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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

217-219

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Politik und Recht im Pluralismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XXVI, 372 S. 8°. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-149429-1.

Rezensent:

Michael Coors

Mit dem zu besprechenden Buch legt der Tübinger Theologe und Sozialethiker eine Reihe von ethischen Studien überwiegend der letzten Jahre, darunter vier bislang unveröffentlichte Texte, vor, die sich aus der Sicht der theologischen Ethik mit den Fragen des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Recht auf der einen und Kirche, Glaube, Weltanschauung und Theologie auf der anderen Seite befassen. Das Hauptgewicht liegt dabei auf Fragen der Grundlegung theologischer Ethik angesichts des Pluralismus, die im Einzelnen auch am Beispiel konkreter ethischer Fragestellungen verhandelt werden. Das Verständnis der sprachlich komplexen Texte wird durch eine gewisse Redundanz der Themen und Argumentationen, wie sie in einer solchen Sammlung von Aufsätzen unvermeidlich ist, erleichtert.
H. unternimmt mit den Aufsätzen dieses Buches erneut in unterschiedlichen Perspektiven den Aufweis der weltanschaulichen Bindung jeglicher ethischer und moralischer Überzeugung und Argumentation. Er positioniert sich damit in der Tradition hermeneutischer Theologie und Phänomenologie stehend in klarem Gegensatz zu philosophischen Entwürfen der Ethik in der Tradition Kants oder aber der analytischen Philosophie. Die unhintergehbare Positionalität gründe im geschichtlichen Werden der ethisch handelnden und reflektierenden Personen, in Erschließungsereignissen, die aller Reflexion vorausliegen (35 f.). Aus die-ser Ontologie des Personseins extrapoliert H. auch den Begriff menschlicher Würde als einen Begriff über das Sein des Menschen. Vorausgesetzt wird dabei eine subjektzentrierte Ontologie in der Tradition Schleiermachers, expliziert in phänomenologischer Be­grifflichkeit (72). Ethische Entscheidungen fallen für H. immer im Rahmen einer schon getroffenen Zielwahl (325), die ihrerseits in »einer Gewissheit mit ethischer Orientierungskraft« (180) gründe und den Charakter religiöser bzw. weltanschaulicher Überzeugung über Ursprung, Verfassung und Bestimmtheit des Daseins trage. Diese unhintergehbare Positionalität haben nach H. christlicher Glaube und Theologie schon immer als Offenbarungsabhängigkeit des Menschseins thematisiert (329). Diese zu profilieren, sei der spezifische Beitrag des Theologen im ethischen Diskurs (58).
Die Kommunikation solch weltanschaulicher und ethischer Fragen habe in der Gesellschaft ihren Ort im Funktionssystem der Weltanschauungs-, Religions- und Ethoskommunikation, das ne­ben den Funktionssystemen der Politik, der Wirtschaft und dem System der Kommunikation gemeinsamer technisch orientierender Überzeugungen bestehe (226 ff.). Diese vier Funktionssysteme sind zwar klar voneinander abgegrenzt, aber nicht autark, so dass das, was in einem der Funktionssysteme entschieden wird, immer auch alle anderen betreffe (314.337). Daher gewinnt auch das gesellschaftliche System der Weltanschauungs- und Religionskommunikation Relevanz für die Gesamtgesellschaft, insbesondere auch für den politischen Bereich (280). Dabei zeigt die Argumentation allerdings, dass diese als Deskription eingeführte Unterscheidung mit deutlich normativem Anspruch auftritt: Denn faktisch können Organisationen des einen Funktionssystems auch in anderen Funktionssystemen tätig werden – Kirchen können z. B. unmittelbar politisch agieren. H. jedoch wendet die eingeführte Unterscheidung der Funktionssysteme kritisch gegen solch eine Vermischung (283), wendet sie also, in der Tradition der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre stehend, normativ an.
Innerhalb der unterschiedlichen Systeme der Weltanschauungs- und Religionskommunikation bilden sich unterschiedliche Ethosgestalten aus, die die unhintergehbare Positionalität ethischer Überzeugungen schon vorreflexiv begründen. Diese un­hin­tergehbare Positionalität als Verankerung von Handeln in einem konkreten gelebten Ethos mache aber genau das Problem des Pluralismus aus (326): Denn wie ist damit umzugehen, dass der motivierende und orientierende Handlungshorizont von Politik und Recht in der Gegenwart selbst von einem unvermeidlich weltanschaulich-ethischen Pluralismus geprägt ist (319)? H. will darauf aus der Perspektive des christlichen Ethos eine Antwort geben. Dabei hält er bei aller Positionalität und Perspektivität an einem erkenntnistheoretischen Realismus fest: Alle Perspektiven bezögen sich auf die eine Wirklichkeit, die uns als zu verstehende vorgegeben ist (64.286 f.). Pluralität entstehe erst durch die unterschiedlichen begrifflichen Bezugnahmen auf diese eine Wirklichkeit durch unterschiedlich geschichtlich gewordene Individuen (131. 163).
Da diese Positionalität unhintergehbar sei, könne die Lösung des Pluralismus auch nicht in einer absoluten Neutralität des Staates gegenüber aller Weltanschauung liegen (184 ff.). Stattdessen votiert H. für eine Bindung des säkularen Staates und des Rechts (310) an eine konkrete Ethosgestalt, die in sich die Möglichkeit zur kritischen Selbstbegrenzung trage (341) und so dem Staat die Möglichkeit der Äquidistanz zu allen in ihm existierenden Ethosgestalten ermögliche (276). Um unter diesen Bedingungen einen friedlichen Pluralismus zu ermöglichen, müsse der Staat, der selbst keine Überzeugungsgemeinschaft ist, zum einen eine positive Welt­anschauungs- und Religionsfreiheit pflegen (192 f.203) und zum anderen Macht akkumulieren und sie allen anderen gesellschaftlichen Institutionen entziehen, weil er nur so eine Friedensordnung garantieren kann, in der das freie Ringen um die Wahrheit möglich ist (225). Deutlich steht H. hier in der Tradition lu­therischer Ordnungstheologie.
Auffällig ist, dass die theologische Argumentation an entscheidender Stelle in eine Diskussion der politischen Möglichkeiten übergeht (338). Das verwundert nach der ausführlichen philosophischen und theologischen Begründung des Phänomens Pluralismus. Dort, wo H. sich auf theologische Argumentationen einlässt, fallen die Bezüge auf Schrift und Tradition häufig sehr pauschal aus, ohne dass hier ein Einstieg in eine im engeren Sinne theologische Debatte genommen würde (103 ff.299 f.302 ff.). So verbleibt H. im Wesentlichen auf der Ebene phänomenologischer Re­konstruktion christlichen Glaubens, ohne dass die zu Grunde liegenden theologischen Entscheidungen darüber, was inhaltlich als christliche Überzeugung zu gelten hat, theologisch diskutiert würden. Seine Ursache hat dieses Vorgehen in der Überzeugung, dass »erst die vom christlichen Begriff bezeugten Phänomene ... von sich aus den Begriff und die Wahrheit seines Zeugnisses zu verstehen« geben (332). Damit ist die methodische Grundentscheidung immerhin klar benannt. Theologisch fordert sie zur Diskussion über das Wesen theologischer Ethik, ja theologischer Rede überhaupt, heraus.
Dass H. in einem Buch über den Pluralismus nicht ein einziges Mal auf Rawls vielfach diskutierte Pluralismustheorie Bezug nimmt, erstaunt – insbesondere, weil es zahlreiche Berührungspunkte zwischen der Pluralismusauffassung von H. (317) und Rawls gibt. Ein Dialog an dieser Stelle würde wohl auch die Frage aufwerfen, wieso H. nicht ernsthaft in Erwägung zieht, dass sich die Äquidistanz des Staates zu den unterschiedlichen Weltanschauungen auch aus einem sich im öffentlichen Diskurs ausbildenden übergreifenden Konsens ( overlapping consensus) der verschiedenen Ethosgestalten ergeben könnte.
H. fasst in diesem neusten Buch seine bekannte Position – konzentriert auf die Frage nach der Funktion von Kirche und Theologie für eine pluralistische Gesellschaft – pointiert zusammen. Zahlreiche Fragen, die H. in dichter und sehr stringenter Argumentation entfaltet, bleiben allerdings gerade in theologischer Hinsicht offen und verlangen nach weiterer theologischer Diskussion. H.s Beitrag wird man dabei, gerade seiner klaren positionellen Profilierung wegen, schwerlich übergehen können.