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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

172-174

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Burkett, Delbert

Titel/Untertitel:

Rethinking the Gospel Sources. From Proto-Mark to Mark.

Verlag:

New York-London: T & T Clark International (Continuum) 2004. IX, 290 S. m. Tab. gr.8°. Kart. £ 19,99. ISBN 0-567-02540-3.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Ziel der von Delbert Burkett, Associate Professor of New Testament at Louisiana State University, verfassten Monographie ist es, die synoptische Forschung, insbesondere die Hypothese der Zwei-Quellen-Theorie, kritisch zu revidieren und dabei ein eigenes Modell zur Erklärung der Entstehung der synoptischen Evangelien zu entwickeln: nämlich eine »new multi-source theory« (6 u. ö.). Daraus sollen vor allem Einsichten zur Entstehung des Markus-Evangeliums (s. Untertitel) gewonnen werden. Das Anliegen des Vf.s scheint also berechtigt und interessant.
Der Vf. setzt wesentlich bei der Beobachtung der matthäischen und lukanischen »double tradition« an. Er schlägt als Lösung des synoptischen Problems folgende Erklärung für die literarischen Entstehungs- und Abhängigkeitsverhältnisse von Markus-, Matthäus- und Lukas-Evangelium vor: Eine einfache Evangelienschrift (»Proto-Mark«) durchlief zwei Revisionen (»Proto-Mark A«, »Proto-Mark B«). Während das Matthäus-Evangelium Proto-Mark A, das Lukas-Evangelium hingegen Proto-Mark B benutzte, kannte und synthetisierte bzw. ›konflatierte‹ das kanonische Markus-Evangelium beide Versionen (6; zum Begriff der Konflation: 119 ff.). So steht das Markus-Evanglium entwicklungsgeschichtlich auf derselben Stufe wie Matthäus und Lukas (vgl. etwa 141). Zugleich wird mit der Annahme des ›Proto-Mark‹ an der These der ›markinischen Priorität‹ im Sinne einer »priority of a pre-Markan gospel«, d. h. eigentlich überlieferungsgeschichtlich, nicht aber im Sinne einer »Markan priority«, d. h. literarhistorisch, festgehalten (5). Der Vf. hält zudem an der Annahme fest, Matthäus und Lukas hätten die Logienquelle (Q) sowie jeweilige Sondergutüberlieferung (M/L) benutzt (141). Die ›new multi-source theory‹ entwickelt dadurch ihre Komplexität, dass sie über die genannten ›Quellen‹ hinaus mit einer Verarbeitung von A- und B-Material (auf der Stufe von Proto-Markus A und B) sowie von C-Material (auf der Stufe der literarischen Endtexte Markus, Matthäus und Lukas) rechnet (141 f.; im Einzelnen: 168–223).
Der Vf. entfaltet seine Theorie in zwölf Kapiteln (vgl. 5 f.): Kapitel 1 dient einer kurzen Einführung in die gegenwärtige Problemlage der synoptischen Forschung (1–6), die sich besonders mit der »classical two-document hypothesis« (2 f.) und der schon erwähnten Diskussion über die »Markan priority« (3 ff.) auseinandersetzt. In den Kapiteln 2 bis 5 (7–118) sowie in Kapitel 6 (119–132) nimmt der Vf. die gegenwärtigen cruces interpretum in der Synoptikerforschung auf, so z. B. die sog. minor agreements, und zwar sowohl positive (Übereinstimmungen) als auch negative Gemeinsamkeiten (gemeinsame Auslassungen). Der Vf. schließt im Ergebnis je­weils die literarische Abhängigkeit des Mt und Lk von Mk (42) sowie die literarische Abhängigkeit des Mt und Mk von Lk (59) aus und rechnet stattdessen damit, dass Mt und Mk einerseits sowie Lk und Mk andererseits jeweils dieselben drei Quellen benutzten (92 und 118). Die Leistung des Mk liegt darin, oftmals zwei oder mehr Quellen benutzt zu haben, die entweder auch von Mt oder auch von Lk separat benutzt wurden (132). Kapitel 7 (133–142) bietet die Überleitung zu der hier vorgestellten eigenen Theorie. Die Kapitel 8–11 (143–223) rekonstruieren die quellengeschichtlichen Bereiche und Stufen zur Entstehung des Markus-Evangeliums (Proto-Mark, A Material, B Material, C Material), während das Schlusskapitel (224–266) gleichsam die Endredaktion des Markus-Evangeliums als Konflation der Quellen nachzeichnet. Der Band wird mit einem Appendix zu »dual temporal and local expressions«, einer Bibliographie zum synoptischen Problem sowie mit einem Stellen- und Autorenregister abgeschlossen (267–290).
Zur kritischen Würdigung des Ansatzes (vgl. zur Einordnung in die Forschungsgeschichte auch das Panorama, das etwa U. Schnelle, Art. Synoptische Frage, in: RGG 4. Aufl., Bd. 7 [2004], Sp. 1978–1984, entwirft): Der Vf. macht mit seinem Beitrag grundsätzlich deutlich, dass die Frage nach den synoptischen Quellen und nach der Entstehung der synoptischen Evangelien weiterhin virulent und kontrovers ist, und d. h., einer fortgesetzten und vertieften, u. U. auch innovativen Diskussion bedarf. Dabei sind Überlegungen, die zur bloßen Differenzierung der Zwei-Quellen-Theorie beitragen, wie die Annahme des Deutero-Markus, durchaus kritisch zu überdenken und mit Vorschlägen, die – wie beim Vf. – auf eine prinzipielle Modifikation des Modells unter Beibehaltung wichtiger Grundentscheidungen (Priorität markinischer Überlieferungen, Annahme von Q sowie L und M) zielen, zu konfrontieren. Als Grundproblem der synoptischen Forschung bleibt in diesem Dis­kurs freilich die faktische Unvereinbarkeit vieler Modelle miteinander bestehen, die wesentlich durch die Rekonstruktion zeitlicher Folgen (Markus-Priorität oder Griesbach-Hypothese) und die An­nahme von definierten Quellen sowie von deren literarischen Abhängigkeiten (z. B. Zwei-Quellen-Theorie oder Farmer-Hypothese) bedingt ist. Auch wenn es dem Vf. prinzipiell gelingt, an Grundüberlegungen der Zwei-Quellen-Theorie festzuhalten (s. o.), steht sein Modell forschungsgeschichtlich in der Linie der ›Traditionshypothese‹ und stellt die ›Benutzungshypothese‹ im Sinne der direkten literarischen Abhängigkeit der synoptischen Evangelien voneinander programmatisch in Frage.
Eine der Schwächen der ›new multi-source theory‹ ist dabei terminologisch bedingt: So differenziert der Vf. einerseits Quellen (›sources‹), nämlich Proto-Markus sowie Proto-Markus A und B, von »collection of material«, nämlich A- und B-Material im Unterschied von C-Material (»source«). Andererseits bezeichnet der Vf. aber wiederum A- und B-Material als »smaller sources« (141 f.). Was also ist mit ›Quellen‹ im Sinne einer literarisch gestalteten Sammlung von Traditionen gemeint? Sollte der Vf., wie anzunehmen ist (vgl. z. B. 264), tatsächlich letztlich alle quellenähnlichen synoptischen Sammlungen, auf denen die synoptischen Evangelien basieren, als ›Quellen‹ per definitionem verstehen, so birgt sein synoptisches Modell nicht nur die Schwierigkeit, dass viele Quellen (A- und B-Material usw.) verloren gingen – für den grundsätzlichen Um­stand des Verlusts von Quellen verweist der Vf. übrigens berechtigterweise auf mögliche antike Analogien (265 f.).
Eine weitere, eher noch größere Schwierigkeit des vom Vf. vorgeschlagenen Modells liegt allerdings darin, dass allein für die Entstehung des Markus-Evangeliums insgesamt fünf (!) hypothetisch erschlossene ›Quellen‹, also nicht: Sammlungen, vorausgesetzt werden müssen: Jede Quellen-Annahme aber entspricht der Formulierung einer Hypothese – die Zwei-Quellen-Theorie arbeitet vergleichsweise mit nur zwei Hypothesen: der Markus-Priorität und der Annahme von Q. Doch gehört die Minimalisierung von Hypothesen wenn möglich – wissenschaftstheoretisch gesprochen – entscheidend zum Umgang mit denselben. Auch praktisch gesehen impliziert die Annahme, Markus habe seine Quellen eher konflatiert, als verschiedene, nicht näher charakterisierbare quellenähnliche Sammlungen addiert und miteinander synthetisiert, dass deutlich mehr Überschneidungen von synoptischem Material vorgelegen haben müssten, die dann möglicherweise auch in der literarischen Endfassung (z. B. als Dubletten) zu erwarten wären. Wenig überzeugend ist schließlich die Datierung von Proto-Markus um 70 n. Chr., die dann – mit einer Zwischendatierung von Proto-Markus A und B (75–85 n. Chr.) – zu einer deutlich späteren Datierung des literarischen Endtextes des Markus-Evangeliums in zeitlicher Nähe zu Matthäus und Lukas, d. h. zwischen 80–100 n. Chr. führen würde (163 f.).
Trotz aller Einwände und Anfragen aber gilt: Der Vf. insistiert auf der Fortsetzung der Arbeit am sog. synoptischen Problem, das gleichermaßen literatur- wie theologiegeschichtlich bedeutsam bleibt. Wie mit dem synoptischen Problem und den Versuchen seiner Lösung umzugehen sei, darüber lässt sich bekanntlich mehr oder weniger (vgl. z. B. die zum Teil polemischen Diskussionsbeiträge von A. Fuchs) sachorientiert streiten. Die Arbeit am synoptischen Problem basiert immer auf der Wahrnehmung und Analyse von literarischen Indizien – soweit ist dem Vf. zuzustimmen. Doch deren Auswertung muss sich auch wissenschaftstheoretisch, d. h. im logischen Umgang mit Hypothesen, bewähren können.