Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1030–1032

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Mühlen, Karl-Heinz zur]; Hrsg. v. J. Brosseder, A. Lexutt, W. Janssen, V. Ortmann u. J. Remy

Titel/Untertitel:

Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 408 S. gr. 8°. DM 98,­. ISBN 3-525-58162-9

Rezensent:

Albrecht Beutel

Am 16. März 1995 vollendete der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn lehrende Kirchenhistoriker Karl-Heinz zur Mühlen sein 60. Lebensjahr. Aus diesem Anlaß haben Johannes Brosseder und Athina Lexutt einige "Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation" aus der Feder des Jubilars zusammengestellt. Sie geben in der Tat "Reformatorisches Profil" zu erkennen: nicht nur hinsichtlich der behandelten Sachaspekte, sondern ebenso hinsichtlich der theologischen Kenntlichkeit des Vf.s.

Der Band umfaßt 19 Einzelbeiträge, die, annähernd gleichmäßig, zwischen 1973 und 1992 erschienen sind. Teils handelt es sich um fachwissenschaftliche Spezialstudien, teils um eher allgemeinverständliche Abhandlungen. Ihre Aufteilung in fünf Kapitel ist nicht sehr trennscharf geraten; durchgehend stehen die kirchen- und theologiegeschichtliche Bedeutung Martin Luthers sowie die aus systematisch-theologischem und kirchlich-praktischem Interesse geborene Frage der problemgeschichtlichen Kontinuität im Mittelpunkt des Interesses.

Den Auftakt macht eine frühe Studie "Zur Rezeption der Augustinischen Formel ´Accedit verbum ad elementum, et fit sacramentum´ in der Theologie Luthers" (13-39). Auf dem Hintergrund der augustinischen und franziskanischen Sakramentslehre gewinnt die Lehrentwicklung bei Luther Profil: Nach anfänglicher, bis etwa 1519 anhaltender Zurückhaltung entfaltet er im Kontext des reformatorischen Wortverständnisses auch sein auf die Relation von Wort und Glaube konstitutiv bezogenes Sakramentsverständnis. Im Sinne eines produktiven Mißverständnisses rückt dabei die augustinische Formel bei Luther in einen ganz neuen, durch die Externität des Wortes Gottes bestimmten Verstehenshorizont.

Eine minutiöse Untersuchung widmet sich "Luthers Kritik am scholastischen Aristotelismus in der 25. These der ´Heidelberger Disputation´ von 1518" (40-65). Hier vermag der Vf. zu zeigen, daß Luther der mittelalterlichen Aristoteles-Kritik zwar durchaus verschiedene Impulse verdankt, sie aber doch insofern entscheidend überbietet, als er die aporetische Struktur der dort suggerierten Vermittlungsmöglichkeit von christlicher und aristotelischer Ontologie freigelegt hat.

Nach zwei eher allgemein gehaltenen Beiträgen, die Luthers Verhältnis zu den Traditionen der Mystik bestimmen (66-100), hat die Untersuchung der "Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Reformationszeit" geradezu kompendiösen Charakter. Als der entscheidende Differenzpunkt tritt dabei hervor, daß "im Mittelalter die Affektenlehre primär im Rahmen einer metaphysischen Psychologie gedacht" worden ist, in der Reformationszeit hingegen als eine den ganzen Menschen fokussierende "empirisch beschreibende Psychologie der Affekte" (120).

Nach einer traditionsgeschichtlichen Rekonstruktion von Luthers Gotteslehre (123-138) untersuchen zwei Beiträge dessen Begriff und Kritik der Vernunft (141-173). Hier gelingt es zur Mühlen, in souveräner (und wohl auf seine leitende Mitarbeit am Tübinger Luther-Register zurückgehender) Kennerschaft des einschlägigen Textbestands als das in aller materialen Differenziertheit grundstürzend Neue herauszuarbeiten, daß Luther, indem er die menschliche ratio einer konsequenten "soteriologischen Entlastung" unterzieht, zugleich "ihre Befreiung zu wahrhaft säkularer Praxis in der Welt" möglich gemacht hat und insofern die Säkularisierung der Vernunft als eine legitime Folge reformatorischer Theologie zu begreifen erlaubt (153). Weitere Luther-Studien widmen sich der Heidelberger Disputation (174-198), der zumal für den jungen Luther fundamentalen Unterscheidung des inneren und äußeren Menschen (199-207) sowie dem in "De servo arbitrio" zutage tretenden Verhältnis von Gotteslehre und Schriftverständnis (208-223). In einer wiederum kompendiösen Dichte rekonstruiert zur Mühlen sodann die einzelnen Phasen, in die sich "Luthers Tauflehre und seine Stellung zu den Täufern" differenzieren läßt (227-258). Den radikalen Flügel der Reformation nimmt ebenso eine Studie zu "Heiliger Geist und Heilige Schrift bei Thomas Müntzer" (259-278) in den Blick.

In seinem Tübinger Habilitationsvortrag "Die Einigung über den Rechtfertigungsartikel auf dem Regensburger Religionsgespräch von 1541 ­ eine verpaßte Chance?" (281-309) vermag zur Mühlen aufgrund differenzierter historischer und theologischer Rekonstruktionsarbeit plausibel zu machen, daß man in dieser Hinsicht auch protestantischerseits mit J. Lortz von einer "tragisch verpaßte[n] Gelegenheit" zu sprechen allen Anlaß hat:

Eine unbestreitbare Chance lag darin, daß Gropper und Contarini als die zwei bedeutendsten katholischen Gesprächspartner in Regensburg die zentralen Anliegen der neuen reformatorischen Theologie durchaus verstanden hatten und aufzunehmen bereit waren. Doch wurde diese Chance insofern "tragisch verpaßt", als deren "vom Aristotelismus bestimmtes Denken... für eine theologische Verantwortung jener neuen Fragen keinen orientierungsfähigen Denkhorizont" (305) abgeben konnte. Aus diesem thematischen Interesse ist dem Vf. inzwischen eine umfangreiche Editionsarbeit erwachsen, über deren historischen Gegenstand und theologisch-ökumenische Bedeutung der Beitrag über "Die Edition der Akten und Berichte der Religionsgespräche von Hagenau und Worms 1540/41" (310-324) Auskunft gibt.

Ein abschließender Themenkreis widmet sich dem noch immer kontrovers diskutierten Verhältnis von "Reformation und Neuzeit". Der erste Beitrag arbeitet in dieser Hinsicht und unter kritischer Bezugnahme auf die einschlägigen Thesen von Marcuse, Scheler und Habermas die Bedeutung von Luthers Freiheitsverständnis heraus (327-342). "Die von Luther herkommende Komponente der Aufklärung in Deutschland" ( 343-361) wird sodann, nach einer summarischen Übersicht zu Orthodoxie und Pietismus, v. a. bei Semler, Lessing und Kant namhaft gemacht und in einem längsschnittartigen Ausgriff auf Neuprotestantismus und dialektische Theologie auch wirkungsgeschichtlich profiliert. Zwei Studien über "Die Aufklärung in Nordamerika auf dem Hintergrund der lutherischen Reformation" (362-379) und "Gogartens Kritik der neuzeitlichen Vernunft unter Berufung auf die Theologie Martin Luthers" (380-400) treten ergänzend hinzu.

Der Band vermag, alles in allem, den Verlauf eines sehr respektablen, nahezu ein Vierteljahrhundert durchmessenden Forschungswegs sichtbar zu machen. Daß das Bewußtsein der eigenen theologischen Verantwortung für die Arbeit des Kirchenhistorikers nicht hinderlich, vielmehr in hohem Maße förderlich ist, zeigt sich in jedem einzelnen dieser neunzehn Profile. Nicht zuletzt darin erweisen sie sich, dem Titel gemäß, als reformatorisch. Daß der Band die unterschiedlichen Satzspiegel der Erstveröffentlichungen größtenteils übernommen hat, weshalb denn auch die Anmerkungen teils als Fuß-, teils als Endnoten erscheinen, bleibt demgegenüber ein sehr äußerlicher Schönheitsfehler.