Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

200-202

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Dürr, Renate

Titel/Untertitel:

Politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden 1550–1750.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006. 422 S. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 77. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-579-01647-4.

Rezensent:

Johannes Wischmeyer

Wie und unter welchen Voraussetzungen handelten Gruppen und Individuen – Laien wie Geistliche – im Kontext des frühneuzeitlichen territorialen Kirchenwesens? Die Habilitationsschrift der Kasseler Frühneuzeitlerin Renate Dürr bearbeitet diese Fragestellung in Form einer Fallstudie zu den Territorien der Stadt und des sog. Kleinen Stifts Hildesheim. D.s Ziel ist es, die Dimensionen des frühneuzeitlichen ›Kirchenraums‹ zu vermessen – ein unglücklich ge­wählter Begriff: Eine Formel wie ›kirchlicher Raum‹ hätte bereits im Titel deutlicher zum Ausdruck gebracht, dass es um weit mehr als um Gebäude geht, nämlich um eine umfassende Rekonstruktion und Analyse der Handlungskontexte, Handlungsmuster und -optionen in den verschiedenen Dimensionen von Gotteshaus, kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde sowie territorialem Kirchenwesen.
Die Konzeption der Studie kombiniert zwei Theorieansätze: zunächst die gegenwärtig in den Historischen Kulturwissenschaften hoch gehandelte Theorie des sozialen Raumes von Martina Löw. Raum wird hier verstanden als Ensemble von Anordnungen so­zialer Güter, wobei die derart entstandenen kulturellen Zu­schrei­bungen teils konsensualer, teils konfligierender Art allmählich, zu Konventionen oder Werten verdichtet, abgelöst von situativen Handlungsbezügen wiederum prägend auf Wahrnehmungen und Handlungen einwirken können. Viel wichtiger für den Ertrag der Arbeit ist der zweite Ansatz: die Frage nach der ›Politischen Kultur‹, die sich in den beobachteten Prozessen dokumentiert. Unter der Voraussetzung, dass Autoritätskonflikte im kirchlichen Kontext in vielfacher Wechselwirkung mit allgemeinen gesellschaftlichen Konflikten standen, muss der kirchliche Raum als Teil der lokalpolitischen Öffentlichkeit verstanden werden. Nur einer umfassenden Sicht der »politischen Kulturen« einer Gemeinde (29), so D., kann es gelingen, die im kirchlichen Raum mobilisierten Herrschaftsansprüche und Partizipationsmodelle korrekt zu deuten. Die enge Zusammengehörigkeit von Religion und Politik in der Frühen Neuzeit macht es dabei einsichtig, dass die vielen und teilweise divergierenden theologischen Normen und religiösen Konventionen we­sentlich das kulturelle Bezugssystem prägten, aus dem sich die politischen Handlungsoptionen der drei Stände (Geistlichkeit, Adel, Gemeinde) herleiteten. Der ›Kirchenraum‹ also als ein (nicht der: auch der Obertitel ist irreführend) Bestandteil der ›Politischen Kultur‹ in der Frühen Neuzeit. Die anspruchsvolle Theorieperspektive dominiert D.s Untersuchungsgang allerdings nur selten und kann auch nicht bei allen behandelten Themen Wirksamkeit entfalten – die Studie bleibt vielmehr im Zweifel quellennah.
D.s Kernthese ist, dass im kirchlichen Raum alle drei Stände bis in die erste Hälfte des 18. Jh.s in vielfältiger Weise aktiv ihre Mitwirkungsmöglichkeiten wahrgenommen haben (35). Entsprechend der konfessionellen Struktur der untersuchten Gebiete geht es vor allem um lutherische Gemeinden, im ländlichen Stiftsgebiet werden aber auch katholische – teilweise rekatholisierte – Orte einbezogen, so dass etwa in Fragen der Ausgestaltung des Kirchenraums, der Pfarrereinsetzung und der Beichtpraxis Konfessionsvergleiche und die Frage nach interkonfessionellen Wechselwirkungen möglich werden. Zusätzlich interessant sind Stadt und Stift Hildesheim durch den Umstand, dass sich hier auf Grund der unübersichtlichen Herrschaftsverhältnisse typische Institutionen ›harter‹ Konfessionalisierung wie eine zentrale Konsistorialbehörde nur sehr verzögert und unvollkommen ausbilden konnten, mithin im öffentlichen Raum mehr Platz für die Austragung von politisch-theologischen Grundsatzkonflikten blieb. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Territorien ist hierdurch allerdings in Frage gestellt.
Zunächst geht es um die materielle und ideelle Ausgestaltung lutherischer und katholischer Kirchenräume im eigentlichen Sinne des Wortes (Teil B, 62–118). Die Vorzüge einer raumbezogenen Fragestellung werden hier augenfällig. Auf der Basis einer kunst­historisch informierten Übersicht über alle Kirchengebäude im Stadt- und Landgebiet Hildesheims macht D. noch einmal darauf aufmerksam, wie bunt und ausstattungssatt sich auch die lutherischen Kirchen der Frühen Neuzeit präsentierten. Lutherische Bildprogramme entwickelten sich; Orgel, Altar und Glocken bildeten Schwerpunkte der gemeindlichen Investitionstätigkeit. Lutheraner wie Katholiken, so D., sahen die Kirche in Anlehnung an den Salomonischen Tempel als Wohnstätte Gottes; Kanzel und Altar rückten bei beiden Konfessionen im Einklang mit einer Zentrierung auf die Person des Geistlichen in den Mittelpunkt. Differenziert würdigt D. auch die Unterschiede, die in puncto Sakralitätsstatus des Kirchenraums, Sakramentspraxis und gemeindlicher Partizipation bestanden; doch eine echte Auseinanderentwicklung der theologischen und architekturtheoretischen Kirchenraumkonzeptionen sei erst mit dem beginnenden 18. Jh. zu verzeichnen (91).
D. informiert anschließend über den Bildungsgang, die Amts- und Einkommenssituation der Pfarrer in Stadt und Land (Teil C, 120–179). Sie weist – in Übereinstimmung mit älterer sozialgeschichtlicher Forschung zur Pfarrerschaft – die Integration der städtischen lutherischen Geistlichen in der Stadtgesellschaft, genauer gesagt: in der Schicht, aus der sich auch die städtische Obrigkeit rekrutierte, nach. Auf dem Land dagegen war die Herkunft heterogener. Wechsel eines Landpfarrers an eine städtische Kirche gab es kaum. Bei lutherischen, später auch bei katholischen Landgeistlichen wurden Stellenwechsel generell selten (das lag wohl auch an den unüblich hohen Einkünften im Hildesheimischen). Lutherische Pfarrerdynastien fühlten sich teilweise generationenlang derselben dörflichen Umgebung verbunden. Dennoch setzten sich die lutherischen Pastoren in ihrem Amtsverständnis deutlich von der umgebenden Gesellschaft ab: Sie begriffen ihren Diensteintritt als »Abschied von der Welt« (121), verstanden sich als ›Hirten‹ ihrer Gemeinde und betonten ihre Amtskompetenz, Ge­meindemitglieder zu strafen (und d. h. auch, die Obrigkeit öffentlich abzumahnen).
Der Schlussteil (Teil D) rekonstruiert anhand von zwei schlüssig gewählten, potentiell äußerst konfliktträchtigen Themen Handlungskontexte, innerhalb deren die politische Ethik des lutherischen Dreiständemodells praktische Umsetzung fand. Zuerst werden Pfarrerwahlen (182–255) als bedeutsame Anlässe der Lokalpolitik untersucht. In Hildesheim hielten sich die andernorts seit Beginn des 17. Jh.s oft zu Gunsten einer rein obrigkeitlichen Religionsverwaltung zurückgedrängten Gemeindewahlrechte über die ganze untersuchte Periode hinweg (188). D. zeigt, wie in kom plizierten Aushandlungsprozessen alle drei ›stakeholders‹ des kirchlichen Raumes ihre Mitwirkungsrechte behaupteten. Die allgegenwärtige Simonie schuf weitere Einflussmöglichkeiten, führte aber langfristig zu einer Aushöhlung der Legitimation von Gemeindewahlen (212). Auch dort, wo wie in vielen Landgemeinden kein Pfarrerwahl-, sondern ein Patronatsrecht existierte, lebte die Idee einer Beteiligung der Gemeinde an der Beauftragung durch formelle Zustimmung. Da auf katholischer Seite eine äquivalente Begründung für einen ›gemeindekirchlichen‹ Ansatz fehlte, dokumentierten die Gläubigen hier ihren Mitbestimmungsanspruch vor allem durch endlose Rechtsstreitigkeiten um Baulasten an den Pfarrhäusern. Missliebiger obrigkeitlicher Religionspolitik widersprachen auch rekatholisierte, vormals lutherische Gemeinden unter Berufung auf ihr Gewissen (241.257). Allgemein, so D. im Widerspruch zu einer weitverbreiteten Annahme, habe lutherische Theologie anstatt Unterordnung unter weltliche Herrschaft we­nigstens im lokalen Rahmen »eher das eigenverantwortliche Mit- und Gegeneinander der unterschiedlichen wirkungsmächtigen Kräfte gefördert« (247).
Den Abschluss bildet ein Blick auf die Bußpraxis (256–333). Hier setzt sich D. begrüßenswert ausführlich mit dem Ertrag der kirchenhistorischen Forschung zur Beichte im Reformationszeitalter auseinander, bevor sie die Beichtpraxis in lutherischen und katholischen Gemeinden von den Bildprogrammen der Beichtstühle über das theologische Beichtverständnis der lokalen Orthodoxie bis hin zur pietistischen und obrigkeitlichen Kritik an der Ohrenbeichte untersucht. Die auf Druckschriften aus dem Raum Hildesheim gestützte These einer großen Nähe lutherischer und nachtridentinischer Bußtheologie (287 f.) vermag nicht voll zu überzeu gen. Die Auseinandersetzungen, die sich seit Beginn des 18. Jh.s zwischen Stadtgeistlichkeit und aufgeklärten Juristen um die Beichtpraxis entspannen, müssten zwar klarer in den Kontext der neuen kollegialistischen Kirchentheorien eingezeichnet werden, doch dafür entschädigt D. mit der faszinierenden Schilderung eines Grundsatzstreits um die cura religionis – konkret: um die Kompetenz zum Ausschluss von Beichte und Abendmahl – zwischen geistlichem Ministerium und neugegründetem städtischem Konsistorium im Jahr 1678, in dem die Geistlichkeit überraschenderweise ihre große Machtstellung verteidigte (317–324).
Trotz gelegentlicher Weitschweifigkeit im Detail überzeugt die gut lesbare Arbeit – die genannten theoretischen Abstriche vorausgesetzt – insofern, als D. ihre Fragestellung konsequent an ein großes Materialkorpus heranträgt und dabei bislang teilweise vernachlässigte Themen berührt. Die in der gegenwärtigen Frühneuzeitforschung wieder beliebte Langzeitperspektive führt allerdings stellenweise – etwa im letzten Teil – dazu, dass die Situation vor 1618 kaum mehr angemessen Berücksichtigung findet.