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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1028–1030

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Hübner, Hans]; Zum 65. Geburtstag hrsg. v. A. u. M. Labahn

Titel/Untertitel:

Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 310 S. gr. 8°. DM 84,­. ISBN 3-525-53635-6.

Rezensent:

Thomas Söding

Zum 65. Geburtstag ihres Lehrers hat das Ehepaar Labahn wichtige Aufsätze Hans Hübners zur Biblischen Theologie und Hermeneutik gesammelt und herausgegeben. Das Erscheinen des Sammelbandes trifft auf glückliche Weise mit dem Abschluß der Trilogie "Biblische Theologie des Neuen Testaments" (1990-1995) zusammen, die Hübner im selben Verlag publiziert hat. Der Aufsatzband hat sein eigenes Gewicht; er gewinnt aber nicht zuletzt als Begleitung des Hauptwerkes an Interesse. Das Leitmotiv der Biblischen Theologie Hübners ist die Unterscheidung zwischen dem "Vetus Testamentum per se" und dem "Vetus Testamentum in Novo receptum"; seine "Biblische Theologie" ist dem detaillierten Nachweis gewidmet, daß zwar das (griechische) Alte Testament in seiner Rezeption durch die ntl. Autoren von grundlegender Bedeutung für die Konstituierung der ntl. Theologien ist, daß aber zugleich die Distanz zur historisch-kritisch eruierbaren Ursprungsbedeutung der atl. Schriften an sehr vielen, gerade an zentralen Einzelstellen und deshalb im ganzen unübersehbar und unüberbrückbar sei, während es an anderen essentiellen Stellen fundamentale Übereinstimmung zwischen dem Ursprungssinn und der ntl. Rezeption eines atl. Schriftwortes gebe; kanonischen Rang für die Christenheit könne mithin nicht das Alte Testament "an sich", sondern nur das im Neuen Testament rezipierte "Alte" Testament haben.

Das Leitmotiv der biblischen Hermeneutik Hübners ist eine radikale Erneuerung der existenzialen Interpretation Rudolf Bultmanns ­ radikal, insofern Hübner Bultmann von Heidegger her zu verstehen und weiterzudenken versucht. Bultmann sei vor allem darin zu widersprechen, daß es nur auf das "Daß" des Gekommenseins Jesu ankomme (vgl. Bibl. Theol. III 254. 259); wegweisend sei aber nach wie vor sein Ansatz einer anthropologischen Reflexion des Offenbarungsgeschehens auf dem Boden der existenzialen Daseinsanalyse Heideggers. Beide Leitmotive klingen bei Hübner untrennbar zusammen: Weil er unter dem Einfluß Bultmanns mit allem Nachdruck sowohl das pro nobis Gottes als auch die Präsenz seiner Wahrheit im gepredigten Wort des Evangeliums betont, kann er das Zeugnis des Alten Testaments in seiner kanonischen Bedeutung für Christen auf das reduzieren, was es, ntl. rezipiert, im Evangelium Jesu Christi zu sagen hat.

Der Aufsatzband versammelt die Vor- und Nebenarbeiten Hübners zu seiner "Biblischen Theologie". Es wird einerseits deutlich, wie stringent sie aus den tief gestaffelten exegetischen, historischen und hermeneutischen Studien Hübners hervorwächst; andererseits bieten die Aufsätze Gelegenheit, wissenschaftliche Argumentationen und Kontroversen an den entscheidenden Knotenpunkten ausführlicher, als es in der "Theologie" möglich sein konnte, nachzuvollziehen.

Die in chronologischer Folge abgedruckten (zwischen 1975 und 1994 entstandenen) Beiträge lassen sich thematisch in drei Gruppen ordnen.

1) Der Konzeption einer "Biblischen Theologie" sind drei Aufsätze gewidmet: In der (laut Untertitel) "programmatischen Skizze" über "Biblische Theologie und Theologie des Neuen Testaments" (69-87 [1981]) plädiert Hübner dafür, in der Untersuchung der ntl. Schriftzitate den Schlüssel zu einer "Biblischen Theologie" zu sehen. Diese Linie zieht er in "Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum. Die Frage nach dem Kanon des Alten Testaments aus neutestamentlicher Sicht" (175-191 [1988]) weiter aus; hier findet sich das Programm seiner "Biblischen Theologie". Die Verbindung mit der Tradition geistlicher Schriftlesung und der traditionellen Vorstellung eines sensus plenior sucht der Vortrag vor der Romano-Guardini-Stiftung "Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn: Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum" (286-293 [1994]).

Diesen hermeneutisch angelegten Arbeiten treten weitere drei exegetisch-thematische Studien zur Seite: Im Zusammenhang der Diskussion des Synodalbeschlusses der Rheinischen Landeskirche von 1980 "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" steht der Beitrag "Der ´Messias´ Israels und der Christus des Neuen Testaments (87-109 [1981]), der die gravierenden Unterschiede zwischen den atl. und ntl. Messias-Vorstellungen aufzeigt und die Relevanz dieser Differenz für das jüdisch-christliche Gespräch reflektiert. Die Göttinger Antrittsvorlesung "Sühne und Versöhnung. Anmerkungen zu einem umstrittenen Kapitel Biblischer Theologi" (110-131 [1983]) untersucht in eigenständiger Weise die bibel-theologische Tragweite atl. und ntl. Sühneaussagen. Im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen entstand der Beitrag "Der Heilige Geist in der Heiligen Schrift" (202-228 [1990]), in dem Hübner, ausgehend von ntl. Positionen, die Perspektive einer gesamtbiblischen Pneumatologie öffnet.

2) Der Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmanns Konzeption existentialer Interpretation und ihren Kritikern sind gleichfalls drei Beiträge gewidmet. Wichtige Klarstellungen zu Bultmanns häufig verzeichneter Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium im Hinblick auf das Alte Testament trifft die Studie "Rudolf Bultmann und das Alte Testament" (152-154 [1984]). Über den Dialog zwischen Bultmann und Gogarten informiert "Das Neue Testament im theologischen Denken Friedrich Gogartens. Rückblick auf einen Abschnitt Göttinger Theologiegeschichte" (191-201 [1988]). Besonders erhellend ist der Versuch einer Antwort auf die Frage: "Was ist existentiale Interpretation?" (229-251 [1991]), nicht zuletzt, weil die Beziehungen zwischen Bultmann und Heidegger genau aufgearbeitet werden.

3) Schließlich bildet die Interpretation der paulinischen Theologie einen Schwerpunkt des Bandes. Die sieben einschlägigen Aufsätze sind im näheren und weiteren Umfeld der beiden Monographien "Das Gesetz bei Paulus" (1978.31982) und "Gottes Ich und Israel" (1984) angesiedelt, öffnen aber immer auch den Blick auf die Biblische Theologie und Hermeneutik des Neuen Testaments. In "Das ganze und das eine Gesetz. Zum Problemkreis Paulus und die Stoa" (9-26 [1975]) und "Identitätsverlust und paulinische Theologie. Anmerkungen zum Galaterbrief" (27-39 [1978]) führt Hübner die Diskussion der Thesen seiner Monographie weiter. Der Aufsatz "Pauli Theologiae Proprium" (40-68 [1980]) bezieht in die Diskussion einer Entwicklung der paulinischen Theologie den Ersten Thessalonicherbrief ein und führt vor diesem Hintergrund in konstruktiver Weise die Diskussion mit A. Schweitzer und vor allem mit E. P. Sanders.

Die Studie "Der vergessene Baruch. Zur Baruch-Rezeption in 1Kor 1,18-31" (155-165 [1984]) begründet nicht nur die These, daß 1Kor 1,18-31 sich indirekt mit Bar 3,9-4,4 auseinandersetze, sondern sieht darin auch einen Beleg dafür, daß die ntl. Autoren konstitutiv die Septuaginta als ihre "Heilige Schrift" vorausgesetzt haben. Der Beitrag "Was heißt bei Paulus ,Werke des GesetzesŒ" (166-174 [1985]) sucht nochmals und im ganzen überzeugend die kritische Auseinandersetzung mit Sanders, aber auch mit Dunns Rekurs auf sog. "identity markers². Die ausführliche Rezension "Intertextualität ­ die hermeneutische Strategie des Paulus? Zu einem neuen Versuch der theologischen Rezeption des Alten Testaments im Neuen" (252-271 [1991]) setzt sich kritisch mit R. B. Hays "Echoes of Scripture in the Letters of Paul² auseinander. In seiner "hermeneutische(n) und theologische(n) Besinnung" über "Rechtfertigung und Sühne bei Paulus" (272-285 [1993]) vermag der Autor aus dem gegenwärtig die Forschungsszene beherrschenden Streit zwischen Stuhlmacher und Breytenbach um die Traditionsgeschichte insofern hinauszuführen, als er, nicht ohne gezielte Besprechung mythischer Texte, von ihrer anthropologischen Erschließungsfunktion her einen neuen Zugang zur Theologie des stellvertretenden Sühnetodes Jesu sucht.

Abgeschlossen wird der Bd. durch eine Bibliographie, die zeigt, wie scharf die Herausgeber angesichts der hohen Produktivität des Vf.s auswählen mußten, und durch sorgfältig gearbeitete Register, die der Benutzbarkeit des Buches zugute kommen.

Es ist hier nicht der Ort einer detaillierten Einzelkritik. Die herausragende exegetische Qualität der Beiträge kann ebenso wenig in Frage stehen wie ihr charakteristisches hermeneutisches Profil und ihre inspirierende Kraft für die weitere Forschung. Mit der Differenzierung zwischen dem "Vetus Testamentum" und dem "Vetus Testamentum in Novo receptum" weist Hübner auf ein gravierendes fundamentaltheologisches Problem hin, das in den Konzepten Biblischer Theologie von Brevard S. Childs und Peter Stuhlmacher so nicht in den Blick kommt. Sein wiederholtes Plädoyer für ein Weiterdenken der Anthropologie Bultmanns ist höchst bedenkenswert, zumal in der (vielleicht nun auch schon überwundenen) Phase einer tendenziellen Soziologisierung und Funktionalisierung der Theologie und einer vielfach ebenso flachen wie aggressiven Bultmann-Kritik. Vor allem ist es die Verflechtung exegetisch- und systematisch-theologischer Forschungen, die den großen Wert der Studien sowohl für die ntl. Exegese als auch für Fundamentaltheologie begründen.

Verschwiegen sei nicht, daß der Rez. einer Konzeption Biblischer Theologie zuneigt, die das Alte Testament in seiner ganzen Länge und Breite auch hinsichtlich seines christologisch nicht vereinnehmbaren Ursprungssinns als unverzichtbaren und grundlegenden Teil des christlichen Kanons würdigt, weil es das inspirierte Dokument der Glaubensgeschichte Israels ist, mit der die Ekklesia wurzelhaft verbunden ist, und daß er den Optimismus hegt, diese Einschätzung sei auch mit der Sicht der Bibel Israels im Neuen Testament zu begründen. Und es muß an den Autor auch die Rückfrage erlaubt sein, ob er in seiner Bultmann-Rezeption, so erhellend, kritisch und weiterführend sie ist, kritisch genug verfährt, wenn er dessen Subjektbegriff nicht weiter öffnet in die Richtung jenes geschichtlich und transzendentaltheologischen Relationsdenkens, das die schon von Käsemann kritisierten idealistischen Prämissen Bultmanns allererst zu überwinden imstande wäre (vgl. dazu aber auch NTS 21 [1975/75] 462-488); der Dialog nicht nur mit Rahner, sondern auch mit von Balthasar, den Hübner bereits begonnen hat (Bibl. Theol. I 111, Anm. 316; Was ist Biblische Theologie?, in: Dohmen/Söding [Hrsg.], Zwei Testamente ­ eine Heilige Schrift [UTB 1893], Paderborn 1995, 210) dürfte auf diesem Denkweg ebenso fruchtbar sein wie eine Auseinandersetzung etwa mit Levinas.

Doch bewegen sich diese Einwände auf dem Niveau grundsätzlicher Erwägungen, die nicht die Qualität der vorliegenden Studien in Frage stellen und die kontrovers zu diskutieren einem anderen Forum vorbehalten bleiben muß. Überdies: Jede künftige Biblische Theologie wird sich mit dem von Hübner aufgewiesenen Grundproblem auseinanderzusetzen haben, daß zwischen den Ursprungssinnen und den ntl. Rezeptionen atl. Texte nicht nur einerseits essentielle Koinzidenzien, sondern auch andererseits essentielle Divergenzen herrschen. Und: Die anthropologische Dimension grundlegender Themen ntl. Theologie im Zuge einer Neuaneignung der Existenzialanalyse Heideggers darzulegen, ist ­ vor und nach jeder Kritik ­ eine Stärke des Ansatzes Hübners.

Für die gute Auswahl und Präsentation der Beiträge gebührt den beiden Hgg. Dank. Auch wer die einzelnen Studien bereits kannte, wird sie in ihrem jetzt deutlich sichtbar gemachten Zusammenhang mit großem Gewinn studieren können.