriterien, die nicht allein aus der gesellschaftlichen Situation abgeleitet sind, sondern gleichzeitig ihrem Ge­genstand, der Kirche, entsprechen. Die Aufgabe einer zukünftigen praktisch-theologischen Kirchentheorie besteht für ihn deshalb darin, das ekklesiale Paradigma um die Möglichkeit zu einer angemessenen Wahrnehmung der neuen gesellschaftlichen Situation zu erweitern.
Zu Teil III: Das methodische Instrumentarium, dessen er sich dazu bedient, findet er im – etwas modifizierten – Konzept der kritischen Kontextualisierung, das auf den Amerikaner Paul A. Hiebert zurückgeht. Mit Hilfe dieses Konzepts entfaltet der Vf. dann die Grundzüge seiner eigenständigen kontextuellen Kirchentheorie. Ihre Struktur gewinnt diese mit Hilfe der drei kirchentheoretischen Leitfragen nach Identität, Gesellschaftsbezug und Auftrag. Methodisch fragt der Vf. jeweils nach den kontextuellen Herausforderungen, formuliert dann theologische Kriterien und entwirft schließlich kybernetische Perspektiven. Dabei ergibt sich für ihn folgendes Kirchenverständnis: Grund der Kirche ist die Erfahrung der Christuswirklichkeit; ihre Gestalt findet sie in der Gemeinschaft der Glaubenden. Dadurch wird sie zur Kontrast-Gesellschaft, ohne den Kontakt zur Gesellschaft insgesamt zu verlieren. Ihren Auftrag findet sie darin, mit ihrer Existenz und ihrem Handeln für diese Christuswirklichkeit Zeugnis abzulegen.
Zweifellos stellt das Bemühen des Vf.s, die berechtigten Anliegen der einem religiösen Paradigma verpflichteten praktisch-theologischen Ansätze aufzunehmen und bei der Entfaltung einer eigenständigen Kirchentheorie zu berücksichtigen, eine sachliche Notwendigkeit dar. Die christliche Kirche existiert nicht in einem luftleeren Raum, sondern ist wie jede empirisch wahrnehmbare menschliche Gemeinschaft einer Vielzahl von Einflüssen der sie umgebenden Gesellschaft ausgesetzt. Zumal als Gemeinschaft, die auf ihre Umgebung von ihrem Selbstverständnis her Einfluss nehmen will, ist sie sogar dazu verpflichtet, sich mit der sie umgebenden Gesellschaft und den sie prägenden Entwicklungen auseinanderzusetzen, wenn ihre Botschaft nicht ins Leere gehen soll. Konsequenterweise konkretisiert sich für den Vf. der Auftrag der christlichen Kirche für die Gesellschaft in einer missionstheologischen Richtung.
Eine Schwäche des Buches stellt die Vielzahl der in Teil II analysierten kirchentheoretischen Ansätze neuerer praktisch-theologischer Entwürfe dar. Das muss die Analyse – trotz der über 140 Seiten dieses Teils der Untersuchung, die ihn zum ausführlichsten Abschnitt der ganzen Dissertation machen – notgedrungen in vielerlei Hinsicht oberflächlich bleiben lassen. An vielen Stellen werden die Fachvertreter sich auf Grund der Kürze der jeweiligen Darstellung nicht angemessen wiedergegeben fühlen. Es wäre sinnvoller gewesen, sich hier z. B. auf je zwei Vertreter des ekklesialen und des religiösen Paradigmas zu beschränken.
Insgesamt lohnt das Buch die Lektüre und sollte seine Leser finden. Dem Vf. gelingt es, die Grundzüge seiner eigenen kontextuellen Kirchentheorie in Aufnahme und Abgrenzung gegenüber der gegenwärtigen praktisch-theologischen Diskussion zu ent­wick­eln. Überdies vermag der Vf., theologische und humanwissenschaftliche Er­kenntnisse miteinander ins Gespräch zu bringen, ohne dabei das theologische Proprium der Ekklesiologie aufzugeben.