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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

226-228

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Meyer, Insa

Titel/Untertitel:

Aufgehobene Verborgenheit. Gotteslehre als Weg zum Gottesdienst.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XII, 334 S. gr.8° = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs. Practical Theology in the Discourse of the Humanities, 3. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-019517-0.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Bei der Studie handelt es sich um eine von Dietrich Korsch betreute evangelisch-theologische Dissertation. Ihr Thema ist die den christlichen Glauben begleitende Frage nach der Verborgenheit Gottes. Ihre These ist, dass die Verborgenheit und die Offenbarung Gottes aufeinander bezogen sind – und diese Spannung sich auflöst, wenn Gott und Mensch sich in der Gottesdienstfeier wechselseitig verwirklichen. Insofern erweist sich die Gotteslehre, wie der Untertitel ausdrückt, als Weg zum Gottesdienst. Diese These wird in drei Schritten entfaltet: Der Deutung der biblischen Rede von der Verborgenheit Gottes folgen systematisch-theologische Fallstudien zu Dionysius Areopagita, Martin Luther und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die letztlich zu einer Deutung des Gottesdienstes führen. Ein Personenregister hilft, die vielfältigen Bezüge der Kapitel nachzuvollziehen.
Im ersten Schritt (11–75) wird der biblische Befund geklärt. Für das Alte Testament ergibt die Durchmusterung der einschlägigen Stellen: In dem menschlichen Leben und in der Geschichte kann sich Gott verbergen, so dass dem Menschen die eigene Verfasstheit un­durchsichtig bleibt. Insofern stimmen die göttliche Verborgenheit und die menschliche Selbstverborgenheit überein. Auch im Neuen Testament sind Offenbarung und Verborgenheit eng verknüpft. So erweist sich die Offenbarung als präzise Verbergung Gottes, wenn Gott in Jesus Christus zum Menschen wird. Dem Glauben wird im erwählten Menschen der erwählende Gott offenbar: In seiner Menschlichkeit entspricht Gott sich selbst. Die Rede von der Verborgenheit Gottes im Menschen Jesus von Nazareth wird so ganz in den Dienst eines heilvollen Gottesverständnisses genommen.
Im zweiten Schritt (78–254) werden mit dem eingestandenen Recht der relativen Einseitigkeit drei idealtypische Modelle von Gottes Verborgenheit unterschieden: Dionysius Areopagita steht als Vertreter für das erkenntnistheoretische Modell, Luther für das soteriologische und Hegel für das gottesgeschichtliche Modell. Bei Dionysius Areopagita wird Gottes Verborgenheit als Unerkennbarkeit aufgefasst. Im Gefolge des Neuplatonismus macht Dionysius Areopagita damit die Freiheit Gottes geltend, wie sie christlich plausibel erscheint. Doch diese Konzeption weist nach M. besonders einen entscheidenden Schwachpunkt auf: Die Freiheit wird Gott an sich zugestanden, ohne sie sogleich auf die Welt des Menschen zu beziehen. Doch wenn die ursprüngliche Freiheit Gottes nicht konsequent als dessen Selbstbestimmung zur Welt gedacht wird, so M.s Einwand, dann erscheint Gottes Zuwendung zur Welt unvermittelt und unmittelbar. Dies aber ist für M. nicht nur gedanklich kaum nachvollziehbar, sondern auch soteriologisch sprichwörtlich fatal: Gottes Für-uns-sein und Gottes An-sich-sein fallen auseinander. Dies motiviert zu der Frage, was das Heil für Gott selbst bedeutet – und kann so den Blick auf Luthers soteriologisches Modell der Verborgenheit Gottes lenken. Dabei hält sich M. prinzipiell eng an die Luther-Auslegung von Dietrich Korsch. Luther kennt eine zweifache Verborgenheit Gottes: Fundamental ist die präzise Selbstverbergung Gottes in Jesus Christus, wie M. im Anschluss an Eberhard Jüngel herausstellen kann.
Mit dieser Selbstbestimmung Gottes in Jesus Christus ist eine weitere Verborgenheit Gottes mitgesetzt. Dies ist die Verborgenheit, aus der Gott mit seiner Selbstbestimmung in Jesus Christus heraustritt. Diese zweite Verborgenheit stellt als die Unbestimmtheit Gottes den Horizont seiner Selbstbestimmung dar. Dies findet die Kritik M.s. Denn Luther bearbeitet nicht mehr eigens in seiner Theo­logie das Problem, wie diese Spannung zwischen göttlicher Unbestimmtheit und Selbstbestimmung zu verstehen ist. Den seelsorgerlichen Rat Luthers, sich an den in Jesus Chris­tus offenbaren Gott zu halten, hält M. für keine intellektuell befriedigende Lösung. Dies führt M. direkt zu Hegel und seinem Konzept der Verborgenheit Gottes. In enger Anlehnung an die Hegel-Interpretation von Jörg Dierken votiert M. für Hegels Vorschlag, der die Verborgenheit Gottes nicht nur auf die Differenz von Gott und Mensch bezieht. Vielmehr wird danach die Dialektik von Offenbarung und Verborgenheit für Gott selbst wesentlich. Vorzüglich wird diese Einsicht, so M. mit Hegel, in den Vorstellungsgehalten der christlichen Religion rea­lisiert. Danach gibt es Gott an sich gar nicht, sondern Gott kommt im religiösen Bewusstsein des Menschen zu sich selbst: Gott existiert als Gemeinde. In ihr erkennt sich Gott im Menschen – wie sich der Mensch in Gott erkennt. So verwirklichen sich Gott und Mensch miteinander. Und sie tun dies, so M.s Hegels-Auslegung, durchaus konsistent in der Praxis des christlichen Gottesdienstes.
Im dritten Schritt (255–301) fasst M. zunächst ihre bisherigen Interpretationen zusammen, indem sie diese im Anschluss an Überlegungen Jörg Dierkens mit Hilfe des Begriffspaares der Unbestimmtheit und Bestimmtheit reformuliert. Dies erlaubt M., die Offenbarung als einen Gewinn an Bestimmtheit und die menschliche Situation als Selbstentsicherung zu verstehen. Letzteres motiviert M. zu einer Auseinandersetzung mit Helmuth Plessners anthropologischem Konzept der Weltoffenheit. Dabei möchte M. einerseits der christlichen Vereinnahmung Plessners entgehen, wie sie M. zufolge bei Wolfhart Pannenberg vorliegen soll. Andererseits ist M. daran interessiert, den christlichen Gottesbegriff auf die Weltoffenheit des Menschen zu beziehen. Auch an diesem Punkt ist für M. der Gedanke leitend, dass Gott und Mensch aufeinander angewiesen sind. Schließlich legt M. dar, inwiefern die Gottesdienstfeier als der vortreffliche Ort der wechselseitigen Selbstverwirklichung von Gott und Mensch in den Blick kommen kann: Anders als es Luthers berühmte Torgauer Formel insinuiert, lassen sich im Gottesdienst nicht anabatische und katabatische Momente unterscheiden. Im Rahmen des Zu-sich-selbst-Kommens Gottes im Menschen wird Gott vielmehr in dem sprachlichen Transformationsgeschehen des Gottesdienstes er selbst.
Insgesamt stellt M.s Arbeit eine komprehensive Zusammenschau bewährter Einzelinterpretationen dar, die instruktiv auf den Gottesdienst bezogen werden. Was die Auswahl der Referenztexte angeht, stellt sich die Frage, warum zum Thema der Verborgenheit Gottes die Spätphilosophie Schellings nicht beachtet wird. Was die Triftigkeit von M.s Position angeht, hängt sie von der grundsätzlich geteilten Hegel-Deutung Jörg Dierkens ab. Letztere ist aber nicht nur exegetisch, sondern auch systematisch innerhalb der Hegel-Forschung strittig. Auch außerhalb der Hegel-Forschung ist m. E. die von M. vertretene Position fragwürdig: Wenn Gott nämlich erst im Menschen zu sich kommt, dann wird Gott zum Moment des Menschen. Damit werden Gott und Mensch ein ander zum Mittel der Selbstvergewisserung. Der je­weils Andere wird im Sinn einer Selbstvergewisserung gebraucht. In dieser gleichsam ökonomischen Logik ist weder Gott noch der Mensch um seiner selbst willen interessant. Es droht die Reduktion auf einen Funktionalismus, der letztlich jede personale Eigenständigkeit aufhebt und damit der Erfahrung von Freiheit widerspricht: Der Mensch wird zum Moment göttlichen Werdens herabgesetzt – und die Fortdauer des menschlichen Tuns erlaubt nur den Schluss, dass Gottes Versuch bisher erfolglos war, die eigene Identität zu bewältigen. Ist hingegen der Mensch kein Mittel, das Gott für sich braucht, schafft Gott mit dem Menschen nicht sich, sondern den Menschen um seiner selbst willen. Die vermeintliche Abwertung des Menschen erweist sich so als seine wahre Aufwertung: Zweck des Daseins ist keine Selbsttherapie Gottes, sondern die Freiheit des Menschen. Auf diese Weise kommt die göttliche Freiheit in den Blick, die auch nach M. eigentlich das Verhältnis von Gott und Mensch prägen soll und die m. E. im Gottesdienst gefeiert zu werden verdient.
Wie diese Anfragen zeigen, legt M. eine Studie vor, deren Tiefendimensionen zu den Fragen provoziert, die das genuin theologische Denken immer schon fasziniert haben. Insofern handelt es sich bei M.s Arbeit um eine Pflichtlektüre.