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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

202-204

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Gerhard, Johann

Titel/Untertitel:

Exercitium Pietatis. Quotidianum Quadripartitum (1612). Lateinisch-deutsch. Kritisch hrsg., kommentiert u. m. e. Nachwort versehen v. J. A. Steiger. M. e. Textanhang: Sämtliche Choräle aus Friedrich Fabricius’ Praxis Pietatis Gerhardi melica (1688).

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2008. 518 S. 8° = Doctrina et pietas. Abt. I: Johann Gerhard-Archiv, 12. Lw. EUR 478,00. ISBN 978-3-7728-2427-2.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Die Widmungsvorrede zu diesem Gebetbuch Johann Gerhards aus dem Jahr 1612 hebt mit einem langen Loblied auf ein gläubiges und rechtschaffenes Gebet an, das in Anlehnung an Johann Arndts Charakteristik des Gebetes aus dem zweiten Buch des wahren Chris­tentums, Kapitel 36, formuliert ist, worauf G. auch hinweist: »Denn ein gläubiges und rechtschaffenes Gebet / ist ein freundliches Gesprech mit Gott / unnd eine heilsame Artzney in aller noth / ein Schlüssel deß Himmelreichs unnd eröffnung deß Paradises / die Zinse welche wir auß unterthenigkeit Gott dem Herrn zugeben schuldig seyn / und die Leyter / auff welcher wir zu Gott auffsteigen ...« (11, 13). Diese Berufung auf Johann Arndt, seinen väterlichen Freund, ist dem zur Zeit der Abfassung dieses Gebetbuches erst 30-jährigen G. eine selbstverständliche Verpflichtung, waren doch 1610 die »Vier Bücher vom wahren Christentum« erstmals insgesamt in Magdeburg erschienen und kam Arndts Gebetbuch »Paradiesgärtlein« ebenfalls im Jahr 1612 heraus. Es ist für uns Heutige immer wieder erstaunlich, welch weite Verbreitung die Meditations- und Gebetbücher aus dem Anfang des 17. Jh.s gefunden haben und welche internationale und überkonfessionelle Wirkung sie erzielten. Allein für G. sei an sein erfolgreichstes Werk erinnert, die »Meditationes Sacrae« (1606/07, ebenfalls Lateinisch-deutsch von J. A. Steiger kritisch herausgegeben, Doctrina et pietas I, 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000). Im 17. Jh. können insgesamt 115 Auflagen in zwölf Sprachen festgestellt werden, was sogar die immense Verbreitung des »Wahren Christentums« von Johann Arndt in diesem Zeitraum übertrifft (Ernst Koch, Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard, PuN 13 [1987], 25–46, 41.). Die »Tägliche Übung der Gottseligkeit«, das Exercitium pietatis, erreichte bis zum Ende des 17. Jh.s 45 Auflagen und erschien ebenfalls in zahlreichen Übersetzungen in europäischen Sprachen, man kann es »als einen wichtigen Meilenstein innerhalb der Geschichte der frühneuzeitlichen Gebetsliteratur und -frömmigkeit bezeichnen (J. A. Steiger im Nachwort, 490).
Im Jahr 1611 erlebte G. schwere seelische Erschütterungen. Sein erster Sohn war kurz nach der Geburt verstorben und bald darauf starb seine erste Frau. Der Heldburger Superintendent leistete Trauerarbeit mit der Veröffentlichung des »Enchiridion consolatorium« (1611) und mit dem hier zu bedenkenden »Exercitium pietatis«. In seinem Nachwort zur Druck- und Wirkungsgeschichte des Exercitium macht Steiger darauf aufmerksam, »daß Gerhard offenbar der erste lutherische Theologe ist, der die Wortverbindung ›Exercitium pietatis‹ als Buchtitel verwendet, während sie im rö­misch-katholischen Bereich schon früher belegt ist« (503). Nach der Veröffentlichung von G.s Gebetbuch haben jedoch mehrere lutherische Schriftsteller diesen Titel für ihre Werke verwandt, meist ohne sich auf G.s »Exercitium« zu beziehen.
Das »Exercitium pietatis« wird in dieser bewährten, sehr dankenswerten, aber auch recht teuren Reihe der Doctrina et pietas nach den jeweiligen Erstdrucken ediert (Coburg 1612). Hinsichtlich textkritischer Absicherung werden die jeweiligen spätesten Dru­cke noch zu G.s Lebzeiten kollationiert und deren Varianten im kritischen Apparat dargeboten.
Offenbar bildet die Publikation des »Exercitium« 1612 den Schluss­punkt einer Art Trilogie, indem G. schon in jungen Jahren ein Meditations-, ein Trost- und ein Gebetbuch veröffentlichte. Darauf lassen Beobachtungen schließen, dass er schon zum Zeitpunkt der Drucklegung der »Meditationes« ein Gebetbuch im Blick hatte (Nachwort, 500). Allerdings haben sich bislang keine Hinweise in G.s Briefen auf seine Arbeit am »Exercitium« finden lassen. Auch Angaben zu den älteren lutherischen Gebetbüchern z. B. von Andreas Musculus, Johann Habermann oder Daniel Kramer fehlen. Auffallend aber ist seine gleich am Anfang erfolgte Berufung auf Johann Arndt. Steiger macht nun in seinem Nachwort auf den seltsamen Tatbestand aufmerksam, dass G. in der letzten zu seinen Leb­zeiten erschienenen Ausgabe der deutschen Fassung des »Exercitium« (1628) die Bezugnahme auf den Namen Arndt streicht, allerdings ohne dass er auf das lange Zitat aus Arndts »Wahrem Christentum« verzichtet. Zudem ist in der lateinischen Fassung der Name Arndts stehen geblieben. Daraus schließt nun Steiger: »Gleichwohl dürfte dies ein deutlicher Ausweis des Umstandes sein, daß sich Gerhard, der mit der ›Schola pietatis‹ bekanntlich Arndts ›Wahres Christentum‹ ersetzen wollte, zunehmend von Arndt distanziert hat, je stärker dessen Schriften im Kontext des mystischen Spiritualismus Rezeption erfuhren.« (502 f.) Hier möchte ich Fragezeichen setzen. Dass G.s »Schola pietatis« Arndts »Wahres Christentum« ersetzen wollte, kann m. E. keineswegs so eindeutig gesagt werden. G. setzte mit seiner umfangreichen »Schola pietatis« (1622) einen anderen Schwerpunkt als Arndt, indem es ihm vor allem um eine rechte di­daktische Anleitung zur vera pietas ging, wie es schon der Titel bezeichnet, während Arndt auf die Beschreibung der wahren Gottseligkeit den Hauptakzent legt. G.s Brief an Aegidius Hunnius d. J. vom 2.2.1625, der für die Distanz G.s zu Arndt oft ins Feld geführt wird, eignet sich dafür kaum. Die aufgebrochenen Streitigkeiten um Arndts »Wahres Christentum« in Danzig, Tübingen und anderen Orten ließen es G. jedoch geraten erscheinen, auf dogmatische Unanfechtbarkeit zu setzen und keine problematischen Formulierungen wie Arndt zu benutzen (z. B. Valentin Weigel und Paracelsus), dem es damit jedoch immer um die Förderung der wahren Gottseligkeit gegangen sei, wie G. ausdrücklich vermerkt.
Wie die »Meditationes sacrae« hat auch das »Exercitium pietatis« die Produktion geistlicher Lyrik angeregt. Der Stettiner lutherische Pfarrer Friedrich Fabricius (1642–1703) hat den gesamten deutschen Text des »Exercitium« erneut drucken lassen und zu jedem Gebet G.s einen Choral gedichtet mit Hinweisen, nach welcher bekannten Melodie er zu singen sei. Dieser umfangreiche Textanhang (über 200 Seiten) zu der Ausgabe des »Exercitium« ist besonders eindrucksvoll und interessant, zeigen doch diese knapp und klar konzipierten Choraldichtungen, wie eng das Verhältnis zwischen den Gebeten G.s und den Chorälen des Fabricius ist. Mit Recht sagt Steiger, »daß dieses Werk ein wichtiges Dokument nicht nur der Wirkung Gerhards auf die geistliche Lyrik, sondern überhaupt der barocken Frömmigkeitskultur des Luthertums auf den Kirchengesang darstellt« (508).
Erstmals wird hiermit ein bedeutendes, auch unter Fachleuten höchst selten bekanntes lutherisches Gebetbuch der nachrefor­matorischen Zeit in historisch-kritischer Edition zugänglich g­e­macht, was für die Frühneuzeitforschung hinsichtlich der Ge­betsliteratur zweifellos einen beachtlichen Gewinn bedeutet, aber vielleicht auch hier und dort zum persönlichen Gespräch mit Gott anregen möge. – Register über die Lieder, Listen der Emendationen im lateinischen und deutschen Text und Textanhang sowie Bibelstellenregister, Quellen- und Literaturverzeichnis, Personen- und Abkürzungsverzeichnis beschließen die Edition.