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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

107-109

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rorty, Richard

Titel/Untertitel:

Objectivity, Relativism, and Truth.

Verlag:

Cam­bridge: Cambridge University Press 2006. X, 226 S. gr.8° = Philosophical Papers, 1. Kart. £ 20,99. ISBN 978-0-521-35877-4.

Rezensent:

Hans-Peter Großhans

Rezensiert wird hier ein Aufsatzband, der schon einige Zeit auf dem Buchmarkt zu finden ist und nun in 15. Auflage vorliegt: der erste Band von Richard Rortys gesammelten Aufsätzen, dem dann zwei weitere Bände »Philosophical Papers« gefolgt sind: als Band 2 »Essays on Heidegger and Others« und als Band 3 »Truth and Progress«. Die ersten beiden Bände, die 1990 und 1991 erstmals publiziert wurden, enthalten Aufsätze aus den 80er Jahren, in denen R. sich mit Themen auseinandersetzt, über denen sich damals – zum Teil bis heute – die angelsächsische analytische Philosophie und die französische bzw. deutsche Philosophie entzweiten. R. bezieht sich darin durchaus zustimmend auf die Kritik traditioneller Konzeptionen von Wahrheit und Objektivität durch kontinentaleuropä­ische Philosophen – wie Nietzsche oder Heidegger –, kritisiert aber vehement deren politische Schlussfolgerungen. Insofern sind die Texte R.s ein Versuch, einen Kompromiss zu finden zwischen zwei Hauptströmungen westlicher Philosophie im letzten halben Jahrhundert.
In der deutschsprachigen evangelischen und römisch-katholischen Theologie gab es in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Untersuchungen, die sich ebenfalls zwischen diesen beiden Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie hin und her bewegten und deren Relevanz für Theologie und Religionsphilosophie auszuloten versuchten. Dies gilt ganz besonders für die drei Schlagworte aus dem Titel von R.s Aufsatzband: Objektivität, Relativismus und Wahrheit. Ein Vierteljahrhundert nach ihrer Ent­stehung wirft eine Relecture von R.s immer noch rege rezipierten Aufsätzen ein erhellendes Licht auf die theologische und religionsphilosophische Diskussion über Wahrheit, Relativismus und Ob­jektivität. Denn dabei wird deutlich, wie sehr die Grundprobleme dieser Diskussion von R. vorweggenommen und geprägt wurden. Auch jene Theologen und Religionsphilosophen, die in den letzten Jahrzehnten ohne Bezug auf R. über Objektivität, Relativismus und Wahrheit nachgedacht haben, werden erstaunt sein, wie sehr R. auf die gesamte Diskussionslage gewirkt hat.
Der zu besprechende erste Band von R.s Aufsätzen konzentriert sich auf die kritische Diskussion von Themen und Konzeptionen in der sog. analytischen Philosophie. Der Aufsatzband ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil besteht aus sechs Aufsätzen, in denen R. seinen Gegenvorschlag zu allen Konzeptionen präsentiert, in denen Erkenntnis und Wissen im Modell der Repräsentation verstanden werden. Dabei geht es auch um den wissenschaftstheoretischen Zusammenhang der »zwei Kulturen«: zwischen den Naturwissenschaften und der kulturellen Welt des menschlichen Geis­tes. R. versteht Wissen nicht »as a matter of getting reality right, but rather as a matter of acquiring habits of action for coping with reality« (1). In diesen sechs Aufsätzen führt R. fort, was er in seinem bekanntesten Buch »Philosophy and the Mirror of Nature« (1979) begonnen hat.
Der zweite Teil des Aufsatzbandes besteht aus vier Aufsätzen, in denen sich R. vor allem mit Donald Davidson auseinandersetzt und dessen Ansatz weiterzuführen versucht. Davidsons Bedeutung in der Diskussion über Relativismus und Wahrheit liegt vor allem darin, dass er im Blick auf unser Verständnis der Sprache und unser Erkennen konsequent die Form bzw. Schema – Inhalt – Unterscheidung verworfen hat. Damit ist die Vorstellung unmöglich geworden, dass Meinungen und Behauptungen einen Inhalt nach den Konventionen eines Begriffsschemas repräsentieren – eine Vorstellung, die den verschiedenen Spielarten eines empiristischen Relativismus zu Grunde liegt. Im Blick auf die im angenommenen Inhalt von Meinungen und Behauptungen präsente Realität nimmt Davidson nur an, dass wir lediglich »in touch« mit ihr sind und dass unsere Meinungen und Behauptungen von ihr »verursacht« sind, keinesfalls aber sie »repräsentieren«. Meinungen oder Behauptungen sind für Davidson »by nature generally true«. Sie reflektieren, wie ein »language-using organism interacts with what is going on in its neighborhood« (R., 9 f.). Entscheidend ist dann, dass die verschiedenen Meinungen und Behauptungen kohärent sind. Zwangsläufig ist eine solche Konzeption durch und durch holistisch. R.s Präsentation von Davidsons Konzeption ist eine Verteidigung gegen seine Kritiker, aber auch eine Verteidigung der antirealis­tischen Konzeption Michael Dummetts oder des Ansatzes von Hilary Putnam. David Papineau hat gegen R. – ähnlich wie David Lewis gegen Putnam – eingewandt, dass es sehr wohl objektive, theorie- und sprachunabhängige Tatsachen-Beziehungen gibt, die z. B. in den Naturwissenschaften aufgedeckt werden: also Beziehungen zwischen Elementen der Sprache und nicht-sprachlichen Elementen. Wenn man z. B. annimmt, dass die Objekte unseres Meinens und Behauptens von diesen selbst »verursacht« sind – wie Davidson voraussetzt –, dann wird eine theorie- und sprachunabhängige Tatsachen-Beziehung im menschlichen Erkennen vorausgesetzt. Gegen solche und weitere ähnliche Einwände verteidigt R. eine nicht auf dem Modell der Repräsentation basierende Erkenntnistheorie. Anzumerken ist hier, dass diese Diskussion bisher noch nicht beendet ist und die Position derer, die das menschliche Erkennen an der vorgegebenen Realität orientiert sehen wollen, sich in den letzten 20 Jahren eher verstärkt hat.
Die vier Aufsätze des dritten Teils handeln vom politischen Liberalismus und vom Zusammenhang zwischen Erkenntnis­theorie und Politik. Im Gefolge von Dewey hält R. es im Interesse demokratischer Gesellschaften für notwendig, die in Repräsentationsmodellen vertretene »spectators theory of knowledge« abzuschaffen. In der politischen Philosophie wird mit solchen Theorien versucht, universalistische Begriffe z. B. über das Wesen des Selbst oder das Wesen von Humanität zu bilden, um so die politische Philosophie und die von ihr vertretenen Gesellschaftsmodelle in einer quasi objektiven und absoluten Erkenntnis zu fundieren. Nach R.s Auffassung gibt es jedoch generell kein sinnvolles Verständnis einer von der durch uns selbst entworfenen Sprache unabhängigen Realität. Dies gilt auch für die psychische und soziale Realität des Menschen, die jeweils kontingent in der jeweiligen Sprache und Zeit von den jeweiligen Menschen selbst konzipiert wird. Durch die Arbeit an der Sprache, vor allem durch den metaphorischen Gebrauch schon vorhandener Zeichen und Laute, werden dem menschlichen Geist zu den vorhandenen psychischen, sozialen und politischen Möglichkeiten neue Optionen hinzugefügt. Durch die Arbeit an der Sprache bilden Menschen Geschichte– und nicht, weil sie auf außergeschichtliche Realitäten Bezug nehmen und diese in ihrem Leben umsetzen. Für R. ist insofern die fundamentale Realität menschlichen Lebens dessen Geschichtlichkeit und also die in der bekannten Geschichte vollzogene graduelle Veränderung im Selbstverständnis der Menschen; einer Veränderung vom Verständnis eigener Abhängigkeit von Vorgegebenheiten zu einem Sinn für die utopischen Möglichkeiten der Zukunft. Durch die Geschichte hat sich im Selbstverständnis der Menschen zunehmend die Fähigkeit entwickelt und ausgebildet, die eigene Begrenztheit und Endlichkeit durch das Talent zu eigener Selbsterfindung und Selbstschöpfung auszugleichen. Aus der Sicht evangelischer Theologie gibt es hier interessante Anknüpfungspunkte an R.s Überlegungen, insofern evangelische Theologie dieses Selbstverständnis des Menschen durchaus bejaht. Es findet theologisch seine Fundierung in der gnädigen Zuwendung des dreieinigen Gottes zum Menschen – also nicht in einer essentialistischen Anthropologie. Insbesondere lutherische Theologie verbindet damit die Einsicht, dass Menschen mit der ihnen eigenen Vernunft die Welt selbständig entdecken und gestalten können und sollen, ja, müssen.
Von R.s Ansatz her, dem gemäß Meinungen und Behauptungen nie die Tatsachen der Realität als solcher repräsentieren, sondern unseren Umgang mit unserer Welt zum Ausdruck bringen, ja, diesen Umgang vollziehen, ist es naheliegend, dass es keine universalen Wahrheiten gibt. Behauptungen können nur wahr sein in bestimmten regionalen und historischen Kontexten. Folgerichtig rehabilitiert R. den Ethnozentrismus, der s. E. unvermeidlich ist, weil Ethnozentrismus und Kulturbildung Hand in Hand gehen. Die theoretische Rehabilitierung des Ethnozentrismus ist einer der interessantesten Beiträge R.s in den Debatten der Gegenwart. R. schwebt dabei eine Kultur vor, die eine Pluralität von Subkulturen in sich hat und erträgt, und die aufmerksam auf die Nachbarkulturen hört. Von diesen Reflexionen könnte auch die ökumenische Theologie profitieren.