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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

219-221

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XVIII, 457 S. 8°. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149355-3.

Rezensent:

Herbert Schlögel

Der Sammelband des evangelischen Tübinger Systematischen Theologen Eilert Herms enthält Beiträge zu sozialethischen Themen, die mit der Aufsatzsammlung »Politik und Recht im Pluralismus« (2008) eine Einheit bilden. Zu Beginn umreißt H. sein Anliegen: »Unser Zusammenleben steht unter Bedingungen, die im schlechthin Vorgegebenen sind, unhintergehbar und unüberholbar. Es steht unter den Bedingungen unseres gemeinschaftlichen Personseins im Fluß des innerweltlichen Werdens. Zu diesen vorgegebenen Bedingungen zählt auch die Erschlossenheit unseres Personseins für es selber, kraft deren ihm seine individuelle, unverwechselbare und unübertragbare Eigenart zu verstehen gegeben ist als besondere Variation der allgemeinen Bedingungen des Menschseins, die dauernd für alle möglichen Menschen gelten und durch die alle Einzelnen an der Einheit des menschlichen Gattungslebens teilhaben« (IX). Die Beiträge wollen »die dem christlichen Glauben gewährte … Erschlossenheit des menschlichen Personseins« (X) zur Sprache bringen.
Dies kommt in den ersten vier Beiträgen zum Ausdruck, die sich mit der theologischen Anthropologie einschließlich der Herausforderungen durch die Ergebnisse der Neurophysiologie befassen. Aufgabe der christlichen Ethik ist es nicht, »›die‹ richtige Antwort auf aktuelle Entscheidungsfragen zu liefern, die die menschengerechte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens betreffen, sondern … zunächst einmal die Bedingungen für den friedlichen und konstruktiven Austrag der Konkurrenz unterschiedlicher Orientierungshorizonte in der Einheit des menschlichen Zusam­menlebens herauszufinden und zum Konsens sowie zur praktischen Anerkennung zwischen den verschiedenen Positionen zu bringen« (XIII). Die damit verbundene Aufgabe kann nur vom Boden einer bestimmten Position aus angegangen werden, um »zu zeigen, zu welchen Antworten die Orientierung an diesem Horizont auf die verschiedenen Fragen nach der angemessenen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens im Widerstreit der ethisch orientierenden Lebensüberzeugungen führt« (XIII).
Diesem Anliegen ist der fünfte Beitrag gewidmet, während die folgenden drei Aufsätze sich mit dem Stichwort Religion befassen. Dabei wird hier Religion nicht begrenzt »auf ein ausschließlich individuelles Absolutes, sondern sofern unter Religion eben nichts anderes zu verstehen ist als das aus der Bildungsgeschichte jeder Person und den diese Geschichte fundierenden Erschließungsereignissen resultierende Gewißsein über die universalen Bedingungen des Menschseins, … ein Gewißsein, welches sich jeweils reflektierend entfalten läßt als der Einsichten- und Aussagenzusammenhang einer die menschlichen Zielwahlen orientierenden … geschichtlich bedingten Welt- und Lebensüberzeugung von den universalen Bedingungen des Menschseins …« (XIV). Die Bedeutung der Elite für die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens wird in zwei weiteren Beiträgen deutlich, während die Aufsätze 11 bis 15 sich mit dem Zusammenleben in den Bereichen Wirtschaft, Technik und Wissenschaft auseinandersetzen.
Die nächsten drei Aufsätze kreisen um das Ethos des Sports, der in den heutigen pluralistischen Gesellschaften ein Spiegelbild di­vergierender Interessen einerseits und gemeinsam Verbindendem andererseits ist. Der Rolle der Bildung wird in den Artikeln 19–21 nachgegangen. Der Band schließt mit Überlegungen zum Ge­schlechterverhältnis und zum Zusammenleben in Ehe und Familie. Neben den Entstehungs- und Veröffentlichungsnachweisen findet sich auch ein Register.
Selbstverständlich können im Rahmen dieser Besprechung nur einige Hinweise zur Aufsatzsammlung gegeben werden. Positiv hervorzuheben ist, dass H. in den ersten Artikeln seine theologisch-anthropologische Option darlegt, die verständlicherweise von der reformatorischen Sicht geprägt ist. Im interdisziplinären Dialog wird diese Frage, von welchem Menschenbild her zu diskutieren ist, von anderen Disziplinen – vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich – nicht thematisiert. Die kritische Auseinandersetzung mit der Neurophysiologie unter der Überschrift »Freiheit des Willens. Das christliche Menschenverständnis und die Ergebnisse der Neurophysiologie« (47–89), die vom Umfang bereits wesentlich mehr ist als ein Aufsatz, belegt dies nachdrücklich. Vielen Einzelbeobachtungen von H. kann aus meiner Sicht nur zugestimmt werden: so, wenn er die »Infragestellung der Verantwortlichkeit des Menschen durch die Absolutsetzung des Gegenstandsbereichs der experimentellen Naturwissenschaft« (58) kritisch beleuchtet; oder wenn er auf die Defizite des Gesundheitsbegriffs, wie ihn die Weltgesundheitsorganisation definiert als ›Zustand des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens‹, hinweist (18); schließlich wenn er sich mit dem Problem auseinandersetzt, wie Werthaltungen in einem Gemeinwesen gepflegt werden können (149 f.). Diese Liste ließe sich verlängern. Die kompetente Beschäftigung mit den jeweiligen Fragestellungen ist durchgehend spürbar.
Natürlich gibt es auch Punkte, die anders gewichtet werden können, ja, aus meiner Sicht müssen. Z. B. weist H. im Beitrag »Ethik der Forschung am Beispiel der Stammzellforschung« (277–304) überzeugend nach, warum Embryonen – auch definitiv übrig gebliebene Embryonen (vgl. 298) – zur »Herstellung« embryonaler Stammzellen nicht verwendet werden dürfen, weil sie dabei getötet werden. Umso mehr überrascht dann die Auffassung, wie mit den bereits vorhandenen Stammzelllinien umzugehen sei. »Vielmehr steht jeder, der mit dem Effekt eines ethisch nicht zu rechtfertigenden Handelns konfrontiert wird, ganz unabhängig davon, ob er dieses Handeln billigt oder nicht, vor der unabweisbaren Aufgabe, mit diesen Folgen des ethisch nicht zu rechtfertigenden Verfahrens in der ethisch vorzugswürdigen Weise umzugehen«. Deshalb »ist derjenige Umgang mit den Resultaten einer ethisch ungerechtfertigten Handlung seinerseits der ethisch gerechtfertigte, der das Beste – d. h. das Vorzugswürdigste – daraus macht. Schon gewonnene Stammzellinien zu Forschungszwecken heranzuziehen, ist besser, als sie ungenutzt ›wegzuwerfen‹« (302). Wieso mit dem Ergebnis eines Verfahrens, das H. ablehnt, dann in einer ethisch vorzugswürdigeren Weise in dem Sinne umzugehen ist, dass der Weg zu diesem Ergebnis keine Rolle mehr spielt, scheint mir nicht plausibel. Zumindest muss die Frage gestellt werden, ob damit dann doch ein Verfahren de facto gefördert wird, das aber wie die Gewinnung embryonaler Stammzellen abzulehnen ist.
Im Zusammenhang von »Liebe, Sexualität, Ehe« (391–431) urteilt H. hart über die evangelisch-katholischen Bemühungen im Blick auf das Eheverständnis und seine sakramentale Begründung. Er spricht von einer »absurden Argumentation« (419, Anm. 59). Wenn man aber liest, was H. vorher über die Sicht der Ehe bei Luther in seinem Traubüchlein, über das Verhältnis von Schöpfung und Erlösung und über die Interpretation der Ehe-Aussage von Eph 5,28–32 ausführt, dann wirkt die schroffe Reaktion auf die Bemühungen des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Chris­ten und des Lutherischen Weltbundes unverständlich.
Formal fällt bei der Gestaltung der Beiträge auf, dass H. sich einem aktuellen Thema stellt, es aus seiner Perspektive behandelt und meist nicht danach fragt, wie andere Theologen und/oder Ethiker sich mit diesem Problem auseinandersetzen. So ist der meist zitierte Autor in diesem Sammelband der Verfasser selbst. Drucktechnisch ist das Buch, das erfreulicherweise in einer gebundenen Form vorliegt, einwandfrei gestaltet. Die Lesefreude wird durch die kleingewählte Schrifttype gemindert.
H. hat sich in diesem Aufsatzband mit einem breiten Spektrum von Themen angewandter Ethik und deren anthropologischen Grundlagen argumentativ auseinandergesetzt. Es bleibt nicht aus, dass die manchmal prononciert vorgebrachten Auffassungen ihrerseits Kritik hervorrufen.