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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

197–199

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Francke, Gotthilf August

Titel/Untertitel:

Hertzliebe Mama. Briefe aus Jenaer Studientagen 1719-1720. Hrsg. von Th. Müller u. C. Wessel unter Mitarb. von Ch. Butterweck, eingel. von U. Sträter.

Verlag:

Halle: Franckesche Stiftungen; Tübingen: Niemeyer 1997. XIX, 170 S. m. 5 Taf. gr.8. Kart. DM 72,-. ISBN 3-931479-03-X u. 3-484-84200-8.

Rezensent:

Martin Ohst

Im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle liegt ein Konvolut von Briefen, die G. A. Francke (1696-1769), seit 1727 o. Prof. der Theologie in Halle und als Nachfolger seines Vaters Leiter der von ihm begründeten Anstalten, seit 1730 Inspektor (Superintendent) des Saalkreises, an seine Mutter geschrieben hat, als er von April 1719 bis März 1720 für ein knappes Jahr zum Studium in Jena weilte. Die Briefe der Mutter an den Sohn sind ebenso verloren wie die Briefe, die dieser in jener Zeit mit dem Vater wechselte.

Diese Briefe haben die Herausgeber nun in einer schönen Edition zugänglich gemacht. Besonderheiten der handschriftlichen Überlieferung (Streichungen, Verschreibungen, Einfügungen) werden vermerkt. In mühseliger Kleinarbeit sind die Personen und Ereignisse, die in den Briefen erwähnt werden, beinahe restlos entschlüsselt worden - zuweilen unter Rückgriff auf unveröffentlichtes Archivmaterial. Neben diesen Angaben bietet der höchst sorgfältig gearbeitete Apparat sehr willkommene Lesehilfen - fremdsprachliche und heute ungebräuchliche Ausdrücke werden erläutert. Sehr differenziert gearbeitete Register (das Personenregister mit Kurzbiogrammen, daneben Orte und Sachen) erschließen die Briefe auf vorbildliche Weise. Neun Abbildungen machen den Leser visuell mit den Personen, Schauplätzen und auch den Originalbriefen bekannt. Die präzise Einleitung von U. Sträter verschafft auch dem Nicht-Pietismusexeperten rasch und zuverlässig die Vertrautheit mit bestimmten Fakten, die er zur Lektüre dieser Briefe braucht. Denn so wichtig diese Briefe sicherlich etwa für die weitere Erforschung der pietistischen Kommunikations-Netzwerke sein werden - sie verdienen auch ein sehr viel breiteres Interesse, bieten sie doch in der ganz ungeschützten Weise echter Privatbriefe reiche Einblicke in das innere und äußere Alltagsleben eines damaligen Studenten. Das eigentliche Studium findet leider kaum Erwähnung; die einschlägigen Angaben werden sich wohl in dem verlorenen Vater-Sohn-Briefwechsel befunden haben. Aber ansonsten bieten sie ein außerordentlich farbenreiches Bild: Breiten Raum nehmen die Erörterungen über den Gesundheitszustand des stets kränklichen jüngeren Francke ein, der immer wieder die Produkte der Hallischen Waisenhaus-Apotheke in Anspruch nehmen muß. Sein Zimmer im Hause des J. Fr. Budde (Buddeus) und dessen Einrichtung kann sich der Leser ebenso mühelos ausmalen wie seine Kleidung und den Speiseplan; auch die übrigen Bewohner des Hauses sowie ihre Freuden und Leiden lernt er recht genau kenne. Das zuweilen zügellose Treiben der damaligen Jenaer Studenten sieht man freilich nur aus der Außenperspektive, weil der pietistisch-sittenstrenge Briefschreiber sich nicht an ihm beteiligt. Seine gesellschaftlichen Kontakte sind auf Gesinnungsgenossen beschränkt, etwa J. J. Rambach und Johann Carl Graf von Solmas-Baruth, mit dem G. A. Francke zusammen das Weihnachtsfest 1719 nach abenteuerlicher Reise auf dem Schloß der Grafen Reuß in Köstritz zubringt (Brief 52). Die hier sowie in der Jenaer Kollegienkirche gehaltenen Predigten (z. B. die Briefe 47 und 54) veranlassen charakteristische Erörterungen über sein inneres Leben - authentischere Zeugnisse pietistischer Frömmigkeit wird man wohl kaum finden können. Den akademischen Höhepunkt der Jenaer Monate bildete eine öffentliche Disputation, in der der Student eine von Buddeus verfaßte Abhandlung über den Zustand der apostolischen Kirchen öffentlich verteidigte (Brief 64). Im Vorfeld hatte es Probleme wegen der Widmung des Drucks an den jüngeren Grafen von Solms-Baruth gegeben, weil dessen Vater offenbar ein eifrig antipietistischer Orthodoxer war (Brief 61 f.).

Menschlich tief anrührend sind die Offenheit und der kindliche Gehorsam, die das Verhältnis des Dreiundzwanzigjährigen zu seinen Eltern prägen. Nur einmal läßt sich ein echter Dissens greifen, und zwar beim Thema einer eventuellen akademischen Karriere, die die Eltern für den Sohn im Auge hatten. Hier legte der gehorsame Sohn Widerspruch ein und versicherte, "daß mich gar nicht nach einem Amt gelüstet, sondern mein Wunsch oft gewesen ist, die wenige Zeit meines Lebens, deßen Ende ich nicht fern zu seyn glaube, etwa dem lieben Papa an die Hand zu gehen, und mich dabey zum Eingange in die ewige Seligkeit wohl zuzubereiten, auch nach der guten Hand meines lieben Vaters im Himmel indeßen dem Herrn Jesu noch einige Seelen zuzuführen ..." (Brief 57, S. 103). Aber auch hier beugte er sich dann letztlich dem elterlichen Willen und in seinem wider eigenes Erwarten noch recht langen Leben erfüllte er die Pflichten dreier Berufe. Die Briefe an die "Hertzliebe Mama" machen neugierig auf das, was die weitere Forschung über G. A. Francke, der im übermächtigen Schlagschatten seines Vaters stand und steht, zutage fördern wird. Zunächst jedenfalls ist den Editoren herzlich für die Mühe zu danken, die sie an die rundum gelungene Ausgabe dieser wichtigen Texte gewandt haben.