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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

97-99

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Oelschläger, Ulrich

Titel/Untertitel:

Judentum und evangelische Theologie 1909–1965. Das Bild des Judentums im Spiegel der ersten drei Auflagen des Handwörterbuchs »Die Religion in Geschichte und Gegenwart«.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 360 S. gr.8° = Judentum und Christentum, 17. Kart. EUR 29,00. ISBN 3-17-018936-0.

Rezensent:

Martin Stöhr

Die Vernichtung eines Drittels des jüdischen Volkes in einem von Deutschland ausgehenden Weltkrieg, der schon vor seinem Beginn die Juden als die Feinde einer germanischen Rasse, ja der Menschheit stigmatisierte, hat ein tiefer schürfendes Fragen nach den Quellen der antisemitischen Vergiftung in Gang gesetzt. Keine Wissenschaft, keine Institution kann sich der selbstkritischen Er­forschung der eigenen Geschichte verschließen, Kirche und Theo­logie schon gar nicht. Sie gehören in die Vorgeschichte des säkularen Judenhasses. Häufig und lange versuchten sie, ihre Position durch eine be- wie enterbende Negation ihrer Mutter und Schwes­ter Israel zu gewinnen.
Der Wormser Religionspädagoge Ulrich Oelschläger legt eine bei dem Judaisten Günter Mayer (Mainz) entstandene, für die Publikation überarbeitete Dissertation vor, die in E. W. Stegemanns inzwischen eindrucksvoller Reihe »Judentum und Chris­tentum« als Band 17 erschien. Im Unterschied zu speziellen Untersuchungen christlicher Antijudaismen hofft O., in der RGG sozusagen eine »›normale Sicht‹ der Universitätstheologie zum Thema Judentum« zu finden. Dass sie weniger »emotional« sei, wie er vermutet, widerlegt seine Untersuchung. O. hat nicht nur die Artikel zu Themen und Personen in den drei ersten Auflagen der RGG inhaltlich untersucht. Er konnte auch die Autorenkorrespondenz des Verlages einsehen und bezieht sich ebenso auf parallel entstandene Arbeiten von L. Siegele-Wenschkewitz und Alf Özen. Lobenswert ist, dass ausführlich die jüdischen Rezensionen zu Wort kommen (Kapitel 3 nach der allgemeinen Einführung). Aus ihnen spricht die Hoffnung auf eine liberale, im Vorrang der Religionswissenschaft begründete, wachsende wissenschaftliche Objektivität gegenüber dem Judentum. Kritische Einwände gegenüber einer christlichen Darstellung, die dem Judentum nicht gerecht wird, werden vornehm, aber deutlich angemeldet.
O. weist auf die interessante Tatsache hin, dass es eine unabgeglichene Spannung gibt (besonders deutlich in der 2. Auflage, an der Juden erstmals in größerer Zahl mitarbeiteten) zwischen den von Juden verfassten Artikeln, die das Selbstverständnis des Judentums beschreiben, und den von Christen verfassten, die jüdische Topoi berühren. Letztere tun es weithin, ohne jüdische Selbstverständnisse zur Kenntnis zu nehmen und vor allem ohne ihre eigenen Hermeneutiken (die z. B. im Artikel über Gesetz oder Verdienst der traditionellen Rechtfertigungslehre entnommen sind) zu re­flektieren. Was Oskar Rühle im Verlagsporträt des Theologischen Verlages J. C. B. Mohr (Tübingen 1926) als Forderung an die Autoren zitiert, »frei von aller dogmatischen Bindung« zu schreiben, realisieren sowohl die als liberal oder positiv als auch die als religionsgeschichtlich oder dialektisch charakterisierten Autoren selten. O. spricht von einem »Nebeneinander«, das noch kein Miteinander jüdischer und christlicher Wissenschaftler wurde.
Wahrscheinlich gibt es neben dem »Judentum« kein Thema, dessen Behandlung derart stark von christlichen und besonders protestantischen Theologumena geprägt ist. Da unterscheiden sich Harnack und Schlatter in ihrem jeweiligen Verständnis z. B. von Gesetz oder Altem Testament kaum. Allerdings ist es dem die 1. und 2. Auflage bestimmenden Verfasserkreis aus der religionsgeschichtlichen Schule zuzuschreiben, dass in der 2. Auflage jüdische Autoren, sogar mit einem eigenen Fachberater, dem 1938 emigrierten Historiker Ismar Elbogen, vernehmbare eigene Stimmen er­hielten. Wer erwartet hatte, dass die stärker theologisch orientierte Arbeit der 3. Auflage einen anderen Befund zeigt, sieht sich in den eindeutigen Forschungsergebnissen O.s enttäuscht; eine dogmatische Herangehensweise dominiert. Dass die Sterbedaten von Juden (übrigens wie die anderer Religionen) ganz selbstverständlich mit einem Kreuz gekennzeichnet werden, symbolisiert nur das Vorherrschen einer christlichen Binnensicht. O. deutet in Ausblicken an, dass die 4. Auflage mit dieser Tradition gebrochen hat – ohne den Anspruch aufzugeben, ein protestantisches Werk zu sein.
Die Analyse, die mit quantifizierenden Feststellungen über Umfang und Vorkommen (bzw. Fehlen) von Personen- oder Sachartikeln nicht spart, liefert ein getreues Spiegelbild der im Zeit­raum der drei untersuchten Auflagen stattfindenden theologischen Entwicklung vom Ende des 19. Jh.s bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird weitgehend eine Israelvergessenheit fortgeschrieben, die das Judentum braucht, um die eigene Herkunft und Identität zu verstehen. Es begegnet häufig ein zu fragloses christliches Bescheidwissen über das Judentum, das eher den theologischen, selektiv von Paulus und Johannes übernommenen Urteilen sowie der christlichen Überlieferung vertraut, statt dem lebendigen Judentum in seiner geschichtlichen und gegenwärtigen Vielfalt. Diese Haltung findet sich so keineswegs im Neuen Testament und in der urchristlichen Literatur. Dort bestimmen ein konstruktiver wie kritischer Bezug der sich langsam herausbildenden christlichen Gemeinden auf ihre lebendigen jüdischen Voraussetzungen sowie eine aktuelle polemische Auseinandersetzung um das Erbe der gemeinsamen Heiligen Schriften die Beziehungen zwischen Juden und Christen.
Kapitel 4 geht in quantitativ wie qualitativ vergleichender Analyse den Artikeln über »Judentum« nach. Nicht nur die selbstverständliche Redeweise von »Spätjudentum«, wenn das frühe Judentum gemeint ist, verursacht Kopfschütteln über dieses Beispiel christlicher Einordnung des Judentums ins christliche Weltgebäude, auch die nicht seltenen Werturteile (Gerhard Kittel z. B. über seinen Leipziger Lehrer Israel Issar Kahan: »vollkommen unproduktiv, als Lehrer höchst unbeholfen«) über Personen und Sachverhalte offenbaren eher Vorurteile denn wissenschaftliche Selbstaufklärung. Dass Alternativen nicht fehlten, wird in der Gegenüberstellung der Arbeiten zu »Judentum und Christentum« (Kapitel 5) von Gerhard Kittel und Kentrick Grobel deutlich. Systematischer und ausführlicher sowie im aufschlussreichen Detail (Kapitel 6) werden die Stichworte »Moses Mendelssohn« und »Jüdische Kasuistik und ›Verdienst‹« untersucht und der Befund in Queruntersuchungen zu anderen Stichworten in Beziehung ge­setzt. Der nicht einheitliche Befund verdankt sich nicht nur den unterschiedlichen Auffassungen jüdischer und christlicher Autoren, sondern ebenso einer unterschiedlichen Interpretation von Aufklärung. So nehmen Christen weder die Bedeutung M. Mendelsohns für den Weg des Judentums aus dem Ghetto, seine Bibelübersetzung noch sein Bemühen um Menschenrechte und Emanzipation der jüdischen Minderheit recht wahr. Er heißt herabwürdigend: »Popularphilosoph« der Aufklärung.
Die Arbeit überzeugt durch ihre Detailgenauigkeit sowie durch ihre vergleichende und analytische Kraft, die ein bedenkliches Bild protestantischer Wissenschaft (wenn es um jüdische Bezüge geht) im Wandel des 20. Jh.s zu Tage fördert. Sie stellt aber ebenso klar, dass es einzelne Ansätze und Alternativen zu einer wissenschaftlichen Be­mühung gab, die eine neue Zusammenarbeit jüdischer und christlicher Wissenschaftler aufscheinen ließen. Der in den verschiedenen Auflagen des Lexikons erkennbare Geist trug mehrheitlich nicht dazu bei, Fremddefinitionen und Ausgrenzungen des Judentums zu überwinden. Die dunklen Flecken auf dem Ethos von Theologie und Kirche werden unaufgeregt und sachlich von O. ausgebreitet.