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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

209-211

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Leinsle, Ulrich G.

Titel/Untertitel:

Dillinganae Disputationes. Der Lehrinhalt der gedruckten Dissertationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Dillingen 1555–1648.

Verlag:

Regensburg: Schnell & Steiner 2006. 678 S. gr.8° = Jesuitica, 11. Lw. EUR 66,00. ISBN 978-3-7954-1873-1.

Rezensent:

Klaus Unterburger

Die historische Erforschung der frühneuzeitlichen Schulphilosophie ist nach wie vor ein dringendes Desiderat, das freilich vor nicht unerhebliche Herausforderungen stellt. Mit ihr verbindet sich nicht nur ein rein wissenschaftsgeschichtliches Interesse: Vielmehr ist es jene geistige Schulung, die die Eliten der konfessionellen Gesellschaften für alle Universitätsstudien in der Regel zu ab­solvieren hatten; bei aller Abstraktheit kommt ihr so also eine enorme Breitenwirkung zu. Hinzu kommt der Umstand, dass sich die meisten Grundprobleme der neuzeitlichen und modernen Phi­losophie zunächst aus dem scholastischen Diskussionskontext heraus entwickelt haben, der somit zu einer sacherschließenden philosophiegeschichtlichen Erörterung, die der systematischen Frage bekanntlich nie rein äußerlich ist, jeweils mitzubedenken wäre. Die Beschäftigung mit der Philosophie an den frühneuzeitlichen Universitäten ist aber mit Schwierigkeiten konfrontiert: Die vorherrschende Scholastik ist wegen der großen Fluktuation der Lehrkräfte, jedenfalls an den katholischen Jesuitenuniversitäten, einerseits keine »Philosophie der Persönlichkeiten«, die jeweils durch Monographien hervorgetreten wären, andererseits aber auch kein mo­nolithischer Block, in dem es keine individuell-denke­rische Aus­gestaltung gegeben hätte. Die literarische Produktion beschränkte sich deshalb meist auf Vorlesungsmanuskripte und Disputationsthesen. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit den philosophischen Disputationen der Universität Dillingen, die 1549/1551 in durchaus gegenreformatorischer Absicht vom Augsburger Fürst­bischof gegründet und 1563 als erste reine »Jesuitenuniversität« nördlich der Alpen ganz der das katholische Bildungswesen bald dominierenden Societas Jesu übergeben wurde, welche sie als »Mus­terschule« ausgestalten wollte. Sie erfüllte neben Ingolstadt bald die Funktion einer katholischen Kaderschmiede im oberdeutschen Raum. Der Vf., Professor für philosophisch-theologische Propädeutik an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Regensburg, ist einer der ausgewiesensten Kenner der Geschichte der Scholastik.
Quellengrundlage für die philosophische Entwicklung in Dillingen zwischen 1555 und 1648 sind ihm die gedruckten Disputationsthesen (die in der Studienbibliothek Dillingen gesammelt sind). Gefragt wird etwa, wie sich in ihnen die Rezeption neuer phi­losophischer Standardwerke im Jesuitenorden widerspiegelt, ob sich die Entwicklung als Weg vom Späthumanismus hin zur Barockscholastik beschreiben lasse und wie sich neue naturwissenschaftliche Hypothesen und deren Verurteilung (vgl. den Fall Galilei 1616/1633) in ihnen widerspiegeln (23 f.). Disputationen als Möglichkeit der Wissensvertiefung wurden regelmäßig und vorlesungsbegleitend abgehalten, dazu in feierlicherer Form zu den Graduierungen zum Bakkalaureus, Lizentiaten und Magister. Diese Letzteren sind ebenso wie die feierlichen Jahresdisputationen häufig schriftlich überliefert. Der Vf. plädiert für eine vorsichtige Interpretation, da die aufgestellten Thesen zwar in der Regel den Bereich der freien disputabilia berühren, aber doch nicht in allen Fällen die Meinung des Disputanten wiedergeben müssen. Ein besonderes interpretatorisches Problem ist dabei die ausgeprägte jesuitische Ordenszensur. Unbestrittene Grundlage an den Universitäten für den Philosophieunterricht waren die Schriften des Aristoteles. Im ersten Jahr wurde die aristotelische Logik, im zweiten Jahr die naturphilosophischen Schriften und im dritten die Metaphysik gelehrt. Über die philosophische Positionierung des Ordens herrschte bei den Jesuiten jedoch in ihrem Gründungsjahrhundert ein ausgeprägtes geistiges Ringen: Zunächst mühten sich ängstlichere Geister (Jacobus Ledesma, Petrus Canisius), den Averroismus, der an vielen italienischen Universitäten vorherrschend war und teilweise auch im Orden vertreten wurde (Benet Pereira), zurückzudrängen: Sie wünschten sich detaillierte Vorschriften über die im Orden erlaubten philosophischen Positionen. Diese Bemühungen waren mit dem Ringen um eine ratio studiorum im Orden vor allem seit den 1580er Jahren verbunden; 1599 wird schließlich doch nur noch allgemein eine antichristliche Aristotelesinterpretation und ein Abweichen vom Aquinaten verboten, ein die Freiheit stark einschränkender delectus opinionum jedoch vermieden. Unruhen im Orden über den Umgang mit einzelnen Thesen wurden hierdurch aber nicht beseitigt, auch nicht die Diskussionen um die Einführung verbindlicher jesuitischer Lehrbücher, ohne dass man von der grundsätzlichen und all­gemeinen Linie abgewichen wäre; 1651 verbot man dann, eine Sammlung von 65 philosophischen Sätzen zu lehren. In Dillingen hat im untersuchten Zeitraum vor allem der philosophisch recht originelle Christoph Haunold (1610–1689) Schwierigkeiten mit der Ordenszensur bekommen; er wurde nach Ingolstadt versetzt.
Inhaltlich lassen sich einige Grundzüge der disputierten Inhalte markieren. In der Logik wurden in jesuitischer Zeit Elemente der humanistischen artes konsequent an das Gymnasium verwiesen, die Logik selbst zunehmend psychologisch als Lehre von den Verstandesoperationen konzipiert; der Ramismus fehlt weitgehend, ebenso der radikale Nominalismus in der Universalienlehre. Die Kommentierung der naturphilosophischen Schriften wurde zunehmend im Sinne regionaler Ontologien (vor allem nach 1600 unter dem Einfluss von Suárez) konzipiert, so dass wichtige metaphysische Lehrsätze bereits hier diskutiert wurden. In der Sicht der vier aristotelischen Ursachen war anfangs der skotistische Einfluss stark, später dominierte Suárez; in der gnadentheologisch wichtigen Frage des concursus der göttlichen Erstursache waren ebenfalls Suárez und Molina vorherrschend. Insgesamt entfernte man sich in der Behandlung der Physik eher von Aristoteles, etwa in der zunehmenden Voranstellung der causa efficiens. In der Kosmologie kam durch die Rezeption Pedro da Fonsecas und dann wiederum Suárez’ die Frage der Schöpfung und damit die averroistische Aristotelesinterpretation von der Ewigkeit der Welt auf die Tagesordnung. Radikale Thesen scheinen die Jesuiten hier nicht aufgestellt zu haben, immerhin wurde des Öfteren die Möglichkeit einer ewigen Schöpfung mit dem Aquinaten bejaht.
Im 17. Jh. wurde die aristotelische Position der beseelten ewigen Gestirne oft als unbeweisbare Hypothese an den Rand ge­drängt. Vorherrschend war das astronomische Weltbild des Jesuiten Chris­toph Clavius (1538–1612), doch wurde der Kopernikanismus Galileis zunächst doch positiv rezipiert, nach den Verurteilungen brach die Rezeption zeitgenössischer astronomischer Theorien weitgehend ab. Abgelehnt wurde mit Papst Sixtus V. die Astrologie und zunehmend auch die prognostische Funktion von Kometen. Werden und Vergehen interpretierte man grundsätzlich nach den aristotelischen Dynamis-Energeia- bzw. Substanz-Akzidenz-Schemata. Der Atomismus wurde in Dillingen nicht vertreten. Eine weitgehende aristotelische Naturalisierung des Magie-Verständnisses führte noch zu keiner grundsätzlichen phi­losophischen Ablehnung der Möglichkeit von Hexerei. Die zahlreichen Dis­putationen über De anima berührten kaum noch die in der Renaissance heftig diskutierten Einwände gegen die individuelle Unsterblichkeit der menschlichen Geistseele. Die Entscheidung des 5. Laterankonzils und ordensinterne Vorschriften ließen hier wenig Spielraum. Averroistisches und nominalistisches Gedankengut ließ in der frühen Phase am ehesten noch der Pereira-Schüler Anton Balduin (1533/43–1585) erkennen.
Naturwissenschaftliche Erkenntnisse etwa Christoph Scheiners SJ (1575–1650) über die Funktionsweise des menschlichen Auges wurden durchaus rezipiert; auch sonst wurde moderne medizinische Literatur herangezogen, auch wenn die aristotelische Grundorientierung blieb. Ethik und Politik nahmen im jesuitischen Studienprogramm nur einen geringen Raum ein, doch setzte man sich von der aristotelischen Tugendlehre aus mit dem Neostoizismus der Zeit auseinander und bekämpfte in der Politik Machiavelli und frühabsolutis­tische Tendenzen. Als letzte Hauptdisziplin fiel die Metaphysik nicht mehr in den Zeitraum der Jahresdisputationen, zudem wurden viele metaphysische Prinzipien bereits in der Naturphilosophie behandelt. Auch hier lässt sich jedoch zunächst eine Rezeption Fonsecas und mit einer gewissen Verspätung (ab 1610) diejenige von Suárez konstatieren. Die distinctio realis zwischen Essenz und Existenz der strengen Thomistenschule wurde im Rückgriff auf diese Autoren (und vorher auf Duns Scotus) abgelehnt. Eine ähnliche Entwick­lung lässt sich in der Lehre vom Individuationsprinzip feststellen. Die Aristoteleskommentierung wurde zunehmend von einer mehr systematisch gelesenen Metaphysik abgelöst. Zwischen 1617 und 1625 vertraten vier Disputanten in Dillingen das Konzept einer biblischen philosophia sacra, mit der sich die Meinung der Ergänzungsbedürftigkeit der aristotelischen Philosophie durch biblische Prinzipien bzw. einer teleologisch-theozentrischen Naturauffassung verband, aufs Ganze also eine Randerscheinung.
Nur einige Elemente des Fazits der facettenreichen Studie können herausgestellt werden. Trotz der Ordenszensur lässt sich durchaus ein breiter Freiraum der wissenschaftlichen Theoriebildung konstatieren. Die Einführung wichtiger jesuitischer Lehrbücher markierte jeweils einen Teilumbruch der gemeinhin vertretenen Theorien, so vor allem seit 1568 die Logik Fonsecas, nach 1586 dessen Metaphysikkommentar und ab 1610 die Disputationes Metaphysicae Francisco Suárez’. Christoph Haunold brachte ab 1642 die wichtigen neueren Diskussionen über göttliche Ursächlichkeit und menschliche Freiheit vom Collegium Romanum an die Donau. Obwohl grundsätzlich aristotelisch, lässt sich eine Entwicklung von einer humanistischen Aristotelesphilologie zu einer systematischeren Form der Schulphilosophie konstatieren; auch Theoremata, die Aristoteles fremd wa­ren, wurden rezipiert. Das Ende des Späthumanismus möchte der Vf. etwa 1617 ansetzen; seither dominierte die spanische Scholastik. Zu wünschen wären parallele Studien zu anderen Universitäten derselben Epoche, vor allem aber die Fortsetzung des Werks durch den Vf. für den Zeitraum von 1648–1773. Gerade im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Naturwissenschaft könnte unser Wissen von der Durchsetzung der Aufklärung und der modernen Naturwissenschaft an den noch konfessionell geprägten Universitäten so erheblich erweitert werden.