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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

158-160

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Werrett, Ian C.

Titel/Untertitel:

Ritual Purity and the Dead Sea Scrolls.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. X, 349 S. gr.8° = Studies on the Texts of the Desert of Judah, 72. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-90-04-15623-4.

Rezensent:

Michael Tilly

Die Vorstellung, dass die Schriftrollen von Qumran formal einen zusammenhängenden Textkorpus darstellen, der sich zudem inhaltlich als »essenische Bibliothek« beschreiben lässt, gilt längst nicht mehr als konsensfähig. In der für den Druck überarbeiteten und erweiterten Version seiner im Jahre 2006 an der University of St. Andrews eingereichten Dissertation unternimmt W. den Versuch, die Aussagen über das Konzept der rituellen Reinheit in den Textfunden vom Toten Meer einer systematischen Durchsicht zu unterziehen, ohne dabei die unterschiedlichen Aussagen der einzelnen Texte vorschnell miteinander in Beziehung zu setzen.
Die Einleitung (1–18) problematisiert die Verbindung zwischen den Texten aus den Höhlen, ihrem Trägerkreis und den Bewohnern der Qumransiedlung, bietet einen knappen Abriss der neueren Forschungsgeschichte und stellt den Aufbau und die Methodik der Untersuchung vor. In Kapitel 2 (19–106) untersucht W. zunächst die Be­stimmungen über Aussatz, unreine Tiere, Verunreinigung durch einen Leichnam, durch Genitalausfluss und durch sexuelle Vergehen in der Damaskusschrift. Er hält fest, dass der Autor bzw. Redaktor von CD vor allem die Angaben über die Beschau des von Aussatz Befallenen durch den Priester in Lev 13,1–59 systematisiert (30) und die biblischen Weisungen hinsichtlich reiner und unreiner Tiere erweitert bzw. sie miteinander verknüpft habe (33). Das Problem der Totenunreinheit werde hier hingegen kaum thema­tisiert (37). Neben deutlichen Abweichungen von den biblischen Geboten für mit unreinem Ausfluss behaftete Männer und Frauen (59) sei die besondere Ausführlichkeit der Regelungen hinsichtlich der Verunreinigung durch verschiedene sexuelle Vergehen hervorzuheben (93). W. hält die Existenz von mindestens zwei Redaktionsstufen in CD für wahrscheinlich, wobei der ältere Redaktor vor allem an einer Systematisierung der Reinheitsbestimmungen der Tora interessiert gewesen sei, während der jüngere »Serekh re­dactor« (106) mittels der Betonung des sittlichen Aspekts der Un­reinheit die Kompatibilität mit den entsprechenden Reinheitsgeboten in 1QS anstrebte.
Kapitel 3 (107–179) thematisiert das Konzept der rituellen Reinheit in der Tempelrolle, deren programmatische Bedeutung als »utopian document that does not reflect the actual state of affairs in Jerusalem at any point in its history« er wiederholt betont (135). Die Regelungen hinsichtlich Aussatz in 11Q19 und 11Q20 akzentuierten den lokalen Aspekt (119). Die Ausführlichkeit der Gebote über reine und unreine Tiere korrespondiere mit dem leitenden Interesse am Tempel und am Tempelopfer (129 f.). Dabei erkenne man »a tendency on the part of the author/redactor to elevate both the city of Jerusalem and the laity to a suspiciously high level of purity« (171). Auch hinsichtlich von Leichnamen und Ausflussbehafteten sei es hier besonders wichtig, die von ihnen ausgehende Unreinheit von der »Stadt des Heiligtums« möglichst fernzuhalten (152.158). W. hält es für möglich, dass der »ursprüngliche« Verfasser der Tempelrolle zunächst seine »unrealized vision for Israel, Jerusalem and the Temple« zum Ausdruck bringen wollte, ohne dabei auf »the Qumran community or its writings« (178 f.) Bezug zu nehmen (bzw. nehmen zu können). Erst bei der Rezeption und Tradition des Textes innerhalb dieser Gemeinschaft, die sich schließlich selbst als »a replacement for the Temple« verstand (179), sei ihm eine präskriptive Bedeutung zuerkannt worden.
In Kapitel 4 (180–209) geht es um eine gesonderte Untersuchung der Reinheitsbestimmungen in 4QMMT anhand der erhaltenen Textfragmente (4Q394–399). Der Befund lasse hier allerdings keine klaren Schlussfolgerungen zu (209). Gegen eine Rekonstruktion einer Reinheitshalacha bzw. strittiger gesetzlicher und ritueller Praktiken in dem »decidedly non-utopian text« 4QMMT auf der Basis vermeintlich paralleler Angaben in der Tempelrolle spreche insbesondere deren programmatischer Charakter (209). Das Konzept der rituellen Reinheit in weiteren Texten aus Höhle 4 (4Q159; 4Q249; 4Q251; 4Q265; 4Q274–278; 4Q284; 4Q414; 4Q472a; 4Q512–514) behandelt Kapitel 5 (210–264). Den archäologischen und paläographischen Übereinstimmungen dieser Texte entsprächen auffällige Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Inhalte und insbesondere der darin erkennbaren Methodik der Schriftdeutung (263).
Ein ausführlicher Vergleich des Befundes in den einzelnen Texten in Kapitel 6 (265–287) mündet in die Zusammenfassung der Arbeit in Kapitel 7 (288–305). W. merkt zunächst an, dass gerade hinsichtlich des Themas Totenunreinheit einige deutliche Übereinstimmungen zwischen den untersuchten Texten zu erkennen seien. Hierin sei nun aber kein gruppenspezifisches Merkmal zu erkennen, sondern ein Reflex des religiösen bzw. kulturellen Umfelds der Qumrangemeinschaft, zumal gerade Funeralbräuche im antiken Judentum besonders konservativ tradiert wurden (293). Wiederholt betont er, dass eine diachrone Lektüre der Quellenschriften weitaus sachgemäßer sei als die systematisierende Er­hebung »der« Reinheitshalacha in Qumran mittels einer Kombi­nation des einschlägigen Textmaterials. In der Tempelrolle seien keine »telltale signs of Qumran sectarianism« zu finden (299). In 4QMMT weise nichts auf eine Verbindung ritueller und sittlicher Aspekte des Reinheitskonzepts hin (303). Dagegen spiegele sich in jüngeren Schriften wie CD in seiner vorliegenden Endgestalt »the community’s ever-increasing tendency to conflate the concepts of ritual and moral impurity« wider (303). Was die untersuchten Texte allenfalls verbinde, ist der Gebrauch von Methoden der Textauslegung wie beispielsweise die Verknüpfung von halachischen Aussagen und ihre Weiterentwicklung mittels verschiedener Formen des Analogieschlusses (304 f.). Beigegeben sind eine Synopse der Parallelen hinsichtlich der Reinheitsgebote in der Tora und in den Schriftrollen von Qumran (307–309), eine ausführliche Bibliographie (311–326) sowie Verzeichnisse der modernen Autoren (327–329) und Stellen (330–349). Ein Sachregister fehlt.
Mittels präziser Textanalysen und in durchgehender Diskussion mit der neueren und gegenwärtigen Qumranforschung macht W. in überzeugender Weise deutlich, dass der Versuch einer harmonisierenden inhaltlichen Verknüpfung der hinsichtlich ihres Alters, ihrer Form und ihrer (z. B. programmatischen oder paränetischen) Funktion höchst differenten Texte vom Toten Meer nicht sachgemäß ist. Zudem weist er in zutreffender Weise auf die Notwendigkeit hin, den Entstehungsprozess der einzelnen Schriften mittels literar- und formkritischer Untersuchungen zu erhellen. Kritische Anfragen betreffen Einzelheiten: Repräsentiert das Werk des Flavius Josephus tatsächlich »reality« (174) oder muss nicht auch sein literarisch-fiktionaler Charakter Berücksichtigung finden? Kann die »Tora« der Qumrantexte generell mit dem Pentateuch gleichgesetzt werden (71 f.)? Generell bleibt die Beschreibung des Trägerkreises der Qumrantexte durch W. zu unbestimmt, ob­wohl er wiederholt von einer »sectarian community at Qumran« spricht (300). Die materialreiche und gründliche Arbeit stellt einen bedeutenden Beitrag zur Qumranforschung und zur Erhellung des Konzepts der rituellen Reinheit im antiken Judentum dar.