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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

224-226

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grözinger, Albrecht

Titel/Untertitel:

Homiletik. Lehrbuch Praktische Theologie, 2.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. 344 S. 8°. Kart. EUR 22,95. ISBN 978-3-579-05403-2.

Rezensent:

Thomas Klie

Die Theoriebildung innerhalb der Homiletik stagniert derzeit auf hohem Niveau. Die aktuell diskutierten Modelle liegen in ihren Konsequenzen für die Predigtpraxis relativ dicht beieinander. Einhellig betont man die Deutungshoheit des Subjekts und die daraus resultierende spezifische Ästhetik der Kanzelrede; »Spiel« ist in mehrfacher Hinsicht zur Zentralkategorie avanciert. Abgesehen von Akzentverschiebungen im Kontext marginaler Präzisierungen sind ernst zu nehmende Alternativen nicht in Sicht. Umso wichtiger scheint es, im Modus einer durchweg respektablen Publikation den homiletischen Stand der Dinge durch einen ausgewiesenen und gelehrten Fachmann lehrbuchförmig zusammenzufassen. Der Basler Praktische Theologe Albrecht Grözinger legt mit seiner »Homiletik« eine erfahrungs- und theoriegesättigte Summa seiner langjährigen Lehrtätigkeit vor.
In fünf großen Kapiteln bzw. auf 344 Seiten ist der immense Stoff gebündelt: 1. Perspektiven, 2. Situationen und Positionen, 3. Kom­munikationsgeschehen, 4. Gestalt und 5. Performanz der Predigt. – Diese Gliederung lässt zunächst vermuten, dass sich die Darstellung schwerpunktmäßig auf dem Terrain formaler Homiletik bewegt. Die Entfaltungslogik folgt jedoch einem erst mit der Lektüre zu identifizierenden Programm, nämlich die Frage nach Form und Inhalt »als Perspektivierung« bzw. »Akzentuierung eines Sprachzusammenhanges [zu] begreifen, der gerade nicht in ein Vorher oder Nachher von Form und Inhalt aufzugliedern ist« (177). Die klassische Trias aus prinzipieller, formaler und materialer Ho­miletik wird hier – sachlich völlig zu Recht – in spiralförmige Reflexionsschleifen aufgelöst. Das schärft die Eigenlogik der einzelnen Abschnitte, macht es aber im Gegenzug schwer, die Argumentationen trennscharf voneinander abzuheben. Leicht unterrepräsentiert sind theologisch-prinzipielle Erwägungen.
Mit der gleich im 1. Kapitel angeführten soziologischen Perspektivierung (Pluralisierung, Individualisierung, Globalisierung) ist der allgemeine Horizont markiert. Im Sog dieser Großtheorie scheinen dann aber nur noch philosophische Relativitätstheorien (Lyotard, Vattimo, Habermas) plausibel, die im Verein den homiletischen (Kurz-)Schluss nahelegen, als habe das Kanzelgeschehen exklusiv auf urbane Flaneure, Lebenskünstler und Zapper zu reagieren. Diese Pauschaletikettierung findet sich an vielen Stellen des Buches, vgl. z. B.: » Die Menschen der Postmoderne sind sprachspielbewandert und beherrschen die Übergänge von einem ins andere Sprachspiel in der Regel problemlos« (227; Hervorhebungen Th. K.). Die Feinjustierung auf die für real existierende kirchliche Milieus charakteristische Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowie die erstaunlich hohe Kontinuität christlich kontaminierter Zeitgenossen kann dabei leicht aus dem Blick geraten. Das Erschließungspotential einer konzisen Kulturtheorie der Gegenwart käme der Bestimmung der homiletischen Großwetterlage da wohl eher zugute. Trotzdem: G.s Plädoyer für »das genaue Wahrnehmen unserer jeweiligen kulturellen Gegenwart« (27) ist ebenso funktional wie praktisch-theologisch unhintergehbar.
Die Problematik jeden historischen Abrisses ist immer auch die mit der abnehmenden (theorie-)geschichtlichen Distanz abnehmende theoretische Trennschärfe. Dieser epistemischen Crux be­gegnet G. in seinem zweiten, verhältnismäßig knapp geratenen Kapitel durch einen systematisierenden Zugriff auf: Urgemeinde – Augustin – Bernhard von Clairvaux – Luther – die Liberalen – die Dialektiker – Ernst Lange. Das sind die Zwischenhalte, bevor die Darstellung dann im 3. Kapitel (»das homiletische Kommunikationsgeschehen«) an dem durch das Œuvre G.s selbst repräsentierten rezeptionsästhetischen Etappenziel anlangt. Die Exemplarik macht natürlich Sinn, zumal sich mit dieser Linienführung der Berg historischen Materials auf ein (studentisch) akzeptables Maß reduziert. Doch jede Selektion beruht auf inhaltlichen Präjudizie n– hier ist es z. B. die Entscheidung gegen die auch heute noch durchaus wirkmächtigen Traditionslinien pietistisch-erweck­licher bzw. aufklärerisch-pädagogischer Prägung.
Herzstücke dieser Homiletik sind mit je etwa 100 Seiten das Kapitel zur Kommunikation und das Ästhetik-Kapitel. Das Kanzelgeschehen wird hier eingezeichnet in ein räumlich codiertes Dreieck aus Text, Hörern und Hörerinnen sowie Predigern und Predigerinnen. Alle diese Dimensionen »stellen ihrerseits drei höchst komplexe Welten dar, die bei jeder Predigt gleichsam einen veränderten Raum konstituieren« (99). G. schlägt hier elementar und kundig den Bogen von Ernst Langes – theoretisch unterbestimmtem – Initialimpuls (»Kommunikation des Evangeliums«) bis hin zur postmodernen Poesie und Medialität der Predigt. Programmatisch heißt es: »Wenn eine Predigt als ein Kunst-Stück im Raum der Sprache begriffen werden kann, dann kommt der Sprachgestalt der Predigt eine herausragende Bedeutung zu« (177). Um zu einer in diesem Sinne überzeugenden Sprachgestalt zu kommen, gilt es, seine Aufmerksamkeit auf das ganze Tableau homiletischer Fragestellungen zu richten. Die Erfindung des Hörers, das ICH auf der Kanzel, Genderwelten, Deneckes Prediger-Typologie, Theorie des »offenen Textes«, Altes Testament christlich predigen, Intertextualität – die referierenden Teile bieten einen vollständigen Überblick über alle relevanten jüngeren Theoriediskurse. Dabei wird die Lektüre erfreulicherweise nicht durch ein enzyklopädisches namedropping erschwert; behutsam importiert G. Kernsätze aus der einschlägigen Literatur in seinen Gedankengang und kommentiert sie. Man folgt einem solchen Duktus gern, auch sprachlich. Sehr erhellend sind die eingestreuten Seitenblicke auf (sprach-)philosophische und hermeneutische Entwürfe.
Mit seinem 5. Kapitel zur »Performanz der Predigt« erweist G. den jüngsten Überlegungen zur homiletischen Dramaturgie seine Referenz. Ausgehend vom performatic turn in den Kulturwissenschaften wird auf den liturgischen Aufführungskontext der Predigt und schließlich auf Nicols Konzept eines szenisch formatierten Kanzelauftritts reflektiert. Mit einem knappen Abschnitt zur Kasualpredigt schließt das Lehrbuch.
Kritisch anzumerken ist das Fehlen eines Schlagwortverzeichnisses – eine Monographie mit Lehrbuchanspruch kann auf ein solches Hilfsmittel nicht einfach verzichten. Die Überschriften im Inhaltsverzeichnis kompensieren dieses Manko nur bedingt, denn zu oft wurde eklektisch-essayistischen Formulierungen der Vorzug vor kategorial klar identifizierbaren Markierungen gegeben. Was G. mit »Verflüssigung«, »zerbrechlichem Stück« oder »Spiel der Traditionen« überschreibt, erschließt sich erst nach der Lektüre. Leider weist auch das Namenverzeichnis etliche Lücken auf. Stilis­tisch gewöhnungsbedürftig ist im Kontext des Genres »Lehrbuch« zudem der Gebrauch der 1. Person (14 ff.44.75 passim). Sehr hilfreich dagegen sind die durchgehend rubrizierten weiterführenden Literaturhinweise.
Der Band ist alles in allem ein famoses Lehrbuch aus einem Guss. Es bleibt in der Theorie zeitgenössisch, in der Darstellung luzid und im Skopus (!) profiliert. Für angehende und praktizierende Prediger ein starkes Stück Predigttheorie – tollite, legite!