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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

206-209

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hersche, Peter

Titel/Untertitel:

Muße und Verschwendung. Europäische Ge­sellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Erster u. zweiter Teilbd.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder Verlag 2006. 1206 S. 8°. Lw. EUR 78,00. ISBN 978-3-451-28908-8.

Rezensent:

Klaus Unterburger

Der emeritierte Berner Professor für neuere und allgemeine Ge­schichte hat mit dem anzuzeigenden monumentalen Werk nicht nur eine synthetische Zusammenfassung und Weiterentwicklung der eigenen Forschungspositionen und -resultate vorgelegt, sondern eine beeindruckende Gesamtschau des west-, mittel- und südeuropäischen Katholizismus in der Frühen Neuzeit in sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive, die nicht zuletzt auf Grund der Fülle der verarbeiteten Literatur ihres Gleichen suchen dürfte. Zugleich ist sie ein gewaltiger Gegenschlag zu der von Wolfgang Reinhard vertretenen und weitgehend inzwischen rezipierten antiborussischen Theorie des direkten und indirekten Modernisierungsschubs durch die tridentinische Reform im Katholizismus.
Ausgangspunkt ist für den Vf. die These Max Webers vom Zu­sam­menhang zwischen Kapitalismus und Protestantismus, vor allem dem Calvinismus. Dieser habe den modernen Menschen mit seiner Selbstdisziplinierung und seiner Betonung von Arbeit und Sparsamkeit geprägt; umgekehrt sei bereits Zeitgenossen, vor al­lem in den Reiseberichten des 18. Jh.s (einer Hauptquelle des Vf.s) die wirtschaftliche Rückständigkeit der katholischen Territorien aufge­fallen.
Der Vf. konzipiert zur Charakteristik dieser katholischen Le­bensform, zu der Weber persönlich durchaus sehnsuchtsvolle Affinitäten entwickelt habe, den etwas missverständlichen Begriff der »intendierten Rückständigkeit«: Nicht Arbeit und Sparsamkeit, sondern »Muße« und »Verschwendung« seien oberste Lebensprinzipien gewesen. Bis zur Aufklärung habe der religiöse Primat in den katholischen Gesellschaften eine antikapitalistische Ge­gen­welt entstehen lassen, in der Geistliches und Weltliches noch eine enge Symbiose eingegangen sind. Ihr Gewicht gewinnt diese These, in­dem sie in aller Schärfe den zentralen Schwachpunkt der Konfessionalisierungsthese für die katholischen Territorien herauszustellen sucht: die weitgehende Vergeblichkeit, da mangelnde Um­setzung der tridentinischen Reformbeschlüsse. Kaum eines der Trienter Reformdekrete wurde tatsächlich und langfristig exekutiert; wäre die tridentinische Reform umgesetzt worden, so hätte es schon gar kein harmonisches Zusammenwirken zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt gegeben, sondern wären gegenüber den Staaten die Bischöfe als konkurrierende Instanz gestärkt worden. Vielmehr sei, so der Vf., die untridentinisch geprägte Barock­kultur (umfassend in sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive) entstanden, faktisch ein katholischer Ge­genentwurf zur Moderne.
»Ba­rock« sei durch die Dominanz des Kulturell-Religiösen und der Kirche gegenüber einer wirtschaftlichen Orientierung gekennzeichnet (vgl. 943–947), wobei die spezifische Religiosität noch stark vom populären do-ut-des-Prinzip durchzogen sei. Für den Katholizismus der französischen Kerngebiete (»klassizistischer Katholizismus«, partiell auch in Savoyen-Piemont) postuliert der Vf. wohl zu Recht auf Grund verschiedener modernisierend und dechristianisierend wirkender Faktoren eine gewisse (antibarocke) Ausnahmestellung in Richtung auf den Protestantismus hin (vgl. 124–146). Etwas zu pauschal wird man hingegen die Angriffe auf die Kirchengeschichtsschreibung, die die Wende zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte kaum mitvollzogen habe, und auf die deutschsprachige Sozialgeschichtsschreibung des frühneuzeitlichen Katholizismus (einseitige Orientierung an normativen Quellen) finden. Spezifische Forschungsinteressen und eine gewisse Einseitigkeit in der Quellenauswahl wird man dem Vf. ebenfalls vorhalten können: Im Bestreben, Mentalitäten und kulturelle Leitmotive jenseits normativer Quellen zu eruieren, ist er vor allem auf die Beschreibungen der Reisenden und der Aufklärer des 18. Jh.s angewiesen. Inwieweit die katholische Rück­ständigkeit auch ein Produkt von deren interessegeleitetem Blick darstellt, ist eine derjenigen Fragen, die man an diese Studie stellen muss.
Für die Sozialgeschichte der katholischen Gesellschaften konstatiert der Vf. die Attraktivität des Katholizismus für die bäuerlichen und die adeligen Schichten, andererseits den relativen Bedeutungsverlust des Bürgertums im betreffenden Zeitraum (Refeudalisierung vor allem in Italien). Während der protestantische Geistliche die bürgerliche Welt, der er meist entstammte, repräsentierte, haben die wesentlich zahlreicheren (und in ihrer Zahl meist noch zunehmenden) geweihten katholischen Priester der agrarisch-feudalen Welt des Barock entsprochen. Charakteristisch sei die enorme soziale Stufung des katholischen Klerus mit einem ausgeprägten Klerusproletariat gewesen. Grundlage war die Benefizialstruktur, bedeutende Anteile der agrarisch genutzten Fläche waren in kirchlichem Besitz. Als »spezifisch katholische« Lebensform charakterisiert der Vf. die Klöster und Orden. Diese hatten eine ausgeprägte Versorgungsfunktion, die soziale Rekrutierung entsprach – wie beim Weltklerus – der gesamtgesellschaftlichen Schichtung. Sie er­füllten zahlreiche weltliche (Bildung, Karitas, Kredite) und geistliche Aufgaben, wobei gerade der Or­densklerus populäre Frömmigkeitsformen propagierte und unterstützte. Laien übten über das Stiftungs- und Patronatsrecht bedeutende Rechte aus, dazu wirkten sie in den Pfarreien über die Kirchenpfleger an der Vermögensverwaltung mit. Für die Organisation der laikalen Frömmigkeit waren die Bruderschaften von herausragender Bedeutung, be­sonders in Italien und Spanien. Sie versprachen ihren lebenden und verstorbenen Mitgliedern Anteil an den geistlichen Gnadengaben und betätigten sich sozial-karitativ und als Kunstmäzene. Dazu bedienten sie durch Prozessionen und bestimmte Andachtsformen das Repräsentationsbedürfnis und waren zentrale Agenten der Vergesellschaftung, wobei die kirchliche Hierarchie weltliche Elemente zurückdrängen wollte. Immer wieder – auch in der Analyse der katholischen Alltagsreligiosität – sichtet der Vf. eine Kombination aus »geistlichen« und »weltlichen« Elementen und Funktionen.
Wirtschaftsgeschichtlich sucht der Vf. im Gefolge Max Webers und Alfred Müller-Armacks den Einfluss der Konfession als entscheidenden Faktor für die Ausbildung eines spezifischen »Wirtschaftsstils« eines Territoriums nachzuweisen; Kronzeugen sind ihm auch hier die aufgeklärten protestantischen Reiseberichte des späten 18. Jh.s. Für die Katholiken sei eine »agrarische Mentalität« (457) bestimmend geblieben, die Landwirtschaft war auch jener Bereich, in welchem von einer Inferiorität der katholischen Territorien keine Rede sein konnte. Während es gerade in Italien im 17. Jh. zu einer Reagrarisierung gekommen sei, seien Manufakturen und im Verlagssystem organisierte Heimarbeit nahezu ausschließlich im protestantischen Bereich entstanden. Nach Meinung des Rezensenten ließen sich bei genauerem Hinsehen hier aber auch einige Gegenbeispiele anfügen. In den katholischen Gebieten seien der Handel und der Stand der Kaufleute – so der Vf. – auf wesentlich größere Vorbehalte gestoßen als in den evangelischen Ländern. Lange Zeit fungierten im Katholizismus geistliche Institutionen als wichtigste Kreditgeber, ein ganz erheblicher Anteil an Kapitalien floss in das Stiftungswesen und damit in die Förderung der Kunst und in den Erwerb geistlicher Gnadengüter. Das Sparen und Anhäufen von Geld sei zuerst im Calvinismus legitim geworden, während im Ka­tholizismus die magnanimitas und damit die Verschwendung vorherrschend geblieben sei, was sich vor allem im Kirchenbau und in der Gestaltung regelrechter »Sakrallandschaften« ausdrückte. Er­heb­liche Geldsummen flossen so in den sakralen Prunk und die ostentative Verschwendung. Hinzu kommt der Umstand, dass die Katholiken an der neuzeitlichen (protestantischen) Arbeitsethik, die die Arbeit zum Selbstzweck erhoben habe, kaum Anteil gehabt hätten. Vielmehr habe sich dort die Mußepräferenz in der wesentlich höheren Zahl der Feiertage (Urlaub in der alten Zeit, der dem agrarischen Jahr weitgehend entsprochen habe) und in der ausgebildeten geistlich-weltlichen Festkultur niedergeschlagen.
Mentalitätsgeschichtlich sucht der Vf. plausibel zu machen, dass die Sozialdisziplinierung von oben in den katholischen Territorien an einem fundamentalen Vollzugsdefizit gescheitert sei. Nicht nur die tridentinische Reform sei kaum exekutiert worden, das Militär sei als sozialdisziplinierender Faktor wesentlich schwächer als im Protestantismus gewesen, die Beichte habe im Gegensatz zu ihrer »Entlastungs«- nur eine marginale disziplinierende »Kontroll«-Funktion besessen. Auch die Inquisition und das geistliche Gericht seien vergleichsweise ineffizient und milde gewesen. Bedeutende konfessionelle Unterschiede bestanden zwischen Calvinismus und Katholizismus in der Propagierung von Körperhygiene, in der Beurteilung des Tanzes, in der Effektivität von Sitten- und Ehezucht und in der Anwendung der Geburtenkontrolle. Für Katholiken sei das Leben »in den Tag hinein« viel länger charakteristisch geblieben, zumal das Geldsparen in der agrarischen Welt ohnehin wenig Sinn gehabt hätte, da der Grundherr Überschüsse weitgehend abschöpfte. Das andere Zeitgefühl drücke sich allein schon in der Tatsache aus, dass Uhrmacher in der Regel Protestanten waren. Während die Calvinisten Katastrophen früh mit natürlichen Überlegungen zu begegnen suchten, blieb für Katholiken die Flucht in die Übernatur bestimmend. Bis zur Aufklärung waren der Bettel und die private Mildtätigkeit integraler Bestandteil der katholischen Gesellschaften, während man im Protestantismus diesem rasch durch eine or­ganisierte, zentralistische Armenfürsorge be­gegnen wollte. Vor allem aber sei die Wallfahrt im Katholizismus der Ort der religiösen und weltlichen »Freizeit« gewesen, um den sich eine ganze seelisch-leibliche Ökonomie in großer Dichte ge­rankt habe.
In einem letzten Teil zeichnet der Vf. das weitere Schicksal der Barockkultur nach, die von der katholischen Aufklärung bekämpft worden sei, in zentralen Elementen aber bis ins 20. Jh. zum Teil fortgelebt habe und erst nach dem II. Weltkrieg und durch die kirchlichen Reformen im Gefolge des II. Vatikanums dem Untergang geweiht worden sei. Dieses Opus magnum besticht durch die Geschlossenheit der Konzeption, die eingängige Sprache und die Fülle der verarbeiteten Literatur. Man wird freilich fragen müssen, wie stark die Sichtweise des aufgeklärten Reisenden um 1800 sein Bild des Katholizismus geprägt hat, auch wenn der Vf. die Vorzeichen dann gleichsam umdreht und dessen Lebenswert hervorkehrt. Ist seine Sicht des Calvinismus nicht zu stark an den dortigen bürgerlich-kaufmännischen Eliten orientiert? In welchem Maß ist der nicht zu leugnende Unterschied der konfessionellen Territorien primär durch religiöse Mentalitäten und in welchem Maß durch wirtschaftliche und soziale Faktoren bestimmt? Was bedeutet die Tatsache, dass die Reformation von Beginn an ein urban event gewesen ist, der Anteil des Stadtbürgertums im Protes­tantismus also von Beginn an schon höher war? Wie sähe die Sache aus, wenn man die protestantischen Territorien Nord- und Osteuropas einbezogen hätte, die ja bekanntlich strukturell wesentlich konservativer waren?