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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

169-170

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bekken, Per Jarle

Titel/Untertitel:

The Word is Near You. A Study of Deuteronomy 30:12–14 in Paul’s Letter to the Romans in a Jewish Context.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XIV, 294 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 144. Lw. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-019341-1.

Rezensent:

Marianne Grohmann

Die Studie geht auf eine bereits 1998 eingereichte PhD-Dissertation an der Norwegian University of Technology and Science, Faculty of Arts, in Oslo bei Peder Borgen zurück. B. untersucht die Aufnahme von Dtn 30,12–14 im Römerbrief (Röm 9,30–10,21) vor dem Hintergrund von Philos Schriften De Virtutibus 183–184 und De Praemiis et Poenis 79–84 und – weniger ausführlich – in Bar 3,29–30.
Im Rahmen eines Überblicks über den Stand der Forschung geht B. kurz auf Dtn 30,12–14 in seinem alttestamentlichen Kontext, der letzten Mose-Rede, ein. Mose ermahnt Israel in diesem Text, das Gebot der Tora zu halten: Es ist nahe und kann erfüllt werden. Die Erfüllung der Gebote der Tora liegt nicht jenseits menschlicher Erreichbarkeit, nicht in weiter Ferne, die nur durch Wunder zu überwinden wäre, sondern Israel ganz nahe. Dieser Text wird nun bei Philo und Paulus auf unterschiedliche und gleichzeitig ähnliche Art und Weise kontextualisiert.
Nach einer Beschreibung der Oberflächenstruktur der philonischen und paulinischen Texte analysiert B. ihre Methode der Textinterpretation, die er als exegetische Paraphrase beschreibt: Mit selektiver Zitierung, Auslassungen, Ergänzungen, Änderungen, Neuformulierungen oder Ersetzen einzelner Wörter des zitierten Textes durch eigene wird der Septuaginta-Text aufgenommen und der jeweils spezifischen Auslegung angepasst. B. ordnet mit seiner Interpretation Paulus in den Kontext jüdischer Bibelauslegung ein. Die selektive Schriftauslegung ist sowohl für Paulus als auch für Philo charakteristisch. Die christologische Deutung von Dtn 30,12–14 lässt sich als Methode der exegetischen Paraphrase klassifizieren und hat Parallelen sowohl bei Philo als auch in Baruchs Deutung der Schrift auf die personifizierte Weisheit.
Nachdem B. die Art der Zitierung und Paraphrasierung des alttestamentlichen Textes bei Paulus formal in den Kontext jüdischer Schriftauslegung seiner Zeit, bei Philo und Baruch, eingeordnet hat, wendet er sich einer ausführlichen inhaltlichen Analyse von Philos Schriften De Virtutibus 183–184 und De Praemiis et Poenis 79–84 und der paulinischen Deutung in Röm 10,4–17 zu. In Virt. 183–184 geht es um μετάνοια (conversion/Bekehrung/Umkehr) innerhalb des Judentums und zum Judentum. Philo verwendet Dtn 30, 12–14 für folgende Argumentation: Wer sich an die Gebote hält und auf Gott beruft, wird von den Heiden unterschieden. Μετάνοια von Juden und Heiden ist eine Bedingung für den Eintritt in das wahre Gottesvolk. Voraussetzung für die Se­gensverheißungen ist die Erfüllung der Gebote – in eschatolo­gischer Perspektive. Obwohl Philo den Begriff »Messias« nicht verwendet, hofft er auf einen nicht-davidischen »messianischen« jüdischen Herrscher, der die Völker regieren soll. In diesen Punkten sieht B. Ähnlichkeiten zwischen der philonischen und der paulinischen Argumentation.
Trotz mancher Differenzen macht eine Untersuchung des jüdischen Kontextes von Philos Schriftauslegung die paulinische Interpretation von Dtn 30,12–14 verständlicher. Vor dem Hintergrund von Philos Texten hat die Anwendung des Paulus von Dtn 30,12–14 auf die Glaubensgerechtigkeit größere Kohärenz: Beiden ist die Frage gemeinsam, wer Israel als das wahre Gottesvolk ausmacht. Paulus verwendet Dtn 30,12–14 in Röm 9,30–10,21 in einem Kontext, in dem es um das Gesetz als Unterscheidungsmerkmal zwischen Israel und den Völkern geht. Das Zitat von Lev 18,5 in Röm 10,5 weist auf die lebensspendende Funktion der Tora hin. Gleichzeitig ist sie ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Israel und den Völkern. Paulus überträgt die Bedeutung von Dtn 30,12–14, die Nähe und Erfüllbarkeit der Tora, auf die Glaubensgerechtigkeit (Röm 10,6), auf Christus (Röm 10,6–7), das »Wort des Glaubens« (Röm 10,8) und das »Wort Christi« (Röm 10,17). Mit seiner Übertragung der Nähe und Erreichbarkeit von der Tora auf die Glaubensgerechtigkeit öffnet Paulus den Weg für ein neues Verständnis des Gottesvolkes aus Juden und Heiden, das sich nicht mehr ausschließlich über die Tora definiert, sondern auch über den Glauben. Gemeinsam ist Philo und Paulus die eschatologische Perspektive.
Verdienst von B.s Arbeit ist die ausführliche Darstellung und Analyse von Beispielen philonischer Bibelauslegung. Bei aller Genauigkeit in der Analyse einzelner Texte ist der rote Faden in der Fülle von Einzelbeobachtungen zeitweise nicht ganz klar erkennbar. Wichtig bleibt aber B.s These, dass sich Paulus – bei allen Differenzen – prinzipiell sowohl formal als auch inhaltlich in den Kontext jüdischer Schriftauslegung seiner Zeit einordnen lässt.