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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

178-183

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. 624 S. gr.8°. Geb. EUR 39,95. ISBN 978-3-579-08014-7.

Rezensent:

Ulrich Mell

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Theißen, Gerd, u. Petra von Gemünden [Hrsg.]: Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. 415 S. 8°. Kart. EUR 34,95. ISBN 978-3-579-08026-0.


Auf die Darstellung des Urchristentums aus religionswissenschaftlicher Sicht (Die Religion der ersten Christen, 32003) lässt der Heidelberger Neutestamentler erneut ein umfangreiches Werk folgen, nun »eine Psychologie der urchristlichen Religion«. Sie macht es sich zur Aufgabe, »das religiöse Verhalten und Erleben der ersten Christen [zu] beschreiben, ordnen, verstehen und [zu] erklären« (15). Legen beide Bücher eine Gesamtsicht vor, so zeichnet sie auch aus, dass sie einen für den Bereich der Neutestamentlichen Wissenschaft je auffälligen methodischen Zugang wählen. Wer gewohnt ist, durch eine Theologie des Neuen Testaments oder eine ge­schichtliche Darstellung des Urchristentums die Ereignisse und religiösen Vorstellungen der christlichen Anfangszeit vermittelt zu bekommen, stellt sich die Frage, ob das neue Projekt von Th. einer historischen Psychologie des Urchristentums methodisch überzeugt und sachlich umfassend überhaupt durchgeführt werden kann. Jedoch, dass eine » hermeneutische Psychologie« (17) an der Zeit ist, wird einleuchten, da die wissenschaftliche Psychologie neuerdings auch die Beschreibung des inneren Erlebens methodisch akzeptiert und es sich auf Grund einer heutigen psychologischen Wirklichkeitsdeutung gar nicht vermeiden lässt, dass bei der Auslegung frühchristlicher Schriften psychologische Annahmen ins Spiel kommen. Wer möchte da nicht wegen des angemessenen Verständnisses urchristlicher Quellen eine valide psychologische Theoriebildung erhalten, die zu einleuchtenden psychohistorischen wie textpsychologischen Ergebnissen führt? Diese Erwartung trifft bei Th. auf einen Verfasser, der durch eigene Vorarbeiten (z. B.: Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, 1983) aufgefallen ist und mit seiner Frau Christa eine promovierte Psychotherapeutin als kompetente Gesprächspartnerin um sich weiß.
Hinsichtlich der Fragen, welche Wirklichkeit der Begriff »Urchristentum« meint und welche Quellen die Erforschung seiner Wesentlichkeiten leiten, bekommen die Leser von Th. keine eigenständigen Informationen. Vielmehr setzt Th. die Bereitschaft voraus, seiner Nomenklatur und Forschungssicht zu folgen. Wer die Vielfalt urchristlicher Gemeindeentwicklung und die Verschiedenartigkeit ihrer theologischen Anschauungen kennt, erlaubt Th., eklektisch und unter Rückgriff auf eigene wie aktuelle Arbeiten (s. u. den Aufsatzband) vorzugehen. Besprochen werden in der Regel die großen Theo­log(i)en des Urchristentums: Johannes der Täufer, Jesus von Nazaret, Paulus, das MtEv und das JohEv. Hin und wieder wird die Aufmerksamkeit auf Texte der sog. Apostolischen Väter gerichtet. Das MkEv und das lk Doppelwerk, aber auch die Apk werden weniger intensiv konsultiert. Beachtenswert bleibt, dass in Abschnitt VI. »Mystik und Gnosis« auch »die Verwandlung der urchristlichen Religion in der Gnosis« besprochen wird (495–535). Damit demonstriert Th., dass er einen historischen Wissenschaftsbegriff über die Anfangszeit des Christentums besitzt, der von kanonischen Vorgaben unabhängig ist und die formative Zeit des Christentums bis zur Mitte des 2. Jh.s n. Chr. ansetzt. Dass Th. mit seinem Buch alle urchristlichen Quellen, die zur historisch-psychologischen Interpretation genutzt werden können, ausgeschöpft hat, darf be­zweifelt werden.
Th. leiten bei der historischen Religionspsychologie drei psychologische Theoriebildungen (40–48): zum einen die Rollentheorie, die einen lerntheoretischen Ansatz über religiöse Erfahrung ausgebildet hat. Sodann die Tiefenpsychologie, die, hermeneutisch modifiziert, Religion im Kontext von Prozessen der Ich-Bildung ansiedelt, und schließlich die Kognitionspsychologie, die religiöse Inhalte als notwendig für den Aufbau einer sinnvoll gedeuteten Welt ansieht. In konstruktivistischer Weise kombiniert Th. diese drei Theorien und deutet die urchristliche Religion funktional als Vermittlung des Bedürfnisses nach Selbstwert durch Gebet und Glaube (Teil II. »Erfahrung und Erleben«, 111–250), des Bedürfnisses nach Sinn durch Mythos und Lehre (III. »Mythos und Weisheit«, 251–342), des Bedürfnisses nach Gemeinschaft durch Riten (IV. »Ritus und Ge­meinschaft«, 343–402) und des Bedürfnisses nach Kontrolle durch Ethos (V. »Ethos und Praxis«, 403–494). Dabei ist Th. sich bewusst, dass das Proprium der Religion, nämlich die spirituell vermittelte Transzendenzbeziehung, alle psycho-religiösen Funktionen und Faktoren »erst zu etwas Religiösem macht« (47).
Um dem Anachronismusvorwurf zu entgehen, mit der historischen Psychologie gegenwärtige Vorstellungen in die vergangene Zeit hineinzuprojizieren, setzt Th. vor seine materialen Ausführungen den Einstiegsteil »I. Seele und Leib« (49–109). In ihm versucht er aufzuzeigen, dass die Erfindung des inneren Menschen in der Antike, so in der klassischen griechischen Philosophie einerseits und der schriftgelehrten Theologie Israels andererseits, in der Zeit ab dem 6. Jh. v. Chr. bereits stattgefunden hat, und vertritt die These, dass das Urchristentum seine religiöse Erneuerung darstelle.
Im Rahmen einer »pluralistische(n) Religionstheorie ..., die viele Traditionen zusammenführt« (537) gelangt Th. zu folgender Gesamtsicht (VII. »Zusammenfassung und Schlussbetrachtung« 537–573): Während die außerchristliche Antike zu religiösen Selbstkonzepten gelangt, die »mit einer starken Selbststeuerung des Menschen« einhergehen, »einerseits durch Einsicht [bei den Griechen], andererseits durch den Willen [bei den Juden]« (560), ist »das Urchristentum eine … extremreligiöse Erneuerungsbewegung, die an dem Ziel festhält, das sich in der ›psychologischen Wende‹ durchsetzte: Der Mensch soll befähigt werden, sein Leben selbstverantwortlich zu führen« (69). Gegen die Bedrohung des »inneren Menschen« durch eine Remythisierung von Dämonen und Geistern wird dieser im Urchristentum »durch eine vertiefte Sicht des Menschen neu gebildet und gefestigt« (69). Diese Aufgabe übernimmt im Urchristentum grundsätzlich der »heilige Geist«, der als »das positive dissoziative Selbst ... in mythischer Form die Personeinheit erneuert« (93). In literarischer Hinsicht mache das MtEv in autodynamischer Tendenz von einem ethischen Menschenbild Gebrauch, das JohEv entwickele in heterodynamischer Tendenz eine soteriologische Anthropologie der Erlösung, während Paulus in transformationsdynamischer Auffassung eine Synthese zu beiden bilde (vgl. 69).
Die Fähigkeit des Urchristentums besteht nach Th. darin, viele grenzreligiöse Phänomene, die den Alltag durch Transzendenzerfahrung sprengen, neu zu aktivieren, wie sie »in Visionen, numi­noser Furcht, Glossolalie, Wunderglauben, Endzeit-, Teufels- und Sühnemythos, im tabuverletzenden Sakramentalismus, in der Selbststigmatisierung einiger Autoritäten, aber auch in einer ag­gressiven mythischen Phantasie und extremer Askese im realen Leben, in einer erstaunlich radikalen Gesetzeskritik und einer unbedingten Gerichtszuversicht« aufbrechen (560). Entscheidend aber sei es, dass es dem Urchristentum gelinge, diese Formen von Extremreligiosität für die moderate Religiosität des Alltags so fruchtbar zu machen, dass jedem Menschenleben seine religiös not­wendige Grundierung gegeben wird. Die entscheidende Vermittlungsinstanz zwischen der Virtuosen- und der Alltagsreligion bildet dabei für Th. die urchristliche Christologie (vgl. 537):
»Religiöse Wahrnehmung Gottes geschieht ... dass in der Gestalt Christi Gott sichtbar wird. Religiöse Gefühle entzünden sich ... am Nachvollzug des Weges Christi durch diese Welt. Das Bittgebet des Alltags und die Geisterfahrung der Glossolalie werden in der christologisch begründeten Gebetsmystik im JohEv zusammengeführt. Wenn Menschen aus ihrer Lebenswelt herausgerissen werden, haben sie in der Nachfolge Jesu sowohl ein Vorbild dafür, die vertraute Alltagswelt zu verlassen, als auch ein Vorbild dazu, in der Welt zu wirken. Zwischen normalreligiösem Grundvertrauen und extremer Wundermacht steht die Gewissheit, dass der Glaube selbst ein Wunder ist ... Die Deutung der Welt als gegenwärtige Schöpfung und vergehende Welt wird durch Christus überbrückt: Er repräsentiert in dieser Welt die neue Schöpfung« (571).
Ist Th.s Grundthese zur Überzeugungskraft urchristlicher Psychologie richtig erkannt, so wirkt sie sich bedauerlicherweise nicht im Einzelnen seiner Darstellung aus. Heuristisch einleuchtend unterscheidet Th. zwischen moderater und extremer Religiosität, wenn es z. B. in Überschriften heißt: »Alltagssprachliches Beten und Sprechen« (192–195) und »Extremreligiöses Sprechen: Glossolalie« (195–202) oder »Abendmahl als sakramentales Mahl mit Tabubruch« (367–376) und »Abendmahl als Sakramentalmahl ohne Tabubruch« (376–384) oder »Ehe als moderates Sexualethos« (436–448) und »As­kese als radikales Sexualethos« (448–455). Seiner psychologischen Analyse der urchristlichen Quellen aber fehlt jeweils ein christolo­gischer Vermittlungsabschnitt, der aufzeigen müsste, wie in ur­christlicher Psychologie Grenzreligiosität in die religiöse Le­bens­mitte überführt wird. Darum lässt sich nicht von der Hand weisen, dass es Th. mit seiner psychologischen Deutungssprache zwar gelingt, urchristliches religiöses Leben und Erleben neu klassifizierend zu beschreiben, dass er jedoch nicht zu einer christologischen Transformation urchristlicher Religionsphänomene im Sinne seines hermeneutischen Programmes vorzudringen vermag.
Die einzelnen Ergebnisse von Th.s Monumentalwerk zu beschreiben, geschweige denn sie psychologietheoretisch und exegetisch auf ihre Validität zu prüfen, kann an diesem Ort sachgemäß nicht gelingen. Es bleibt aber darauf hinzuweisen, dass für Th. psychologische Theoriebildung mit ihrer mitunter ungewöhnlichen Terminologie (z. B.: Attributionstheorie; Ambivalenzkonflikt; Expositionstherapie; Terror-Management-Theorie) immer in einer Textkonkretion einmündet. Der Umgang mit psychologischen Deutungskategorien der (antiken) Wirklichkeit ist ordnend wie begrifflich erhellend und, wenn Th. auch manchmal redundant formuliert, so wird es dennoch nie langweilig. Wer Schwierigkeiten mit einer Gesamtdarstellung hat, sollte zuerst die übersichtliche Zusammenfassung am Schluss aufschlagen (537–561).
Das Buch ist übersichtlich gestaltet und kann auch in einzelnen Gliederungsabschnitten studiert werden. Es enthält kaum orthographische Fehler. Verschiedene Tabellen helfen bei der systematischen Anschauung psychologischer Erkenntnis. Das Werk wird durch ein Literaturverzeichnis und ein Bibelstellenregister abgeschlossen. Ein Stichwortregister fehlt, so dass der schnellen, aber oftmals oberflächlich bleibenden Orientierung entgegengewirkt wird.
Ziel von Th.s historischer Religionspsychologie ist es, die typische urchristliche Lebenswelt hinter den Texten, also Erfahrung, My­thos, Ritus und Ethos zu beschreiben, was ihn als »konservativen« Verfechter einer historisch-kritischen Auslegungsmethodik ausweist. Dabei stößt historische Erkenntnispsychologie bei der Deutung von Ostern auf ihre Grenze, die von Th. auch ohne Umschweife benannt wird (vgl. 158): Weder die nichtpathologisch verstandene Halluzination noch die Trauer-Vision noch die Nah-Tod-Vision noch die Erleuchtungsvision helfen, die urchristlichen visionären Ostererfahrungen psychologisch adäquat zu erfassen.
Es zeichnet die Qualität der Darstellung von Th. aus, dass zu Beginn wichtige Einsprüche gegen das Unternehmen einer historischen Psychologie des Urchristentums offengelegt werden (20–32). So wird u. a. das Defizit an Quellen, der Vorwurf, dass Psychologie Religion unzulässig reduziere, und der Verdacht der Trivialität, dass die Psychologie nur herausfindet, was Textexegese ohnehin schon weiß, angesprochen. Mit diesen Einsprüchen aber wird die Leserschaft motiviert, Th.s Aussagen zur historischen Religionspsychologie an den urchristlichen Quellen daraufhin zu prüfen, ob sie denn »in ihren Grenzen Erfolg haben« (32) könnte. Sie kann!
Das zweite hier anzuzeigende Buch, das Theißen zusammen mit Petra von Gemünden herausgegeben hat, ist eine Sammlung von Studien, die überwiegend aus Referaten des im Oktober 2006 veranstalteten Symposions »Psychologie der urchristlichen Religion« hervorgegangen ist. Das oben rezensierte Werk von G. Theißen lag den damaligen Referenten in einer Erstfassung vor. Bedauerlicherweise setzt sich jedoch nur der Beitrag von M. Leiner mit Theißens Ansatz auseinander. Beide Publikationen zusammen – Theißens Gesamtwerk und der Sammelband – sollen die »neuste Entwicklung der ›Heidelberger Psychologie des Urchristentums‹« (29) dokumentieren. Diese fulminante Eigenverortung der Neu­ testamentlichen Wissenschaft an der Heidelberger Alma Mater macht neugierig, Beiträge von anderen Forschern zur urchristlichen Seelenerkundung zu vernehmen:
Nach einer Einleitung, in der die beiden Herausgeber – gut übersichtlich – die jeweiligen Thesen der Aufsätze erläutern (9–28), steht am Beginn ein Grundsatzreferat von M. Leiner, das mit dem fragenden Titel »Dem Evangelium die Seele wiedergeben? Grundsätzliche Fragen einer Psychologie des Urchristentums« (29–54) zu erläutern versucht. Nach L. bereichert die Methode der Psychologischen Bibelauslegung »die Exegese um die Dimension des traditionell als ›seelisch‹ beschriebenen Erlebens und Verhaltens« (54). Deshalb ist sie dem von F. D. E. Schleiermacher in die christliche Mo­derne eingebrachten religionstheoretischen Programm zuzurechnen. L. un­terscheidet eine Psychologie des Textes von der Rekonstruktion einer Psychologie der hinter dem Text stehenden Person. In beiden Fragestellungen werde aus der Außenperspektive das psychische und soziale Geschehen der urchristlichen Religion auf den Begriff gebracht. Gegenüber Theißen möchte L. »der textpsychologischen Erforschung des Verhaltens einzelner Menschen den Vorrang vor dem typischen Verhalten im Urchristentum« geben (49).
Unter den Stichworten »Erleben und Deuten« präsentiert der Sammelband in einem ersten Abschnitt fünf Aufsätze, die sich mit den Fragen urchristlicher Identitätsbildung (Paulus’ Berufung), ungewöhnlicher Erfahrungen (vgl. 1Kor 12) und den Ritualen Taufe und Herrenmahl beschäftigen. Hervorhebenswert scheint mir der Beitrag von D. G. Horrell (»Leiden als Diskriminierung und Martyrium«, 119–132) zu sein, der 1Petr 4,16 mit Hilfe der psychologischen Strategie der Selbststigmatisierung interpretiert und damit den für die christliche Märtyreridentität bedeutsamen Vorgang der Umwertung des Schlüsselbegriffs »Christ« zu einem Ehrbegriff erläutern hilft.
Im zweiten Teil des Bandes wird unter den thematischen Begriffen »Erkennen und Reden« auf die Psychologie der rhetorischen Kommunikation im Urchristentum geachtet. Besonders erwähnenswert scheinen mir die Beiträge von D. Mitternacht zum Gal und von P. Lampe zu 2Kor 10–13 zu sein: Mitternacht (»Wahrnehmungen und Bewältigungen einer Krisensituation«, 157–182) versucht mit sozialpsychologischer Theoriebildung zu zeigen, dass die von Paulus bekämpfte Toraübernahme bei Völkerchristen als »Resultat gesellschaftlichen Drucks« zu erklären sei. Es ging um »Lastenerleichterung« in einer Situation, als »sozio-politische und religiöse Privilegien der jüdischen Gemeinde« (181) unerreichbar waren. Lampe (»Gewaltige Worte werden gewalttätig«, 231–246) er­läutert die paulinische Streitkultur auf dem Rechtshintergrund der öf­fentlichen Ehrverletzung als Strategie, mit Invektiven »die Fremdmissionare zu beschämen, das heißt, sie sozial zu isolieren und auszuschließen« (242), was einem verbalen Exorzismus des rhetorischen Wundertäters Paulus nahekommt.
Im dritten Teil beschäftigen sich unter dem zweiteiligen Oberthema »Affekte und Bewertung« die Studien zu frühjüdischen und urchristlichen Texten mit der Affektdarstellung (Lk 15,11–32) und -kontrolle (weisheitliches Schrifttum; 1QS; Herm). Anzeigenswert erscheint mir K. Wagners Meinung (»Das interaktive Gewissen bei Paulus«, 301–318), dass die 1Kor 8,10 erkennbare paulinische Konstruktion eines »interaktive(-n) Gewissens im interpersonalen Be­reich eine Innovation im antiken Gewissensdiskurs« (316) darstelle. Weniger überzeugend wirkt auf mich der Beitrag von A. Inselmann (»Affektdarstellung und Affektwandel in der Parabel vom Vater und seinen beiden Söhnen«, 271–299), insofern sie den metaphorischen Widerspruch des Textes gegen ein weisheitliches Gerechtigkeitsdenken auf ein lerntheoretisches Handlungskonzept zu reduzieren versucht (vgl. 298).
Der abschließende Teil des Symposionbandes versammelt unter den Programmworten »Pistis und Gnosis« zwei Beiträge zur Psy­chologie der urchristlichen Gnosis. T. Onuki (»Der Neid in der Gnosis«, 321–342) erläutert die erkenntnistheoretische Funktion des Neides als »Strukturprinzip des gnostischen Mythos«, kann jedoch nicht erkennen, wie die Gnosis-Anhänger ihren konkreten Um­gang mit dem Neidaffekt angegangen sind (340).
Der Aufsatzband schließt mit einem Literaturverzeichnis sowie mit Bibelstellen- und Stichwortregister. Das Buch ist außerordentlich ansprechend lektoriert, alle Beiträge sind gut lesbar und bieten jeweils zu Beginn eine klare Fragestellung wie am Schluss eine Ergebnissicherung. Einzelne Skizzen veranschaulichen die Überlegungen der Autoren. Bei den Aufsätzen von P. Lampe (»Psychologische Einsichten Quintilians in der Institutio Oratoria«, 209–230) und von B. Mutschler (»Pistis und Gnosis«, 343–365) ist ein Bezug zur psychologischen Thematik weniger deutlich; als wichtige Beiträge gehörten sie doch eher in den Bereichen Antike Rhetorik bzw. Frühchristliche Theologie veröffentlicht.
Der Blick mit dem psychologisch zurückhaltenden Beitrag von S. Vollenweider (»Außergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion«, 73–90) auf das bei P. Craffert (»Neutestamentliche Forschung nach der Revolution in den Neurowissenschaften«, 91–117) zutage tretende Missverhältnis von Theorie und Ergebnis (vgl. auch 57 ff.) lässt geneigt sein, bei der psychologischen Erforschung des Urchristentums Horaz zu zitieren: Parturient montes, nascetur ridiculus mus (ars 139). Jedoch gilt für das neuzeitliche Denken auch und gerade: Der Fortschritt ist ein Eichhörnchen. So ist der unabweisbare Erkenntnisgewinn durch psychologische Textauslegung besonders bei denjenigen Beiträgen des Sammelbandes abzulesen, deren Autorinnen und Autoren aus Erfahrung von der Leistungsfähigkeit, aber auch der Begrenztheit der ansonsten bewährten methodischen Zugänge zu urchristlichen Texten und ihren Lebenswelten überzeugt sind. Ihr Bemühen um die psy­chologische Exegese geschieht dabei im Wissen, dass jede Me­thode ein Wirklichkeitsverständnis indiziert. Und das ist im Falle der Psychologie das auch für das antike Urchristentum zutreffende Bild vom Verhalten und Erleben von Individuen.