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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

103-106

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hoff, Johannes

Titel/Untertitel:

Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Niko­laus von Kues.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 2007. 569 S. 8°. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-3-495-48270-4.

Rezensent:

Günter Bader

»Kontingenz, Berührung, Überschreitung«: Diese drei Wörter tragen ihren Logos nicht lauthals vor sich her. Eines lateinisch, zwei deutsch, klingen sie fürs Erste ein wenig wie gewürfelt. Im Schriftbild untereinander, nicht nebeneinander angeordnet, geben sie zu erkennen: Es handelt sich um keine Juxtaposition. Ebenso wenig handelt es sich um Subordination. Vielmehr kennzeichnen sie einen Gang auf etwas zu. Der Untertitel lautet: »Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues«. Propädeutik mit dem Ziel der Mystik wird als Mystagogie bezeichnet. Die Titelwörter sind Termini mystagogischen Gehalts. In der cusanischen Mystik treten an die Stelle der dionysischen katharsis, photismos, teleiosis Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Diese Markierungen werden sich zur Besteigung des Moses-Berges oder des Berges Tabor als wegleitend erweisen.
Zugleich sind sie Wegmarken von drei der insgesamt vier Teile des H.schen Buches. Während der erste Teil »1. Problemstellung, Methode und historisch-systematische Verortung« (21–83) nur einleitenden Charakter hat und – wie das »Nichts des Prinzipiierten«, von dem im Text viel gehandelt wird – nicht eigentlich zählt, wenden sich die folgenden drei Hauptteile den drei Schritten der Mystagogie zu. »2. Kontingenz: Wissenschafts- und symboltheoretische Grundlegung« (84–282) handelt von dem auf der Stufe des Verstandes uneinholbaren Rest an Unbestimmbarkeit bei mathematischen Modellen wie dem der Kreisquadratur, das über die ratio hinaustreibt. »3. Berührung: Die allegorischen Fundamente der cusanischen Ontologie« (283–404) hat es in Aufnahme des Kontiguitätscharakters der Welt auf der Stufe der Vernunft mit Berührung unter den Bedingungen fortgeltenden Berührungsverbots zu tun (s. das Noli me tangere Fra Angelicos im Titelbild). »4. Überschreitung: Die doxologische Vollendung philosophischer Vernunftkritik« (405–525) vollzieht auf der Ebene eines apophatisch entfärbten Glaubens den Sprung in die scientia laudis und die Beziehung auf den göttlichen Namen.
Den Kardinal in der Mystik zu verorten, bedeutet Auseinandersetzung mit Interpretationsrichtungen von anderer Intention. Sowohl die neukantianische, in der Linie Ernst Cassirers stehende, die auf Geistphilosophie als geheimes Zentrum cusanischen Denkens ausgerichtet ist, wie die neuplatonische Richtung, sei es die henologische Werner Beierwaltes’ oder die universalphilosophische, engagiert antimystische Kurt Flaschs, bilden die Kontraste, von denen H.s Vorgehensweise sich abhebt und an denen sie sich messen lassen will. In jedem Fall aber wird der fast omnipräsenten Annahme, das Werk des Cusanus diene der Vorandeutung, Vorabschattung von Trends, die alsbald in der Moderne groß und herrlich zur Entfaltung kommen, generell der Riegel vorgeschoben.
H. kommt woandersher und zielt woandershin. Seine Affinität zur Welt der Exerzitien, seien es die spätmittelalterlichen oder die ignazianischen (diese aber besonders), bleibt nicht verborgen. Nachdem Theorie und Praxis sich in der Moderne unwiederbringlich ausdifferenziert haben, vermögen Exerzitien die Differenz noch einmal zu »unterlaufen«; wenn aber zu unterlaufen, dann auch zu überholen. So handelt es sich um ein möglichst nahe am Buchstaben, weniger am Geist H.s orientiertes »Exerzitium des Lesens«, das vorgeführt wird. Nachdem H., gebürtig aus Trier, sein erstes Werk – ›Spiritualität und Sprachverlust; Theologie nach Foucault und Derrida‹, Schöningh 1999 – den Blick Mosel aufwärts, Frankreich zu, geschrieben hat, wendet er sich jetzt Mosel abwärts. Das zweite Werk des Tübinger Fundamentaltheologen, der zurzeit an der University of Wales lehrt, ist den »barbarischen Albernheiten«, dem »Eigensinn«, der »Eigenlogik« des Kardinals aus Kues gewidmet. Dabei wird das Buch über den Chefdenker des Spätmittelalters in das frühere über die Denker der französischen Spätmoderne geradezu hineingeschrieben, wobei die mystikgeschichtlichen Arbeiten des in Deutschland immer noch viel zu unbekannten Jesuiten Michel de Certeau das missing link bilden.
Durch Spätmoderne und Spätmittelalter hindurch kommt im tiefsten Fond, wie in einem tiefgestaffelten Guckkasten, als maßgebliche Epoche die Spätantike in Sicht, in der das Christentum mit Trinitätslehre und Christologie erstmals Orthodoxie ausgeprägt hat. H.s Sprachspiel bespielt diese Bühne so, dass jede der drei Spät­epochen für die andere durchsichtig wird, dass Gleichzeitigkeiten provoziert, unvermittelte Übergänge und paradoxe Fügungen zulässig werden: ready-mades (139) und dripping paintings (372) treten in direkte Nachbarschaft zu Fra Angelico, und Georges Didi-Huberman wird zum Meister-Maieuten für das Verständnis der cusanischen Zeichenlehre. Die weiteste und fruchtbarste Spannung jedoch entsteht durch Fokussierung auf die Spätantike, die als »radikale Orthodoxie« das Fernziel H.s bildet.
Ziel der cusanischen Exerzitien ist der Dreieinige Gott. An Stelle von Inhalten der Heiligen Schrift oder des Buches der Welt beginnt Cusanus sein Exerzitium mit mathematischen Figuren. Exerzitien sind eine bestimmte Art von Umgang mit Zeichen. Dementsprechend nimmt H.s Untersuchung ihren Ausgang von einer buchstabengenauen Lektüre des Kapitels De doct. ign. I, 12 »Quomodo signis mathematicalibus sit utendum«. Hier wird der Dreischritt begründet, der die symbolica investigatio des Unbegreiflichen anleitet. Cusanische Mystagogie ist – im Spiel mit der Vieldeutigkeit des Symbolbegriffs – durchweg Symbolwissenschaft; beginnend mit mathematischen Symbolen, fährt sie mit Koinzidenzsymbolen fort und trifft schließlich ins Schwarze des Symbolum apostolicum (475) oder des Symbolum Quicumque (524), das bekundet: fides autem catholica haec est. Während im ersten Schritt mathematische Figuren in ihrer schlichten Endlichkeit be­trachtet werden, werden sie in einem zweiten Schritt in unendliche Figuren übertragen (Translation) und in einem dritten soweit defiguriert und entleert, dass sie auf die einfache Unendlichkeit übertragen (Transsumption) werden können, losgelöst von aller Figürlichkeit. Erst dieser dritte Schritt bewegt sich auf der theologischen Ebene. Also ist von einem doppelten Übertragungsvorgang die Rede, und die beiden Übertragungen dürfen nicht verwechselt werden. Während die erste (der zweite Schritt: Der unendliche Kreis fällt mit der unendlichen Linie zusammen usw.) in der Überschreitung des Widerspruchsprinzips und der Logik der Prädikation auf den Zusammenfall der Gegensätze hin besteht, vollzieht die zweite den dritten Schritt, der die Koinzidenzfiguren ihrerseits noch einmal überträgt und als übertragene Ausdrucksweisen für das Unendliche zu begreifen lehrt.
Entscheidend ist hierbei die präzise Differenz zwischen Translation und Transsumption; die quintilianische transsumptio nimmt die Metalepse der griechischen Rhetoriker auf; die Metalepse wiederum steht in der Tradition der Metonymie. Was aber Metonymie ist, entscheidet sich an der Differenz zur Metapher (Jakobson, Lacan). Die Polarität zwischen kontiguitätsgestützter Metonymie und si­milaritätsgestützter Metapher ist grundlegend und weichenstellend, und aus der Entgegensetzung zur Metapher gewinnt die Arbeit das ihr eigene unpathetische Pathos. Das Stratum französischer Spätmoderne, sonst überall gegenwärtig, schließt die hermeneutische Metaphorologie Paul Ricœurs gerade nicht ein, sondern aus (79, Anm. 177). Der Grundregel wissender Unwissenheit zufolge gibt es kein Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem. Daher stößt sich die Metonymie von den metaphorischen Praktiken der Ähnlichkeit, des kontinuierlichen Übergangs und der approximativen Proportionierung ab und hält es ganz ungeniert mit »Substitution«, »Verschiebung«, »Umfunktionierung«, »Wiederverwertung« und mit der »Ökonomie der Aufmerksamkeitssteuerung«, die zu beachten sei. In einem Feld von Unähnlichkeit ist jedes beliebige Zeichen zugelassen; der Kardinal liebt dementsprechend triviale Untersuchungsgegenstände am Rande der Bedeutungslosigkeit, aber nur eben an deren Rand. Die Metonymie liebäugelt mit dem Minimalistischen und »Infrageringen« und hält sich währenddessen die hegelianisierende Dialektik vom Leibe.
H.s außerordentlich anregendes, sowohl scharf- wie tiefsinniges Buch ist das Dokument eines eigendynamischen, innerkatholisch wohl nicht oft begangenen Denkweges, voll hellwacher Leidenschaft und ausdauernder Besonnenheit.