Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

213-215

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Thomas, Philipp

Titel/Untertitel:

Negative Identität und Lebenspraxis. Zur praktisch-philosophischen Rekonstruktion unverfügbarer Subjektivität.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2006. 295 S. 8° = Praktische Philosophie, 76. Geb. EUR 38,00. ISBN 3-495-48176-1.

Rezensent:

Christoph Seibert

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer von der Philoso­phischen Fakultät der Technischen Universität Dresden im Wintersemester 2004/05 angenommenen Habilitationsschrift. Mit ihm liefert Th. einen pointierten Beitrag zu einer philosophischen Theorie menschlichen Personseins unter dem Leitgesichtspunkt der »Konstitution von Subjektivität« (17).
Die Pointe des Buches besteht darin, dass Th. die moderne Vorstellung der Selbstmächtigkeit menschlichen Daseins zu Gunsten eines Verständnisses des Menschen zu überwinden sucht, das von einer prinzipiellen Unverfügbarkeit des denkenden und handelnden Subjekts für es selbst ausgeht. Das ist philosophiegeschichtlich freilich nichts Neues. Denn sowohl die Philosophie des deutschen Idealismus als auch bedeutende philosophische Positionen des 20. Jh.s denken die Konstitution menschlicher Selbsttätigkeit unter Bedingungen, die ihren einzelnen Vollzügen radikal entzo gen bleiben müssen. An diese Traditionen schließt Th. gleich zu Beginn affirmativ an, will deren zentrale Einsicht von der »Un­möglichkeit der Selbstbegründung« (14) zugleich aber auch in einer bestimmten Hinsicht radikalisieren. Im Unterschied etwa zu Hegel oder zu Heideggers Spätphilosophie soll die Konstitution des menschlichen Selbst nämlich gedacht werden, ohne dabei ein umfassendes Wirklichkeitsmodell, Th. redet von einem »big picture«, zu bemühen. Ihm kommt es also nicht nur darauf an, Subjektivität negativ »im Sinne von entsubstanzialisiert, nicht selbstmächtig, passiv« zu denken, sondern vielmehr im »Sinne einer prinzipiell fehlenden Selbstdurchsichtigkeit« (16) zu verstehen. Nicht nur ihre passive Konstitution ist hervorzuheben. Diese ist vielmehr so zu denken, dass die Wirklichkeit des menschlichen Selbst dabei zugleich als Ereigniszusammenhang aufgefasst wird, der sich gegenüber allen Weisen sperrt, ihn auf den Begriff zu bringen. Darin besteht für Th. der eigentliche Sinn von Negativität: in der Anerkenntnis einer nicht überwindbaren Nichtverstehbarkeit des Selbst und seiner Welt.
Diese generelle Absicht wird im Buch in zwei Perspektiven entfaltet: In einem ersten Teil soll die Frage beantwortet werden, wie personale Identität angemessen zu denken ist. Gemäß seiner Leitthese kann sie das freilich nur in negativer Weise, nämlich als ein allen im Denken und Handeln gesetzten Bestimmungen radikal Entzogenes.
Im Anschluss daran soll dann in einem zweiten Teil geklärt werden, welche ethischen Potentiale mit einem solchen Konzept negativer Identität einhergehen. Bei der Bearbeitung dieser beiden Problemstellungen verrät sich auch Th.s eigene philosophische Me­thodik, die sich sehr eng an hermeneutische, phänomenologische und existenzphilosophische Ansätze anlehnt. Das zeigt sich nicht nur daran, dass seine affirmativ aufgenommenen Referenzautoren alle aus diesem Bereich stammen, sondern auch an der Machart der eigenen Gedankenentwicklung. Sie vollzieht sich zu weiten Teilen als deskriptiver Nachvollzug des mit dem Ausdruck »negative Identität« ausgemachten Phänomenbestandes und wird dann vor allem im zweiten Teil mit alltagsnahen Analysen einschlägiger literarischer Beispieltexte (R. Musil, M. Houellebecq, W. Percy) un­termauert. Das sorgt nicht nur für eine spannende Lektüre, sondern deutet auch an, wie die Bedeutsamkeit des im ersten Teil ausgewiesenen Konzeptes im Sinne alltäglicher Lebenspraxis weiter bewährt werden soll. Der Titel des Buches ist damit zugleich Programm: Es geht um die Rekonstruktion der Bedingungen einer sich aus dem Unverfügbaren speisenden Lebenspraxis.
Die Bearbeitung der angezeigten Problembereiche geht im Einzelnen wie folgt vor sich: Die im ersten Teil der Arbeit entworfene »Systematik negativer Identität« (23–166) vollzieht sich überwiegend als Auseinandersetzung mit drei zeitgenössischen Philosophen, die Th. als Spezialisten in den ihn interessierenden Fragen charakterisiert (M. Theunissen, P. Ricœur, Ch. Taylor). Die Rekonstruktion ihrer Positionen erfolgt zielbewusst. Dabei ist sie von einer offenkundigen Sympathie gegenüber dem gemeinsamen Anliegen der drei Denker getragen, die Entzogenheit des Selbst gegenüber allen Versuchen zu behaupten, mit ihm wie mit einem Objekt umzugehen. Der Grund personaler Identität offenbart sich bei allen dreien somit als unverfügbarer Abgrund. Im Horizont dieses Einvernehmens wird allerdings auch nicht an Kritik gespart. Diese Kritik trifft vor allem Theunissens existenzdialektische Me­thode sowie Ricœurs Konzept der Narration. In beiden sieht Th. die »Gefahr des Zuvielverstehens« (155), mithin die Gefahr, ein »big picture« der Wirklichkeit zu etablieren. Auch Taylors Philosophie verfällt der Kritik, diese fällt im Vergleich mit den anderen allerdings recht punktuell aus. Die Pointe des Taylor-Referates besteht vor allem darin, ihn überhaupt erst als einen radikalen negativitätstheoretischen Denker zu profilieren, und zwar in einer dezidiert praktisch-philosophischen Perspektive. Das gelingt Th., indem er zeigt, wie sich der Aufbau personaler Identität bei Taylor im Lichte von moralischen Gütern vollzieht, von denen zweierlei gilt: Erstens ist ihre Bedeutung allen Weisen subjektiver Selbsttätigkeit vorgängig; zweitens sind sie als moralische Güter logisch unableitbar. Negative Identität, so wird gefolgert, ist hier also »spezifisch ethische Identität« (137). Sie bildet sich in Relation zu moralischen Gütern, deren »Geltung dem Subjekt wesentlich entzogen« (159) bleibt. Dadurch geht Negativität »sowohl in Subjektivität als auch in die moralischen Güter selbst ein« (140). An diesem Punkt angelangt, kann Th. schließlich zum zweiten Problembereich »Ne­gative Identität und Lebenspraxis« (167–266) übergehen.
Das Ziel dieses zweiten Teils besteht darin, Orientierungspoten­tiale auszuloten, die das entwickelte Negativitätskonzept impliziert. Das geschieht zunächst in einer scharfen Zurückweisung zeitgenössischer Umgangsweisen mit dem Identitätsbegriff. Ihr fällt der sozialwissenschaftliche Identitätsdiskurs ebenso zum Opfer wie die Philosophie der Lebenskunst, exemplarisch vertreten durch die Position W. Schmids. Beiden wird vorgeworfen, die radikale Entzogenheit des Selbst für dessen Selbsttätigkeit nicht radikal genug zu denken und im Zuge dessen schließlich einem abstrakten Modell des Selbst zu verfallen, das vorgibt, auf den Be­griff gebracht zu haben, was eben nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Mit diesem negativen Ergebnis endet Th. jedoch nicht. Er geht sogleich dazu über, »Vorschläge« (167) zu entwickeln, wie eine Praxis aussehen kann, die mit dem im ersten Teil Entwi­ckel­ten ernst macht. Den Ausgang bildet eine sehr gelungene Über­legung zur Phänomenalität des Nichtverstehbaren. Sie knüpft an das die drei Denker des ersten Teils verbindende phänomenologische Interesse an und sucht von da aus ein Verständnis der Phänomenologie als einer »negativen Hermeneutik« (212) zu gewinnen.
Im Anschluss an Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty skizziert Th. dabei die Konturen einer Grundhaltung, die im Zuge einer Urteilsenthaltung kulturelle Selbstverständlichkeiten entlarven und zu einer emanzipatorischen Praxis führen kann, die im Aussetzen von Vorurteilen und Verweigern von Vorbildern an ihr selbst das Unverstandene und zutiefst Fremde entdeckt. Es ist eine Praxis, die sich nicht durch die Perspektive der 3. Person beruhigen lässt, sondern den Mut hat, den verstörenden Provokationen der eigenen »Anschauung« (227) standzuhalten. Von hier aus ist es daher nur folgerichtig, wenn Th. das Gesagte in seinem zweiten Vorschlag im Sinne einer Ethik der Negativität weiterentwi­ckelt, für die das be-reits aufgewiesene »eigene Fremdsein zum Medium des Nachvollzugs fremden Fremdseins wird« (241). Seine Überlegungen münden schließlich in einer Zusammenfassung des Gesamten (267–275), die didaktisch zwar sinnvoll ist, angesichts der von ihm selbst immer wieder behaupteten Unabgeschlossenheit der phänomenologischen Beschreibung zugleich aber auch etwas kontraintuitiv wirkt.
Im Ganzen gesehen hat Th. nicht nur ein gut lesbares Buch, sondern vor allem ein lesenswertes und interessantes Buch geschrieben, in dem eine bekannte Thematik in einer originellen Absicht zur Entfaltung kommt. Dabei regen seine Überlegungen mindes­tens an zwei Stellen zum eigenen Weiterdenken ein: Erstens bleibt die gelieferte Bestimmung von Negativität betont diffus. Th. redet von Passivität, Unverfügbarkeit, Entzogenheit, Unbestimmtheit, Unmittelbarkeit, Fremdheit, und zwar ohne diese Bestimmungen, die ja Verschiedenes meinen, nochmals in ein genaues Verhältnis zueinander zu setzen. Gerade das wäre aber aus einer religionsphilosophischen/theologischen Perspektive gesehen höchst interessant.
Diese systematische Auslassung scheint freilich gewollt zu sein. Denn jede solche Verhältnisbestimmung dürfte von ihm als eine Form des »Zuvielverstehens«, als ein »big picture«, begriffen werden und ist daher unbedingt zu vermeiden. Doch, so ist zweitens zu fragen, kann auf solche Versuche, das vermeintlich Ganze zu verstehen, tatsächlich in der radikalen Weise verzichtet werden, wie gefordert? Oder wäre es nicht angebrachter, an die Stelle der rigorosen Verzichtsforderung einen Verweis auf den bloßen Bild­nis­charakter unserer Bilder von Wirklichkeit treten zu lassen? Da­mit ließe sich die entwickelte These von der prinzipiellen Uneinholbarkeit des Zu-Verstehenden für das Verstehen wahren, und es könnte gleichzeitig vermieden werden, irgendwelche Verstehensversuche schon im Vorfeld als unangemessen zu klassifizieren. Es käme dann nur darauf an, ihren Absolutheitscharakter zu bestreiten. Und das dürfte durchaus in Th.s Sinne sein (186).