Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

91-93

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Nieden, Marcel

Titel/Untertitel:

Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XIV, 298 S. gr.8° = Spätmittelalter, Humanismus Reformation, 28. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-148878-8.

Rezensent:

Andreas Gößner

Diese Studie über die Theologenausbildung konzentriert sich auf das in Studienkonzepten formulierte Ausbildungsideal des Theologen und widmet sich damit einem zentralen Anliegen der Pfarrerausbildung im Luthertum. Die untersuchten Autoren von Studienanweisungen waren Wittenberger Theologieprofessoren oder doch wesentlich geprägt von dieser Universität, die hinsichtlich ihrer Frequenz und ihrer Ausstrahlung im 16. und 17. Jh. zu den führenden Bildungsstätten im lutherischen Europa gehörte. Die Studienanweisungen bilden keine eigene Literaturgattung, vielmehr ist das einigende Band der untersuchten Texte das Thema: Wie soll im Idealfall ein Theologiestudium angelegt sein?
Die Studie folgt einem chronologischen Ablauf. Zunächst werden spätmittelalterliche Reformkonzepte der Klerikerausbildung, in denen humanistische Bildungsanliegen greifbar sind, kurz vorgestellt. Vor diesem Hintergrund skizziert N. die Situation in der Frühzeit der Wittenberger Universität, wobei die Gegebenheiten an der Theologischen Fakultät mit Rücksicht auf ihre Organisation und Verfassung sowie auf das Personal und die Lehre beleuchtet werden. Mit der Schilderung des ab ca. 1516 einsetzenden Wandels der Universitätstheologie erörtert N. einen gesamtuniversitären Reformprozess, in dem sich reformatorische und humanistische Anliegen aufs Engste miteinander verbanden. Dies zeitigte be­sonders im akademischen Lehrbetrieb Folgen, was am Gegenstand der Vorlesungen, Disputationen und Promotionen illustriert wird. Wesentliches Resultat der Reform war die Neufundation der Leucorea 1536, die für die theologische Fakultät die Vierzahl der Ordinariate auf Dauer festschrieb. Auf dieser organisatorischen Basis wurden zum Lehrgegenstand besonders diejenigen biblischen Schriften erklärt, in deren Zentrum Rechtfertigungstheologie und Christologie stehen.
Eine der zentralen Persönlichkeiten des ge­schilderten Prozesses, Philipp Melanchthon, ist auch der Verfasser des ersten Quellentextes, den N. heranzieht. Melanchthons »Brevis discendae theologiae ratio« von 1529/30 ist der »erste literarische Versuch, die Studenten zu einem Theologiestudium anzuleiten, das den neuen Vorstellungen entsprach« (69). Bestimmend dabei war die Loci-Methode, die Verständnis und Systematik der Bibellektüre jedes Studenten fördern sollte. Dabei steht im Vordergrund das selbständige, auf die Bildung des gesamten Menschen zielende Studium. Als zweiter Text wird die Vorrede Martin Luthers zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften von 1539 vorgestellt. Luther bringt darin das mittelalterliche Meditationsschema modifiziert zur Anwendung: ›oratio‹, ›meditatio‹ und ›tentatio‹ sind die drei Schritte einer Studierweise, in der »ein intellektuelles wie existentielles Verstehen des Textes« (84) – also die (wissenschaftliche) Lektüre der Bibel in Verbindung mit dem Glaubensvollzug – zu einer ganzheitlichen Art des Theologiestudiums führen sollen. Der dritte Text dieser frühen Zeit, die unter dem Titel »Admonitio ad verbi divini ministros« von 1540 stehende Anweisung von Caspar Cruciger dem Älteren, konzentriert sich auf das Tätigkeitsprofil eines Geistlichen und war somit insbesondere zur berufsvorbereitenden Lektüre geeignet. In Gestalt der sich direkt an Luthers Vorbild orientierenden »Oratio in repetitionem locorum communium D. Philippi« des David Chytraeus von 1549, die 1554 gedruckt wurde, liegt die erste »öffentliche Studienanweisung im Bereich des Luthertums« (94) vor. Die Gruppe dieser reformatorischen Studienanweisungen zeichnet sich insgesamt durch eine gleichzeitige Betonung zweier Leitgedanken des christlichen Humanismus au s– ›pietas‹ und ›eruditio‹.
In einer zweiten Phase stellt sich für N. die Frage nach den theologischen Studienanweisungen im Kontext der fortschreitenden Konfessionalisierung, die auch auf dem Feld der Universitätspo­litik allenthalben greifbar wird. Ein wesentlicher Gestalter der Universitätsreform im Kurfürstentum Sachsen war der aus Württemberg stammende Theologe Jakob Andreae. Mit dem Ziel der Vereinheitlichung und konfessionellen Profilierung im Sinne des Luthertums wurde durch Andreae das kursächsische Hochschulwesen ab 1577 in organisatorischer und studienkonzeptioneller Hinsicht umgestaltet. Sein Reformprogramm zielte wesentlich auf die Konstituierung einer lutherischen Pfarrerschaft, deren Ausbildung primär auf die Bibel und die spätere pastorale Praxis ausgerichtet war. Dieser Zielsetzung dienten einzelne Reformmaßnah men, die beispielsweise die Professuren und das Disputations­wesen betrafen. Die Impulse Andreaes fanden Eingang in die Universitätsordnungen von 1580 und 1588, die trotz zwischenzeitlicher Änderungen in der kursächsischen Religionspolitik im We­sentlichen bis Ende des 17. Jh.s in Geltung blieben.
An dieser Stelle der Untersuchung richtet N. seinen Blick über die Konfessionsgrenzen hinaus auf die Entwicklung katholischer und reformierter Konzeptionen für die Theologenausbildung. Auch hier entstanden auf dem Boden humanistischer Impulse einflussreiche Studienanweisungen. In ihrer Wirkungsgeschichte ist im römischen Katholizismus vor allem die 1599 in ihrer endgültigen Fassung verabschiedete »Ratio studiorum« der Jesuiten bemerkenswert, die juristisch verbindlich war. An der Spitze eines dreistufigen Studienaufbaus stand die Theologie, deren zweites Standbein neben der Bibel die »Summa theologiae« des Aquinaten war. Für den reformierten Bereich hat N. Johann Heinrich Alsteds »Praecognitorum theologicorum libri duo« von 1615 gewählt.
Das Kernstück der Studie widmet sich schließlich den lutherisch-orthodoxen Studienanweisungen. Von drei programmatisch-konzeptionellen Entwürfen misst N. zunächst den als Disputationsreihe verfassten »praecognita theologica« des Balthasar Meisner von 1625 grundlegende Bedeutung zu. Bemerkenswert ist in diesen Disputationen vor allem ein neu geartetes Verständnis der theologischen Praxis, wonach diese nicht mehr den gläubigen Lebensvollzug des Theologen bezeichnet, sondern Theologie »nichts anderes [ist] als die praktische Fertigkeit (›habitus‹) zur pastoralen Seelenführung an den Menschen« (192 f.). Als Konsequenz aus diesem »neue[n], allopraktische[n] Theologiebegriff« (194) verzichtet Meisner zwar darauf, im Heilsglauben ein wesentliches Kennzeichen des theologischen Habitus zu sehen, räumt aber doch der Gebetspraxis des werdenden Theologen eine erhebliche Bedeutung ein. Damit beschritt Meisner – etwa im Unterschied zu Johann Arndt auf der einen oder Georg Calixt auf der anderen Seite – einen vermittelnden Theologiebegriff, der von den orthodox-lutherischen Wittenberger Theologen fortgeführt wurde. Als zweitem Entwurf wendet sich N. dem homiletischen Sammelwerk »Methodus concionandi« des Johannes Hülsemann zu. Dieses Werk beinhaltete auch ältere Anweisungen zum Theologiestudium, de­ren Verfasser ebenfalls Wittenberger Professoren waren (Johann Förster, Balthasar Meisner und Leonhard Hütter). Schon in diesen Texten kann N. eine Tendenz erkennen, nach der das »Theologiestudium vorwiegend als Fachstudium« für den späteren Pastoralberuf verstanden wird und damit der »Lehre und Leben integrierende Theologiebegriff« (185) früherer Anweisungen, die aus der Tra­dition von Melanchthon und Chytraeus gespeist waren, in den Hintergrund tritt. Hülsemann hat in sein homiletisches Sammelwerk auch eine eigene Anweisung zum Theologiestudium ein­gebracht, die »Methodus studii theologici« von 1635. Hierin ist besonders die Aufteilung des Theologiestudiums in zwei Bildungsstufen, einerseits für den Beruf des Predigers, andererseits für den des theologischen Lehrers, beachtlich. Außerdem wird der Kanon der zu absolvierenden artistischen Fächer auf das für den Predigerberuf Relevante reduziert. Den Vollzug des Theologiestudiums orientiert Hülsemann an vier Studienakten: ›oratio‹, ›lectio‹, ›scriptio‹ und ›disputatio‹, wobei Bedeutung und Gewichtung dieser Begriffe sich im Vergleich zur Reformationszeit stark gewandelt haben. Als letzte Quelle untersucht N. Abraham Calovs »Paedia theologica« von 1652, die »den Charakter einer theologischen Literaturkunde« (226) besitzt. In seinem wissenschaftstheoretischen Ansatz sieht Calov theologische Erkenntnis – ähnlich wie Meisner und Gerhard – immer in ihrem praktischen Bezug, Heil für die Men schen zu vermitteln (Theologie als ›habitus practicus‹, andere Menschen zum Heil zu führen). Bei Calov findet sich die Luthersche Trias von Studienakten wiederum als konstitutiv für das Theologiestudium. Das eigentliche Studienprogramm ist in seinem Entwurf sehr anspruchsvoll und zielt auf eine hochgradig professionalisierte Pfarrerausbildung.
Der Band bietet insgesamt einen instruktiven Überblick über die auf dem Boden von Humanismus und Reformation gereiften Konzepte des theologischen Studiums. In ihnen wird nicht nur das neue Verständnis der Theologie, sondern auch das des Theologen deutlich, das in den Studienanweisungen von Wittenberger Theologieprofessoren des 16. und 17. Jh.s entwickelt wurde. Vier Merkmale dieser Entwicklung benennt N. zusammenfassend als Kennzeichen der untersuchten theologischen Studienkonzeptionen: Akademisierung, Konfessionalisierung, Disziplinierung und Professionalisierung. In ihrer theologiegeschichtlichen Ausrichtung ergänzt diese Studie vorausgegangene Forschungen zur lutherischen Pfarrerschaft der Frühen Neuzeit um einen fundamentalen Aspekt ihres Selbstverständnisses.