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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

221-223

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Stümke, Volker

Titel/Untertitel:

Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 536 S. gr.8° = Theologie und Frieden, 34. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-17-019970-5.

Rezensent:

Sibylle Rolf

Angesichts globaler Bedrohungen durch religiös-fundamentalis­tisch motivierten Terrorismus und partikularer Bedrohungen durch Bürgerkriege wächst der gesellschaftliche Orientierungsbedarf in Sachen politischer Ethik. Die Frage, ob auch Kriegsleute im seligen Stande sein können, hat Martin Luther aber schon 1526 umgetrieben, so dass von Luthers ethischen Einsichten her durchaus Hilfe für das 21. Jh. zu erwarten ist. Das ist die Grundannahme der Habilitationsschrift von Volker Stümke, Privatdozent an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und Dozent für Evangelische Sozialethik an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Warum aber gerade Luther? Der einleitend (9–14) aufgerissene Kontrast zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam, der auf politisch-ethischer Ebene den Konflikt um die Freiheit oder Unfreiheit des Willensvermögens fortsetzt, markiert, dass Luthers politische Ethik nicht ohne seine anthropologischen und theologischen Grundannahmen verstanden werden kann. Schließlich ist Gott derjenige, der seiner Gemeinde den Frieden »gnädiglich verleiht«, wie Luther 1529 in seinem bekannten Lied ausdrückt (12 f.).
Folgerichtig fundiert der Vf. seine Überlegungen zu Luthers Friedensverständnis in Analysen zu Luthers Verständnis von Person (77 ff.) und Werken (96 ff.), nicht ohne allerdings zuvor seine Arbeit an die gegenwärtige (auch nicht-theologische) Friedensforschung (14 ff.) und die gegenwärtige theologische und außertheologische ethische Debatte (31 ff.) rückzukoppeln. In diesem zuletzt genannten Abschnitt findet sich die entscheidende Begründung dafür, warum eine Beschäftigung mit Luthers Friedensverständnis im Rahmen seiner politischen Ethik zum einen sinnvoll und zum anderen angemessen ist: »Evangelische Sozialethik legt zunächst (deskriptiv) die eigenen anthropologischen und theologischen Prämissen dar. Darüber hinaus beansprucht sie, in einer offenen De­batte eigene Impulse mit normativem Anspruch vorzutragen.« (53, im Original kursiv.) Von dieser Einsicht her ist eine Entfaltung der anthropologischen und theologischen Grundannahmen Lu­thers notwendig, erheben aber die aus Luthers Ethik gewonnenen Im­pulse auch den Anspruch von Normativität.
Auf Grund der lutherschen Unterscheidung von Person und Amt erweist es sich dabei zunächst als notwendig, Luthers Verständnis der Person zu entfalten, was einen Rekurs auf die Rechtfertigungslehre unabdingbar macht: »Jeder einzelne Mensch und damit der Mensch als Person wird ... nur dann richtig erfasst und verstanden, wenn er von der Rechtfertigung her in den Blick ge­nommen wird: Gottes Sicht des Menschen, die eben nicht von der (sündigen) Beschaffenheit des Menschen, sondern von Gottes eigener schöpferischer Liebe her bestimmt wird, definiert die menschliche Personalität.« (90 f.) Genau in diesem Entzogensein der Person wurzelt aber die Unterscheidung von Person und Werk, insofern die Werke oder das Amt nicht die Person machen (vgl. 99). Gute Werke sind vielmehr durch ihre »Weltbezogenheit« auf die Person des Nächsten hin (123) charakterisiert, als Werke, die der Christenmensch innerhalb seines Amts zu verrichten hat. Dieses Amt stellt den Handelnden seinerseits in die im »Nährstand«, »Wehrstand« und »Lehrstand« (128) dreifach gegliederte ständische Gesellschaft, die der Vf. darstellt und durch den Hinweis präzisiert, dass das Amt dem Handelnden zwar eine Handlungsstruktur vorgibt, diese aber durch »Vernunft und Erfahrung« (151) im Einzelnen zu füllen ist. Wird dabei das Amt im Gehorsam gegenüber Gott und im Dienst am Nächsten ausgeübt, wird es zum Beruf, so dass der Beruf des Christen zu demjenigen Handlungsfeld wird, »in dem er seinen Glaubensgehorsam ... in gutes Handeln umsetzen kann« (195). Da­mit wird der zu erstrebende gesellschaftliche Friede aber in der Zu­friedenheit des Einzelnen und seinem Frieden mit Gott auf Grund der iustificatio fundiert, so dass Luthers sozialethischer Ansatz eine personalethische Rückbindung erhält, wie der Vf. m. E. richtig sieht und mit der Gliederung seines Buches präzise herausarbeitet.
Auch Regierende bekleiden ein Amt, weswegen von der Entfaltung des Amtsverständnisses folgerichtig zu Luthers Zweireiche- und/oder Zweiregimenten-Lehre übergeleitet wird (196 ff.) Diese wird in ihren historischen Zusammenhang eingebettet, in ein Verhältnis zur Ständelehre gesetzt und – vor allem anhand der Kriegsleuteschrift – auch in Beziehung zur politischen Ethik von Thomas Hobbes eingehend dargestellt. Danach bestärkt Luther das »Ge­waltmonopol der weltlichen Obrigkeit« und bindet es zugleich ans Recht zurück (247) – und zwar nicht deswegen, weil, wie bei Hobbes, alle Menschen unterschiedslos aus Eigennutz handeln und darum den Leviathan als geringeres Übel gegenüber dem Bürgerkrieg notwendig machten, sondern weil das Gebot der Nächstenliebe den Christen zur Unterstützung der weltlichen Obrigkeit motiviert (241). Darüber hinaus ist die weltliche Obrigkeit als von Gott eingesetzte Trägerin eines Amts an das Rechtssystem gebunden, was ihr eine relative Autonomie innerhalb fest umrissener Grenzen gibt, zugleich aber mit einer Eigengesetzlichkeit der weltlichen Obrigkeit innerhalb eines pervertierten Verständnisses der Zweireiche-Lehre nichts zu tun hat.
Nach der ausführlichen Grundlegung der politischen Ethik Luthers wendet das Buch sich mit der Frage nach dem Ethos des Soldatenberufs, nach Beschützen und Notwehr, nach dem Frieden und dem Krieg ihren Anwendungsbereichen zu. Besonders herauszuheben sind meines Erachtens dabei die Überlegungen des Vf.s zum politischen Realismus, mit dem Luther »die hohe Wertschätzung des Staates [teilt], den er insbesondere über sein Gewaltmo­nopol und über die damit verbundenen Ordnungsaufgaben de­finiert« (470). Mit seiner Rückbindung der Obrigkeit an ihre göttliche Einsetzung und an das göttliche Gebot und seinem Ver­ständnis des Friedens als Gewissensfreiheit des Christen, als äußere Gerechtigkeit und als gesellschaftliche Zufriedenheit (483) entwickelt Luther aber Perspektiven, die über die reine Realpolitik hinausgehen, zumal er ebenfalls theologische Aspekte auch in der Ethik geltend macht. Eine realpolitische Vereinnahmung von Luther ist darum nicht möglich. Frieden bedeutet für Luther die Abwesenheit von Krieg, genauso aber auch die innere Zufriedenheit des gerechtfertigten Menschen und schließlich den zu erhoffenden himmlischen Frieden, der eine eschatische Gabe Gottes ist (491 f.).
Diesem sorgfältiger Analyse verpflichteten und dabei sehr gut lesbaren Buch wünscht man zahlreiche aufmerksame Leser, so­wohl unter Theologen als auch – vor allem – unter interessierten Nicht-Theologen, und zwar besonders deswegen, weil die das Buch gliedernde und wesentlich bestimmende lutherische Unterscheidung von Person und Werk, die den Menschen vor Selbstüberforderung schützt und zugleich zum entschiedenen gesellschaftlichen Handeln befreit, die entscheidende und wesentliche Erkenntnis in einer Zeit des globalen Terrorismus und der partikularen Bürgerkriege sein könnte. Dafür sollte in deutschen Kirchen wahrscheinlich allsonntäglich das Lied gesungen werden, auf das der Vf. immer wieder rekurriert: »Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.«