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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

114-116

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hartlieb, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XVI, 390 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 136. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-018891-2.

Rezensent:

Dorothee Schlenke

Die Marburger Habilitationsschrift von E. Hartlieb verbindet die theologische Schleiermacherforschung mit gendertheoretischen Fragestellungen. Unter Aufnahme der feministisch orientierten, allerdings weitgehend auf den frühen Schleiermacher konzentrierten Arbeiten aus der amerikanischen und deutschen (auf die Romantik bezogenen) Schleiermacher-Forschung (13–17) legt H. erstmals eine umfassende, sozial- und geistesgeschichtlich kontextualisierte Rekonstruktion der Genese und Entfaltung der Ge­schlechterdifferenz in Schleiermachers Schriften vor und erhellt ihre systematische Funktion für sein Denken insgesamt. Das dabei leitende emanzipatorische Interesse an »der Erweiterung weiblicher Freiheitsräume und Handlungsoptionen sowie der Förderung der Subjektwerdung von Frauen mit dem Ziel der Geschlechtergerechtigkeit« (59 f., Anm. 5) erfordert die eigene gendertheoretische Positionierung (Kapitel I): Trotz grundsätzlicher Übereinstimmung (2–9) mit der (de)konstruktivistischen Kritik des differenztheore­tischen Verständnisses von Geschlecht, d. h. der naturalistisch konturierten Unterscheidung von sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziokulturelles Geschlecht) und der Vorstellung binärer Geschlechterdifferenz hält H. aus diskurspragmatischen Gründen an den Begriffen Ge­schlecht (sex/gender) und (binärer) Geschlechterdifferenz fest, versteht sie aber dezidiert als »soziokulturelle Konstrukte« (6). Damit verbindet sich die »entscheidende analytische Prämisse« dieser Arbeit, nämlich die Verwendung des Begriffs der Geschlechterdifferenz als »elementaren anthropologischen Differenzbegriff« einerseits und als »kulturelles Deutungsmuster, ... an dem theologische Aussagen partizipieren« andererseits (19). Dass dieser doppelte analytische Blick die stete Unterscheidung wie Verschränkung der systematisch-rekonstruktiven Argumentationsebene mit historisch-materialen Darstellungsaspekten erfordert, zeigt sich bereits in der vorgeschalteten Interpretation der Weih­nachtsfeier (Kapitel II), die in heuristischer Funktion Grundlinien der Relationierung von Religion und Geschlecht einleitend skizziert.
Für Schleiermachers Entdeckung der Geschlechterdifferenz (Kapitel III) weist H. nach, dass sie durch sein frühes Interesse an einer Theorie sittlicher Individualität motiviert ist, welches ihn bereits in den Grundlinien zu einem doppelten Verständnis von Ge­schlecht als (138) »elementare anthropologische Bestimmung des Menschen« (Dimension der Individualität) und als »kulturelles Strukturprinzip« (sittliche Funktion) führe. Im Brouillon werde diese Vorstellung unter Aufnahme zeitgenössischer Konzepte (78–95) im Begriff des Geschlechtscharakters als polar-komplementärer Ausdifferenzierung der generativen Funktion fokussiert und in der philosophischen Ethik dann auch terminologisch als Geschlech­terdifferenz präzisiert. Frühromantische Konzepte egalitärer Ge­schlechterverhältnisse und die religiöse Pointierung des individuelle Selbstüberschreitung und so Einheitserfahrung ermöglichenden erotischen Liebesbegriffs werden schon im Brouillon über Ehe und Familie sittlich funktionalisiert. In seiner inhaltlichen Bestimmung des Geschlechtscharakters (142 ff.) nehme Schleiermacher bereits eine Genderkodierung seiner kategorialen Leit­begriffe vor (Weiblichkeit: Rezeptivität, Gefühl; Männlichkeit: Spontaneität, Denken), so dass die darauf basierende ethische Platz­anweisung der Geschlechter die bürgerliche Trennung von Pri­vatsphäre (Frau als Ehefrau, Mutter und Hausfrau) und Öffentlichkeit (Mann als vernünftig handelnder Bürger) affirmiere.
In der späteren, wissenschaftssystematischen Entfaltung der Geschlechterdifferenz (Kapitel IV) setzt Schleiermacher nach H. diese Linie in der philosophischen Ethik (166–185), der Psychologie (186–193) sowie bildungspraktisch in seiner Pädagogik (193–205) fort. Während die Sittenlehre (205–214) die allgemeine Sittlichkeit von Ehe und Familie durch deren ekklesiologisch ausgelegte Funktion für die Verbreitung des Christentums christlich transformiere, vermittelten die Ehepredigten von 1818 (214–223) die egalitäre Binnenrelation der Geschlechter qua personaler Liebe über den Begriff der »göttliche[n] Ordnung« (226) mit der asymmetrischen sozialen Rollenzuweisung.
Dass Schleiermachers Konzept der komplementären Ge­schlech­ts­charaktere in eine Genderkodierung der Religion (Kapitel V) mündet, zeige sich in den Reden (241–278) durch »ein gänzlich weiblich kodiertes Verständnis von Religion« (277) im Blick auf das religiöse Subjekt (Rezeptivität qua Gefühl) und die weibliche Metaphorisierung des Absoluten, welchem qua Anschauungsbegriff (256 f.) die männliche Kodierung der Theologie als Wissenschaft korrespondiere. In der Einleitung zur Glaubenslehre (284–314) entfalle jedoch die Genderkodierung der Frömmigkeit, da Schleiermacher hier auf einer transzendentaltheoretischen und insofern notwendig genderneutralen Ebene des Gefühlsbegriffs als unmittelbarem Selbstbewusstsein argumentiere, was jedoch den Einfluss geschlechtsspezifischer Differenzen auf die theologiegeschichtliche Ausformung einzelner dogmatischer Loci (288–294) nicht ausschließe. Darüber hinaus verweise die notwendige Konkretion des Unmittelbaren am sinnlichen Selbstbewusstsein auf geschlechtsdifferente und somit strukturell plurale Ausdrucks­formen des Glaubens. Hier hätte sich eine Bewährung dieser These an Schleiermachers ethischem Begriff religiöser Gefühlsmitteilung (individuelles Symbolisieren) ebenso angeboten wie ein vertiefter Blick in die dogmatische Gnadenlehre, auf die H. nur summarisch verweist (349 f.). Die gleichsam »subkutan« (314) über den Begriff der Rezeptivität verlaufende weibliche Kodierung des frommen Selbstbewusstseins als dem prädiskursiven Ort der Einheitserfahrung endlicher Subjektivität versteht H. im Effekt als »camouflierte« Kritik Schleiermachers an der funktionalen Dif­ferenz der Geschlechter wie an der Dominanz zweckrationaler männlicher Selbsttätigkeit im bürgerlichen Modernisierungsprozess; eine Kritik, die jedoch sozialethisch folgenlos und insofern rein kompensatorisch bleibe.
Für eine gegenwärtige Theologie unter der Signatur der Ge­schlechterdifferenz (Kapitel VI) haben Schleiermachers Verständnis der Geschlechterdifferenz und seine weibliche Kodierung der Fröm­migkeit nach H. »nur noch theologiegeschichtliche Bedeutung« (345), da sie »androzentrisch korrumpiert«, gendertheoretisch überholt und sozial »unattraktiv« sind (347). Feministisch anschlussfähig hingegen sei seine subjektivitätstheoretische Grundeinsicht in die vorgängig passive und daher nur rezeptiv, qua Gefühl einzuholende Konstitution endlicher Subjektivität, die eine unhintergehbare Pluralität empirischer Subjektivität und ihrer religiösen Ausdrucksformen impliziere. Für diese strukturelle Pluralität bilde die Geschlechtsdifferenz ein zwar anthropologisch ausgezeichnetes (363), gleichwohl jedoch problematisches und keineswegs erforderliches Paradigma (356). Die grundsätzliche Spannung zwischen plural-partikularer geschöpflicher Endlichkeit und egalitärer Gott­ebenbildlichkeit (Gen 1,26–28) sieht H. konstruktiv vermittelt in der Verheißung eschatologischer Christusgemeinschaft (Gal 3,26–28) als einer »differenten Einheit« (362), welche die Theologie angesichts der soziokulturellen Bedeutung der Kategorie Geschlecht zu gendersensibler, kontextueller Arbeit verpflichte.
Die gelungene Verknüpfung von theologischen und gender­theo­retischen Fragestellungen eröffnet auf dem Wege eindringlicher Textanalysen manchen neuen Blick auf bekannte Theolo­gumena Schleiermachers. Insgesamt ist bei H. ein Changieren zwischen differenztheoretischer und (de)konstruktivistischer Op­tion zu spüren, denn auch im Rahmen einer (de)konstruktivis­tischen Position bleibt, wie H. selbst zugesteht (60, Anm. 5), die Persistenz binärer performativer Geschlechtskonstitution erläuterungsbedürftig. Die Beibehaltung der »Signatur der Geschlechter differenz« er­scheint nur dann sinnvoll, wenn damit auch ge­schlechtsspezifische Inhalte und Konkretionen eingeholt werden. Dass aber – unter welchem gendertheoretischen Paradigma auch immer – auf den Höhen systematisch-theologischer Reflexion kontextuelle Gendersensibilität eine unumgängliche Aufgabe bleibt, das stellt diese Arbeit überzeugend und nachhaltig heraus.