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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

100-103

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wilke, Matthias

Titel/Untertitel:

Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs. Eine Studie über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XVII, 568 S. gr.8° = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 49. Lw. EUR 99,00. ISBN 3-16-148777-X.

Rezensent:

Mareike Reinwald

In seiner 2005 erschienenen Studie »Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs«, einer unter der Betreuung von Dietz Lange und Joachim Ringleben entstandenen und von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommenen Dissertation, zeichnet Matthias Wilke die Auseinandersetzung Emanuel Hirschs (1888–1972) mit dem Leben und Werk Sören Kierkegaards von Beginn seiner Studienzeit über die intensive Kor­respondenz mit dem dänischen Kierkegaard-Forscher Eduard Geismar bis hin zu Hirschs »Kierkegaard-Studien« und dessen Spätwerk nach, wobei der systematisch-theologische Schwerpunkt der Arbeit auf Hirschs »Zwiesprache« mit Kierkegaard über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit liegt.
Während Emanuel Hirsch zwar als Übersetzer und Herausgeber der deutschsprachigen Gesamtausgabe der Werke Kierkegaards bekannt ist, wurde der Einfluss des dänischen Philosophen und religiösen Schriftstellers auf dessen Theologie bisher zumindest noch nicht detailliert im Sinne einer eigens dieser Frage gewidmeten Monographie aufgearbeitet. W., der sich während seiner Arbeit auf den Weg von Göttingen nach Kopenhagen und zurück, den Wirkstätten seiner beiden Protagonisten, gemacht hat, möchte gemäß dem Interessenschwerpunkt der Arbeit vor allem Kierkegaards Konzept von »Existenzdialektik« bzw. dessen Interpretation durch Hirsch erarbeiten, wobei Existenzdialektik »[g]egen das abstrakte Moment der Spekulation und unter Hervorhebung der Struktur sokratischer Unterredung … auf der einen Seite eine Mitteilungsbewegung, auf der anderen Seite die Bewegung der Verinnerlichung, durch die sich der subjektiv sein wollende Denker den ventilierten Gedanken aneignet« (6), beschreibe.
Die »biographisch-systematisch« (25) aufgebaute und damit methodisch gewissermaßen selbst in der Tradition Hirschs stehende Arbeit rekonstruiert in den ersten drei von fünf Hauptkapiteln zunächst einmal die frühe Theologie Hirschs bis zu den »Kierkegaard-Studien« (1930–1933) und zeigt die Spuren Kierkegaardscher Gedanken in dieser auf.
Das erste Hauptkapitel »Begegnung – 1908« (29–57) thematisiert die erste nähere Bekanntschaft Hirschs mit der Theologie Kierkegaards während seiner Berliner Studienzeit, die diesem durch seinen Lehrer, den Luther-Forscher Karl Holl, vermittelt wurde, und demgemäß legt W. in diesem Arbeitsteil eine Zusammenschau von Luther- und Kierkegaard-Renaissance vor. Eingeleitet durch eine kurze Skizzierung der Kierkegaard-Rezeption in der Zeit des Kaiserreichs und ergänzt durch Hirschs rückblickende Beschreibung der Wiederentdeckung Luthers als im Dialog mit Kierkegaard erfolgten, steht im Zentrum der Ausführungen des ersten Hauptteils eine aus dem sonst allerdings nicht zugänglichen Nachlass zur Verfügung gestellte Vorlesungsmitschrift Hirschs zu einer von Holl 1908 im Rahmen eines Kirchengeschichtskollegs gehaltenen Vorlesungseinheit zu Kierkegaard. In der fänden zwar weder dessen Wahrheitsbegriff, die indirekte Mitteilung noch die Pseudonyme Berück­sichtigung, die Christologie hingegen würde »pointiert in bezug auf die Gleichzeitigkeit und den Nachfolgegedanken erörtert«, wodurch Hirsch eine Anschauung des christlichen Glaubens kennengelernt habe, »deren wesentliche Momente das Wagnis und der ethisch-religiöse Ernst« (50) seien. Auch unabhängig von dem Kolleg stellt sich W. die Frage, inwiefern Hirsch bei Holl wesent­liche Strukturen Kierkegaardscher Gedankengänge vorgefunden hat, die ihn für dessen Denken aufgeschlossen sein ließen. Solche findet W. in Holls Aufsatz »Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen?«, dessen letzte Absätze sich »wie eine Zusam­menfassung der Kierkegaardschen Existenzdialektik« (50) läsen.
Im zweiten Hauptkapitel »Hirschs theologische Interessen – 1913–1927« (59-139), eingeleitet durch Ausführungen zur Kierkegaard- und Fichte-Renaissance zu Beginn der Weimarer Republik, werden – Hirschs Bildungsweg folgend – dessen wissenschaftliche Qualifikationsschriften zu Fichte, seine geschichtstheologische Arbeit »Deutschlands Schicksal« von 1920, die Romantik- und Idealismusstudien der 20er Jahre sowie sein erster christologischer Entwurf von 1926 besprochen, Arbeiten, die Hirsch in den Jahren der ersten Annäherung an Kierkegaard, aber noch vor der eigenen umfassenden Rezeption von dessen Existenzdialektik erarbeitet habe. Auch wenn das zweite Kapitel eher auf die allgemeine theologische Entwicklung Hirschs rekurriert, weist W. auf, wie Hirsch bereits in seinen frühen Studien zur Geschichtsphilosophie Fichtes dessen Ausführungen zur Mitteilung persönlich gelebter religiöser Wahrheit durch die These einer Gegenwärtigkeit verstorbener Personen »eigenständig in Richtung auf Kierkegaard weiter[denkt]« (73). Im Rahmen seines eigenen geschichtstheologischen Ansatzes, wonach der Geschichtsinterpret »durch Nachverstehen, und das heißt durch ethisch-religiöse Einfühlung, den ewigen Gehalt der endlichen Erscheinungen in sich nachbilden« (85) müsse, bleibe die Einfühlung als eine Methode geschichtlichen Verstehens und damit auch die intersubjektive Kommunikation theoretisch je­doch noch unterbestimmt. In Bezug auf Hirschs frühen, in Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann entwickelten christologischen Ansatz arbeitet W. heraus, dass Hirsch seinerzeit eine kritische Stellung gegenüber der Paradoxchristologie der Climacus-Schriften eingenommen, am Christusbild der Spätschriften hingegen affirmierend hervorgehoben habe, dass sie auf die Jesu Vollmacht über das Gewissen ermöglichende Gleichzeitigkeit des Gläubigen mit der Person Jesu insistieren.
Das dritte Hauptkapitel »Hirschs persönlicher und wissenschaftlicher Zugang zu Leben und Werk Kierkegaards – 1922–1933« (141–187), das sich mit Vorausgehendem zeitlich um einige Jahre überschneidet, zeichnet nach, wie Hirsch in dem 1922 beginnenden Diskurs mit seinem Korrespondenzpartner Geismar, den W. als einen in Glaubensgemeinschaft und der Erfahrung des anderen als »gleichzeitiges … Gegenüber« (156) gründenden Dialog charakterisiert, seinen Zugang zum Werk Kierkegaards vertieft und auch eine persönlichere Beziehung zur Existenzdialektik Kierkegaards entwickelt habe. Anhand von Hirschs Vorwort zu seiner ersten Kierkegaard-Übersetzung von 1923, der Rede »Gottes bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit«, arbeitet W. drei zentrale Interessenfelder heraus, die sich Hirsch im Gespräch mit Geismar für seine eigene Beschäftigung mit Kierkegaard erschlossen habe: ein geschichtsphilosophisches, ein ethisch-religiöses und ein ästhetisches. Auch die methodischen Anregungen, die Hirsch Geis­mar verdankt und die schließlich für die »Kierkegaard-Studien« prägend wurden, werden thematisiert: Es sei Geismars »systematisch-psychologische Ganzheitsschau« (165), die in Hirschs eigener Umsetzung zu einer »genetischen Rekonstruktion sowohl der Denk- als auch der Lebensbewegung« (170) Kierkegaards führte.
Das vierte Hauptkapitel, quantitativer und systematischer Schwerpunkt der Studie, entfaltet Kierkegaards und Hirschs »Ge­spräch über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit« (189–491). Dazu stellt W., darin Hirschs Zugang zu Kierkegaard folgend, zunächst die Grundzüge der Philosophie Fichtes anhand von dessen Schrift »Die Bestimmung des Menschen« vor. Unter Aufweis von zahlreichen Strukturparallelen zu dieser werden im Folgenden Kierkegaards erste, sodann seine zweite, d. h. von der dogmatischen Setzung der Erbsünde ausgehende und spezifisch christliche Anthropologie anhand ausgewählter Schriften unter Hervorhebung der mitteilungs-/kommunikationstheoretischen Aussagen analysiert und jeweils Hirschs Analyse der Schriften in seinen »Kierkegaard-Studien« und die Umformung von Kierkegaards Existenzdialektik zu einem eigenen Kommunikationskonzept gemäß seiner weiteren Schriften der 30er Jahre erarbeitet. Die Ausführungen zur ersten Anthropologie nehmen ihren Ausgang von Kierkegaards erstem pseudonymen Werk »Entweder – Oder« mit der Thematisierung der Selbstwahl des ethisch-religiösen Ich als »Existenz-Widersprüche synthetisierendes Gewissen« (252) und den vom Ethiker B geäußerten Zweifeln an der Übereinstimmung von Innerlichkeit und Ausdruck. Hirsch zeige besonderes Interesse an diesem Werk, und W. zeigt auf, wie nach dessen biographisch-psychologischer Rekonstruktion Kierkegaards indirekte Mitteilung an Regine entgegen dessen eigener Interpretation auf » Verständnis [von Innerlichkeit] und Gemeinschaft« (zit. und herv. nach W., 290) ziele, wobei Hirsch letztere Be­griffe »zu den tragenden Termini seines Kommunikationsbegriffs« (ebd.) mache. Hirsch, der den ethisch-religiösen Gewissensbegriff Kierkegaards mit der Vorstellung der kommunikativen Gewissensgemeinschaft verbinde und ihm damit eine soziale Bindungsstruktur unterlege, bestimme Kommunikation als »ein Sichmitteilen von Mensch zu Mensch, das auf der einen Seite an die Grenzen der bereits bestehenden biologisch-soziologischen Gemeinschaft gebunden ist, auf der anderen Seite aber als ›Verstehen und Gemeinschaft irgendwelcher Art‹ (CR II, 115) erst begründendes Sichmitteilen gesehen werden« (314) müsse. Im Zentrum der Ausführungen zur zweiten Anthropologie stehen Kierkegaards Schriften von 1844. In der Analyse von »Begriff Angst« hebt W. Kierkegaards pointierte Verwendung des Begriffs der »Communication« mit seinen beiden Grundaspekten von » communio und communicatio« (358) hervor. Kommunikation, die zu ihrer Voraussetzung ein Bewusstsein der Freiheit und die Gemeinschaft des Augenblicks habe, sei bei Kierkegaard als ein Ideal gesetzt, das – so zeigt W.s Interpretation der »Philosophischen Brocken« – allein in der Christusbeziehung seine Konkretion finde. Wie die Gleichzeitigkeit besitze sie keine Entsprechung im Humanen, in dem sich »als höchste Form des einander Sichmitteilens die sokratische Mitteilung« (380) finde. Gegenüber Kierkegaard mache Hirsch hingegen, dessen Interpretation von der Herausarbeitung einer bleibenden Bindung zwischen christlichem Glauben und erster Ethik geleitet sei, eine allgemein-geschichtliche Gleichzeitigkeit »als konkrete Weise humaner intersubjektiver Begegnung« (430) geltend.
Das fünfte und letzte Hauptkapitel wendet sich »Emanuel Hirsch als Deuter und Gestalter ethisch-religiöser Charaktere« (493–533) zu. Nachdem Hirschs mit Bezug auf Kierkegaard gewonnenes Bild vom Dichter als »Deuter der Innerlichkeit« (501) gemäß seiner »Kierkegaard-Studien« nachgezeichnet und zu seinen Schriften von 1935–1972 in Beziehung gesetzt wurde, schenkt W. ab­schließend auch Hirschs eigenen dichterischen Versuchen seiner Spätzeit Beachtung. In seinen Romanen, diesen »novellistische[n] Existenzanalysen« (527), wolle Hirsch die menschliche Innerlichkeit schauen und gestalten, und der lyrische Symbolismus sei ihm dabei das Medium, »die Tiefen der Gewissenswahrheit zu Wort zu bringen und sich in das Personzentrum anderer Charaktere einzufühlen« (532). Bei der Behandlung der Charaktere des »Neungekerbten Wanderstabes« lenkt W. die Aufmerksamkeit darauf, dass »auch Hirsch die Kommunikation zwischen starken religiösen Persönlichkeiten nur dann für möglich« halte, »wenn Christus der Grund des Dialogs« (533) sei; nur so werde »dem einen das Verstehen der Gewissensentscheidung des anderen« (ebd.) möglich. Gegen Kierkegaard klage Hirsch jedoch »die Berechtigung der ›jedermanns Religiosität‹« (ebd.) ein. Bei Letzterem begönne das Christsein »nicht erst in der Christuskommunikation, sondern in der Begegnung mit anderen Christen, durch die vermittelt ein Aufruf zur Christuskommunikation den Alltag« (ebd.) durchdringe.
In seiner umfangreichen Studie gelingt es W., dem Leser in einem über weite Strecken narrativen Stil den Kierkegaard-Interpreten Hirsch vor Augen zu führen und ihn durch subtil eingeflochtene und von beeindruckender Quellenkenntnis zeugende Lektüreexzerpte in das Gespräch zwischen Hirsch und Kierkegaard sowie den weiteren hinzutretenden Charakteren wie Fichte, Holl und Geismar zu ziehen. Auch wenn in der Arbeit bewusst »[n]icht eingegangen wird … auf Hirschs universitätspolitische [und kirchenpolitische!] Aktivitäten« (17, Anm. 42) als Dekan der Theologischen Fakultät Göttingen in den Jahren 1933–1938, so wünscht sich der Hirsch weniger affirmativ als W. gegenüberstehende Leser hier und dort dennoch mehr Distanz im Umgang mit diesem; dies auch in sprachlicher Hinsicht (vgl. z. B. die Rede vom »deutschen [statt deutsch sprachigen] Leser« [3], vgl. auch »junge deutsche Denker« [80]; nicht konsequent in Anführungszeichen gesetzte Verwendung des Begriffs »junge[s] nationale[s] Luthertum« [37, Überschrift; 59], der »präziser« [57] als die Begriffe Luther- und Kierkegaard-Renaissance eine Synthese von beidem und Gegenwartsanalyse ausdrücke). – Nicht jeder Leser möchte, wie W. offenbar in­tendiert (vgl. 1, Motto, u. 533), mit Hirsch ›gleichzeitig werden‹ bzw. er hätte angesichts einer solchen Möglichkeit auch kritische Rückfragen an dessen ›Gewissensentscheid‹.