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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

204-206

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hahn, Joachim

Titel/Untertitel:

Zeitgeschehen im Spiegel der lutherischen Predigt nach dem Dreißigjährigen Krieg. Das Beispiel des kursächsischen Oberhofpredigers Martin Geier (1614–1680).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 227 S. m 1 Kt. gr.8° = Herbergen der Christenheit. Sonderband, 9. Kart. EUR 14,80. ISBN 3-374-02294-4.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

Der sächsische Oberhofprediger Martin Geier (1614–1680) versah in Dresden die angesehenste theologische Stelle Sachsens. Obwohl er einer der bedeutendsten lutherisch-orthodoxen Prediger war, zählt er zu jenen Theologen, »die weniger durch eine öffentliche theologische Diskussion, als vielmehr durch ihre Predigttätigkeit das kirchliche Leben auf der Gemeindeebene in nicht unerheblichem Maße prägten« (15). Die Beschäftigung mit diesen Theologen und ihrer Predigttätigkeit ist aus mehreren Gründen von besonderem Interesse. Erstens kann durch die Analyse der Predigten die Auseinandersetzung der lutherischen Orthodoxie mit den alltäglichen Lebensrealitäten rekonstruiert werden. Diese Rekonstruktionen tragen zweitens zu einer differenzierten Sicht der luthe­rischen Orthodoxie bei und korrigieren somit die üblichen Vor­ urteile. Drittens tritt am Beispiel von Martin Geier auch das Hofpredigeramt mit seinen spezifischen Aufgaben und Herausforderungen in den Blick. Viertens schließlich dokumentieren zahlreiche lutherisch-orthodoxe Predigten aus der zweiten Hälfte des 17. Jh.s unverkennbar Bezüge zu Pietismus und Frühaufklärung. Die ideengeschichtlich begründeten Abgrenzungen verlieren auf der Ebene pastoraler Verkündigung und Praxis ihre Eindeutigkeit.
Diese kirchenhistorische Arbeit entstand in den Jahren 1987–1990 unter der Leitung von Helmar Junghans an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Für die Drucklegung wurde sie nicht überarbeitet. Der Vf. begründet diesen Verzicht mit der unzutreffenden Aussage, dass seit der Fertigstellung der Arbeit »kaum neue Forschungsergebnisse vorgelegt« worden seien, »die eine Berücksichtung verlangen könnten« (13). Damit blendet der Vf. beispielsweise die vielfältigen und für das Thema der Arbeit durchaus relevanten Debatten über die Thesen der Sozialdisziplinierung oder der Konfessionalisierung aus. Diese Entscheidung deckt sich allerdings mit seinem methodischen Ansatz, der sich als ein theologiegeschichtlicher versteht. Die Untersuchung, die »das Beziehungsfeld zwischen orthodoxer Theologie und den politischen, kirchenpolitischen, sozialen, naturwissenschaftlichen und allgemein geistes­geschichtlichen Vorgängen der Zeit unter besonderer Be­rück­sich­tigung ihrer dynamischen Elemente durchsichtig zu machen und den Grad der Einbindung des predigenden Theologen in dieses Beziehungsfeld zu bestimmen« beabsichtigt (16), verzichtet weitgehend auf eine interdisziplinäre Perspektive.
Die gut lesbare Arbeit gliedert sich in vier Kapitel: Zunächst skizziert der Vf. im ersten Kapitel die Erforschung der Predigt nach dem Dreißigjährigen Krieg, um daran anschließend eine sehr knappe Biographie Geiers zu bieten. Das dritte Kapitel widmet sich dem Predigtwerk Geiers. Das vierte Kapitel schließlich, das vier Fünftel der Untersuchung umfasst und besser nochmals unterteilt worden wäre, untersucht die Frage, wie sich das Zeitgeschehen in den Predigten Geiers widerspiegelt. Dabei geht der Vf. systematisierend vor und entfaltet seine Fragestellung wiederum in vier Teilen: Er fragt erstens nach der Verarbeitung des Dreißigjährigen Krieges sowie nach Krieg und Frieden in den Predigten, bevor er zweitens Geiers Sicht der »sittlichen und sozialen Gegebenheiten« beschreibt. Der dritte Teil wendet sich der Obrigkeit und dem Hof zu. Abschließend thematisiert der Vf. die natürliche Umwelt, die Naturkunde und das Weltbild.
Auch wenn die Interpretation der Predigten mehr Deutungstiefe aufweisen dürfte, so bietet sie doch erhellende Einsichten in die Gedankenwelt eines orthodox lutherischen Geistlichen. Beispielsweise sind folgende Tendenzen in den Predigten Geiers zu erkennen: Zum einen werden säkularisierende und individualisierende Tendenzen hinsichtlich der Eschatologie evident, die sich als theologische Aufwertung der innerweltlichen Vorgänge manifestieren. Der in dem Kontext eines »komplexen Normenumbruchs« (118) entwickelte Ruf nach Besserung verweist einerseits auf die Pädagogik der Frühaufklärung und des Pietismus; andererseits ist er Ausdruck gewachsener theologisch-ethischer Ansprüche. Durch das Beispiel des Predigers Geier lässt sich zum anderen die These widerlegen, dass die lutherische Orthodoxie von einem Defizit an ethischem Willen geprägt gewesen sei. Die Untersuchung belegt nämlich – wie andere inzwischen auch – die Sensibilität orthodoxer Theologen für ethische und soziale Probleme. Diese soziale Verantwortung zeigen auch Geiers obrigkeits- und hofkritische Predigten, in denen neben gesellschafts- und zivilisationskritischen Aspekten auch herrschaftskritische As­pekte deutlich werden. Deshalb kann die Predigt des späten 17. Jh.s nicht allein auf ihre Funktion als obrigkeitliches Sprachrohr reduziert werden. Die »durch den biblischen Auftrag und das geistliche Amt geschützte Predigt« ist vielmehr ein zentraler »Restfreiraum für ein Kirchenwesen …, dessen Eigenständigkeit durch die enge strukturelle Verflechtung mit der Obrigkeit stark eingeschränkt worden war« (119). Unverkennbar sind drittens auch rationalisierende Tendenzen innerhalb der Predigten, die ebenfalls auf die Aufklärung verweisen. Geier setzte sich nicht nur mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinander, sondern verbreitete diese auch.
Dem Vf. ist es durchaus gelungen, ein differenziertes Bild lu­therischer Predigten aus der zweiten Hälfte des 17. Jh.s zu zeichnen. Allerdings hätten manche Beobachtungen und Aspekte, wie zum Beispiel der Gebrauch des Begriffs »Vernunft« bei Geier, durchaus mehr interpretatorische Aufmerksamkeit verdient. Problematisch erscheint in historiographischer Perspektive das qualifizierende Kriterium des »echt lutherischen Gedankenguts« (172). Es ist ein Beispiel für die Spannung zwischen dem historischen und dem theologisch-methodischen Zugriff, die diese Arbeit durchzieht.