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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

162-165

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Alexander, Philip S., and Jean-Daniel Kaestli [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Canon of Scripture in Jewish and Christian Tradition. Le canon des Écritures dans les traditions juive et chrétienne.

Verlag:

Prahins: Édition du Zèbre 2007. 253 S. gr.8° = Publications de l’Institut romand des sciences bibliques, 4. Kart. EUR 25,00. ISBN 2-940351-07-4.

Rezensent:

Thomas Hieke

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Barton, John: The Old Testament: Canon, Literature and Theology. Collected Essays of John Barton. Hampshire: Ash­gate 2007. XVI, 292 S. gr.8° = Society for Old Testament Study Monographs. Geb. £ 60,00. ISBN 978-0-7546-5451-3.


Der erste zu besprechende Sammelband zum Thema »Kanon« ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit des Institut Romand des Sciences Bibliques der Universität Lausanne, des Centre for Biblical Studies der Universität Manchester und des Departement of Biblical Studies der Universität Sheffield. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher problematisieren die Konzepte von »Kanon« und »Kanonisierung«. Die Bandbreite wird allein schon durch die Titel ihrer Aufsätze deutlich, die hier zunächst nur genannt werden: Philip R. Davies: How to Get Into the Canon and Stay There Or: The Philosophy of an Acquisitive Society; Thomas Römer: La mort de Moïse (Deut 34) et la naissance de la première partie du canon bib­lique; Albert de Pury: The Ketubim, a Canon Within the Biblical Canon; Philip S. Alexander: The Formation of the Biblical Canon in Rabbinic Judaism; George J. Brooke: ›Canon‹ in the Light of the Qumran Scrolls; Jean-Daniel Kaestli: La formation et la structure du canon biblique: que peut apporter l’étude de la Septante?; Loveday C. A. Alexander: Canon and Exegesis in the Medical Schools of Antiquity; Daniel Marguerat: Des «canons» avant le canon?; Enrico Norelli: La notion de «mémoire» nous aide-t-elle à mieux com­prendre la formation du canon du Nouveau Testament?; Gillian A. Beattie: The Fall of Eve: 1 Timothy 2,14 as a Canonical Example of Biblical Interpretation; Ephrem Lash: The Canon of Scripture in the Orthodox Church. – Die Begrenzung dieser Rezension erlaubt nur kurze Aussagen zum Inhalt der einzelnen Studien.
Die Einführung der beiden Herausgeber, P. S. Alexander (Manchester) und J.-D. Kaestli (Lausanne), bietet einen hervorragenden Überblick über den Band. Es wird deutlich, dass sich der eine Teil der Beiträge eher historisch mit der Frage der Entstehung des Kanons befasst, während eine Reihe anderer Artikel systematischen Fragen nachgeht. In einem Grundsatzbeitrag zeigt Davies die Un­terscheidung zwischen primärer Kanonisierung durch eine gebildete Elite (die bestimmte Schriften liest, schätzt und verbreitet) und sekundärer Kanonisierung durch die religiösen Autoritäten (die diese Auswahl im Nachhinein bestätigen). Von diesen Prozessen lassen sich in Rut, Kohelet, Ester und dem Hohenlied in den Texten selbst Spuren zeigen. Die folgenden Aufsätze besprechen die unterschiedlichen Textbereiche der Entstehung des Kanons: Rö­mer betont gegenüber der These M. Noths von einem deuteronomistischen Geschichtswerk die Idee des Hexateuch als Kanonkonzeption einer Minderheit von Priestern und Deuteronomisten in persischer Zeit, die das Land als Zentrum des entstehenden Judentums ansahen. Durchgesetzt hat sich aber später die Tora als Pentateuch als zentraler Identifikationspunkt. – Den Bereich der Schriften (Ke­tubim) sieht de Pury als Anthologie von Anthologien an, die in der Mitte des 2. Jh.s v. Chr. von (Proto-)Pharisäern zur Endgestalt ge­formt wurde. Der humanistische Universalismus mancher Weisheitsliteratur sei dabei durch Rahmungen (Spr 1–9; 30–31; Koh 12, 12–14) in den Geist traditioneller jüdischer Frömmigkeit, wie er aus Ben Sira spricht, eingepasst worden. – Die alte These vom Kanonabschluss in Jabne im 1. Jh. n. Chr. widerlegt einmal mehr P. S. Alexander. Stattdessen optiert er dafür, dass die Rabbinen den jüdischen Kanon gegen Ende des 2. Jh.s n. Chr. abschlossen. Die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen in den ersten zwei Jahrhunderten und die Herausbildung des christlichen Ka­nons seien dafür der konfliktträchtige Hintergrund. – In einer historisch an­gelegten Untersuchungsreihe zum Thema »Kanon« darf die Qumranliteratur nicht fehlen. Ihr widmet sich Brooke, der die Fachterminologie hinterfragt und dann sowohl bei den physischen Gegebenheiten der Schriftrollen (etwa dass das Buch Deuteronomium immer auf einer separaten Rolle steht) als auch bei dem Phänomen der Exzerpte und Neukonzeptionen (Jubiläenbuch, Tempelrolle) ansetzt. Trotz des zahlreichen Materials sei die Bedeutung der Schriftrollen für den kanonischen Prozess noch offen. Ein Ab­schluss dieses Prozesses sei irgendwann zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 1. Jh. n. Chr. anzusetzen. Die Positionen von R. Beckwith und E. Ulrich markieren demnach die Extrempunkte.
Zu derartigen Grundsatzreferaten muss auch der Beitrag der Septuaginta diskutiert werden. Dies übernimmt Kaestli, der darauf hinweist, dass schon die bloße Existenz einer griechischen Übersetzung den autoritativen Charakter der übersetzten Schriften er­weise. Dass der Pentateuch als Erstes und noch dazu unter »königlicher Autorität« übersetzt worden sei, zeige sein Gewicht. Bei den anderen Schriften sind dagegen konzeptionelle Abweichungen zu beobachten: Die griechischen Übersetzungen von Daniel, Chronik und Esdras stehen zeitlich (2. Jh. v. Chr.) und übersetzungstechnisch in der Nähe von 1-4 Königreiche (LXX 1/2Sam; 1/2Kön), wo sie auch von Josephus (CAp I,38–43) angesiedelt werden (und damit nicht unter den Ketubim wie im rabbinischen Kanon). Das könnte darauf hinweisen, dass die vierteilige Struktur der griechischen Bibel ebenso alt sein könnte wie die dreiteilige der Hebräischen Bibel. – Zwei weitere Artikel blicken über das Alte Testament hinaus: L. Alexander zeigt, dass »Kanon« kein auf die biblische Literatur be­schränktes Konzept darstellt. Vielmehr gab es diese Idee auch in der spätantiken griechisch-römischen Welt. Als Beispiel nennt sie das Corpus Hippocraticum: Der als »kanonisch« geltende Text wurde in der schnelllebigen medizinischen Praxis fortwährend angepasst und kommentiert. – Der neutestamentlichen Kanongeschichte widmet sich Marguerat. Das Anwachsen der gnostischen Evangelienliteratur einerseits und der Druck durch den markionitischen Kanon andererseits haben den Abschluss des Kanons der Kirche gefordert. Die sich entwickelnde Kanonkonzeption des Neuen Tes­taments zeigt Marguerat sowohl anhand des Vier-Evangelien-»Kanons« als auch anhand des lukanischen Doppelwerks, das »Jesus« und die »Apostel« verbinde. – Drei Beiträge sind eher systematischer Natur: Norelli wendet den Begriff der Soziologie des Gedächtnisses (»mémoire«), wie sie Maurice Halbwachs (1887–1945) entwickelt hat, auf die neutestamentliche Kanonentwicklung an. Er kann so die Entwicklung von Papias bis zum muratorischen Fragment und die gleichsam »paradoxe« Haltung der Kirche zu den Apokryphen beschreiben: Durch die Fixierung eines geschlossenen Kanons schriftlicher Texte werden die Apokryphen zur »negativen« Seite des kollektiven Gedächtnisses; sie werden aber andererseits nicht eliminiert, sondern bewahrt und bisweilen werden sogar neue Apokrypha komponiert, weil sie für die Selbst-Definition der Kirche wichtig sind. – Beattie präsentiert zwei unterschiedliche Auslegungen von Gen 3,12, von denen es nur eine in den christlichen Kanon geschafft hat: 1Tim 2,13–15. Die andere Interpretation findet sich im Wesen der Archonten aus der gnostischen Nag-Hammadi-Literatur (NHC II,4). Beide Deutungen unterliegen sozialen und kontextuellen Einflussfaktoren, und die Beobachtung, dass eine davon zum christlichen Kanon gehört, bedeutet für den heutigen Leser nicht, sie sei die allein richtige. – Schließlich weitet Lash den Blickwinkel auf die orthodoxe Kirche und ihren abweichenden Kanonumfang.
Der Band stellt eine willkommene Zu­sam­men­fassung des derzeitigen Diskussionsstands um die ge­schichtliche und systematische Entwicklung des christlichen Kanons dar; und auch wenn dies zwangsläufig selektiv und schlaglichtartig ge­schieht, so werden doch die wichtigsten Bereiche (Kanonteile, Qumranliteratur, Septuaginta, Neues Testament usw.) deutlich berücksichtigt. Das in der Einführung genannte Ziel, in frischer Weise ein Fenster in die gegenwärtige Debatte zu öffnen, darf man als erreicht ansehen.
Der zweite Sammelband vereinigt Studien von John Barton aus den letzten 20 Jahren, die nur geringfügig sprachlich überarbeitet wurden. Die Bandbreite der Themen wird durch B.s Interesse zu­sammengehalten, dass das Studium des Alten Testaments seiner Ansicht nach nicht in mehrere Einzeldisziplinen auseinanderfallen sollte (s. General Introduction, XV). Er sortiert seine Beiträge nach drei großen Bereichen, die jeweils eine eigene Einführung von etwa zwei Seiten Umfang erhalten. Unter dem Stichwort »Canon« verhandelt B. Grundsatzfragen der Kanonzugehörigkeit, der Me­thodenfrage (»Canonical Approaches«), der Geschichte (»Marcion Revisited«) und der Terminologie (»Old Testament or Hebrew Bible?«).
Das Oberthema »Literature« regiert hermeneutische und me­thodologische Fragestellungen der Bibelauslegung. Es geht um die Lektüre der Bibel als »Literatur«, um das Verhältnis von historisch-kritischer und literarischer Auslegung, um die Rolle der Theologie im Studium des Alten Testaments, um Vergangenheit (»Wellhausen’s Prolegomena to the History of Israel«) und Zukunft der Fachdisziplin sowie schließlich um die Auseinandersetzung mit neu­eren Auslegungsansätzen. B. hat seine eigenen An­merkun­gen zu machen zu Themen wie Endtextexegese (»Final Form«) und Reader-Response Criticism, aber auch über das Abfassen biblischer Kommentare. – Wenngleich B. immer wieder eine Lanze für historisch-kritische Ansätze bricht, so geht es ihm auch und vor allem um die Theologie, sein drittes Oberthema. Hier wird zunächst Grundsätzliches behandelt, wie der Anschluss an und das Weiterdenken von »Gerhard von Rad on the World-View of Early Israel«, die Frage der geschichtlichen Teleologie auf Christus hin und das Verhältnis von Historie und Rhetorik in den Propheten. Sodann verfolgt B. drei bibeltheologische Spezialthemen: der Messias in alttestamentlicher Theologie, der Bundesbegriff, der Tag Jahwes im Dodekapropheton.
Zweifellos ist B. ein scharfer Denker mit einem klaren, unverwechselbaren Profil. Dies wird auch aus dieser Zusammenstellung seiner Aufsätze zu Kanon, Literatur und Theologie des Alten Testaments deutlich. Insbesondere in den drei kurzen Einführungen bringt Barton seinen Ansatz auf den Punkt.