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Ausgabe:

Februar/2009

Spalte:

151-153

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bergo, Bettina, Cohen, Joseph, and Raphael Zagury-Orly [Eds.]

Titel/Untertitel:

Judeities. Questions for Jacques Derrida. Transl. by B. Bergo and M. B. Smith.

Verlag:

New York: Fordham University Press 2007. XIV, 279 S. gr.8° = Perspectives in Continental Philosophy. Kart. US$ 21,00. ISBN 978-0-8232-2642-9.

Rezensent:

Joseph Wohlmuth

Die englische Version basiert auf der französischen Originalausgabe Judéités. Questions pour Jacques Derrida (Paris 2003). Der in den englischen Titel übernommene Neologismus ›Judeities‹ verweist auf eine Vielfalt des Jüdischen. Die vorliegende deutsche Version erschien unter dem Titel »Judentümer« (Frankfurt 2006).
In seinem mit »Abraham, the Other« überschriebenen Beitrag (1–35) bringt Derrida in eindrücklichster Weise sein vielseitiges Œuvre mit seinen jüdischen Wurzeln und den damit verbundenen Erfahrungen in der Kindheit sowie mit seinem philosophischen Denkweg in Zusammenhang, wobei er sich mit drei Aspekten auseinandersetzt: 1. Die grammatikalische Unterscheidung zwischen erster, zweiter und dritter Person in der Umschreibung des Judentums bzw. Judeseins. 2. Die Unterscheidung zwischen einem ei­gentlichen/authentischen und uneigentlichen/unauthentischen Juden. 3. Die Unterscheidung zwischen dem Jüdischsein (jewishness) und dem Wesen des Judentums bzw. der Judentümer (judeity/judeities). Da der Terminus ›Judaismus‹ im Deutschen weniger geläufig ist, würde ich judaism lieber mit ›Judentum‹ und jewishness mit Jüdischsein im Sinn des Wesens des Judentums übersetzen. Judeities wäre mit ›Judentümer‹ einigermaßen getroffen, wenn man das auf das Wesen reduzierte Jüdischsein gewissermaßen als wesentlich plurale Größe versteht und es auf das konzentriert, was Derrida in seinen Schlusssätzen schreibt.
Um den einzigartigen Text Derridas ranken sich die übrigen Beiträge, die je verschiedene Aspekte seines Denkens behandeln. G. Bensussan zeigt unter dem Titel The Last, The Remnant … [Der Letzte, der Rest …] in einer brillanten Analyse die Beziehung Derridas zu Rosenzweig auf (36–51). H. Cixous schreibt aus biographischer Nähe zu Derrida einen Essay besonderer Art, wie schon der Titel zeigt (This Stranjew Body [Dieser fremdjüdische Körper]) (52–76). M. Ben Naftali, The Story of a Friendship [Geschichte einer Freundschaft] befasst sich mit Derridas Studie Politik der Freundschaft und exemplifiziert sie – von Franz Kafka her – an der schwierigen Freundschaft zwischen Scholem und Benjamin und ihrer Einstellung zu Palästina (78–110).
Eine ganz andere Seite behandelt M. Idel, indem er Derrida von den kabbalistischen Quellen her auf sehr überraschende Weise deutet (111–130). In einem kurzen Beitrag, Historicity and Dif­férance (131–141), bearbeitet G. Vattimo drei Fragen: 1. Gibt es eine Ge­schichte Derridas? 2. Gibt es Ge­schichte bei Derrida? 3. Gibt es einen philosophischen Geschichtsbegriff bei ihm? Es herrscht Skepsis bei der Beantwortung dieser Fragen. J. Habermas, How to Answer the Ethical Question [Wie soll man die ethische Frage beantworten] (142–154), kommt in Auseinandersetzung mit Heideggers Stellung zur Ethik und zur Gottesfrage zu der Schlussthese, Derridas Annäherung an Heideggers Spätphilosophie sei eher theologisch als vorsokratisch, eher jüdisch als griechisch. In der Ethikbegründung stehe er nahe bei Levinas. J. Cohen und R. Za­gury-Orly überschreiben ihren Beitrag mit Derridas Ausdruck A Monster of Faithfulness [Ein Monster an Treue …] (155–174) und gehen der Frage nach, ob eine Liebesbeziehung in Sprache übersetzt werden kann, ohne dass sie ihre Singularität preisgeben muss. Einem dialektischen Modell (Hegel), das sie als christ­liches verstehen, und dem jüdisch verstandenen Levinasschen Modell stellen die Autoren schließlich das Derridasche Mo­dell gegenüber, der vom »monster of faithfulness« spreche und dieses mit dem ganz und gar perversen Ungläubigen (most perverse infidel) gleichsetze.
Unter dem Titel The Shibboleth Effect: On Reading Paul Celan (175–213) stellt H. de Vries Derrida als Interpreten Paul Celans an­hand seines Gedichts Schibboleth vor und führt aus, es komme nicht auf die Bedeutung des Wortes an, sondern auf dessen Aussprache (vgl. Ri 12,5 f.). So werde es zum Erkennungszeichen, weshalb Celan auch das Gedicht als »Geste« verstehe (183). Es werde zur Gabe und Zeitansage, zum schicksalhaft Einmaligen der Sprache (vgl. Zit. 188). »Daten«, d. h. zeitliche Vorgänge, führen aber letztlich zur Asche. Religion vor der Religion beginne bei Derrida im Segnen der »Daten« (195). In einem intensiven Gespräch mit Heideggers Zeitverständnis zeigt de Vries, dass Zeit nicht nur Gabe, sondern auch Absurdität bedeuten könne (203). Ein sehr anregender Beitrag für die Derrida-Celan-Forschung. Dem Rezensenten ist nicht bekannt, warum der Aufsatz der französischen und deutschen Ausgabe [Im Umkreis des Theologisch-Politischen] ersetzt wurde. Der letzte Beitrag von J.-L. Nancy befasst sich unter dem Titel The Judeo-Christian (214–233) mit dem Jakobusbrief und liest ihn als Zeugnis eines Juden-Christentums, das Wert darauf legt, dass die Tora getan, nicht nur geglaubt wird.
Alle, die sich mit Derridas Verhältnis zum ›Judentum‹ befassen wollen, finden in seinem eigenen Beitrag eine grundlegende Orientierung. Sie ist getragen von der tiefen Sorge, das konkrete Judentum könnte durch die Dogmatisierung seiner Traditionen seine universale Bedeutung für eine Humanität der Verantwortung verspielen. Zumal bei Derrida, aber ebenso in den übrigen Beiträgen stehen immer wieder Fragen zur Debatte, die auch die christliche Theologie betreffen. Insbesondere stellt sich mir hintergründig die Frage, ob sich das Christentum darin erschöpft, eine Religion der Ja-Nein-Logik zu sein, wenn doch selbst das ewige WORT, der Logos, auf den ursprunglosen Ursprung absoluter Grundlosigkeit der Gottheit zu reduzieren ist. Ferner wäre zu fragen: Wie steht Jesus von Nazareth zu Abraham? Woher kommt es, dass Jesus sich seiner Berufung sicher zu sein schien? Wird diese Sicherheit durch seine Hinrichtung zerbrochen? Bedeutet die messianische Jesusinterpretation des frühen Christentums etwa eine dogmatische Ze­mentierung, die dem Glaubenden die Frage erspart, ob er von Jesus her auch mit Derridas Frage nach dem anderen Abraham konfrontiert wird? – Das Risiko des Glaubens und das Handeln aus universaler Verantwortung dürften für den Christen nicht weniger gegeben sein, als es sich für Derridas Denken darstellt, das sich – auf dem Boden des faktischen Judentums stehend – um die Erfassung seines Wesens bemüht.