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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

87-89

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Diestelmann, Jürgen

Titel/Untertitel:

Usus und Actio. Das Heilige Abendmahl bei Luther und Melanchthon. M. e. Geleitwort v. R. Slenczka sowie Zusammenfassungen in englischer, schwedischer u. finnischer Sprache.

Verlag:

Berlin: Pro Business 2007. 353 S. 8°. Geb. EUR 35,00. ISBN 978-3-86805-032-5.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

Selbst diejenigen, die die lange Zeit übliche Entgegensetzung von Luther und Melanchthon als »wissenschaftliche Fehlleistung« (K. Beyschlag) betrachten, leugnen keineswegs die Differenzen beider in der Abendmahlslehre. Wie Neuser gezeigt hat, bestanden bereits in den 20er Jahren Unterschiede; wenige Arbeiten beschäftigen sich indes mit der späteren Entwicklung von Melanchthons Abendmahlslehre. Gerade unter diesem Gesichtspunkt wirkt der Untertitel der Studie, die der Braunschweiger Pfarrer Jürgen Diestelmann in Fortsetzung seiner zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema vorgelegt hat, vielversprechend. Wer allerdings eine Darstellung zu Melanchthons Abendmahlslehre sucht, wird enttäuscht. Vielmehr behandelt das Buch präzise jene Themenstellung, die das vergriffene Vorgängerwerk actio sacramentalis, welches es ersetzen soll, auch schon behandelte: »Die Verwaltung des Heiligen Abendmahles nach den Prinzipien Martin Luthers in der Zeit bis zur Konkordienformel« (Actio sacramentalis, Groß Oesingen 1996, Untertitel). Zwar wird Melanchthon in einem eigenen Kapitel von Ab­schnitt I (Usus und actio bei Luther und Melanchthon) thematisiert, doch ist D. weit davon entfernt, Melanchthons Lehre aus ihrem inneren Zusammenhang heraus darzustellen. Es geht nur insofern um Melanchthon, als er sich von Luthers »Prinzipien« unterscheidet. Dementsprechend ist das Material auch größtenteils dasselbe geblieben wie in dem Vorgängerwerk (dort: Kapitel II Simon Wolferinus und der »Zwinglianismus«). Anders Abschnitt II (Usus und actio nach Luthers Tod): Hier sind zu dem Kapitel über das Vordringen des »Zwinglianismus« neue Kapitel über Melanchthon und Mörlin (Kapitel 4), Melanchthon und Heshus (Kapitel 5) sowie über den Bremer Abendmahlsstreit um Hardenberg hinzugetreten (Kapitel 6). Ein letzter Abschnitt widmet sich schließlich »Usus und actio nach Melanchthons Tod«: Neben den Sakramentsstreitigkeiten in norddeutschen Städten (Kapitel 7), die in der Vorgängerstudie in ausführlicherer Form den zweiten Hauptteil bildeten, wird die Sicht der Konkordienformel dargelegt (Kapitel 8). Ein Epilog (Kapitel 9) über die ökumenische Relevanz des Themas und mit Überlegungen zum praktischen Vollzug des Abendmahls (302–306) beschließt das Werk. Der Quellenanhang, der 1996 den Abschluss des Buches bildete, ist leider weggefallen.
Der Titel »Usus und actio« beschreibt die Perspektive, aus der D. die Abendmahlslehre beleuchtet, mithin den spezifischen Zugang des Buches: Es widmet sich der Frage, wie Luther und Melanchthon die Abendmahlshandlung verstanden haben, genauer: wie sich ih­nen Anfang und Ende sowie der Charakter der actio sacramentalis darstellten. Während Luther unter der actio sacramentalis die ganze Handlung vom Vaterunser (in der Deutschen Messe vor den Einsetzungworten!) bis hin zur Entlassung des Volkes aus dem Altarraum verstanden habe, sehe Melanchthon den sakramentalen Akt allein im Darreichen und Verzehr von Brot und Wein (72.77 u.ö.). Dies habe zur Konsequenz, dass Luther und Melanchthon Unterschiedliches meinen, wenn sie davon sprechen, dass außerhalb des dazu eingesetzten Gebrauchs (extra institutum usum) nichts den Charakter eines Sakraments habe – die von D. missverständlich sog. »Nihil-habet-Regel« (73–77), welche man besser als extra usum- bzw. in usu-Regel bezeichnen sollte. Nach Luther seien Leib und Blut vom Sprechen der Einsetzungsworte an die ganze Abendmahlshandlung über in Brot und Wein real gegenwärtig. Für Melan­chthon sei die Realpräsenz hingegen allein an das Essen und Trinken geknüpft (76; vgl. 82). Die Frage, wie mit vom Abendmahl übrig­gebliebenen Elementen umzugehen sei, stellt für Melanchthon folglich kein Problem dar. Schwierigkeiten ergeben sich aber bei Luthers Position: Wenn Leib und Blut Christi durch die »Kraft der Konsekrationsworte« (45 u. ö.) während der ganzen Abendmahlshandlung präsent sind, entsteht die Frage: Wann genau endet die Gegenwart? Und: Wie ist mit dem Übriggebliebenen, mit den sog. reliquiae sacramenti umzugehen? Um diese beiden Fragen dreht sich im Grunde das ganze Buch, wobei Luthers Haltung als Maßstab betrachtet wird: Im Eislebener Pfarrerstreit (1543) vertrat er die Auffassung, man solle alle konsekrierten Elementen verzehren, um gefährliche Spekulationen zu vermeiden (58–65).
Auf Grund der Mehrdeutigkeit der Begriffe actio und usus bleibt die Frage der theologischen Behandlung der reliquiae sacramenti 1543 zwischen den beiden Reformatoren ungeklärt. Überzeugend zeigt D. auf, wie die Frage nach Luthers Tod immer wieder ans Licht kommt, besonders deutlich in den Schriften Johann Hachenburgs (1557/1561), der sowohl die Streitpunkte von der Anbetung des Sakramentes bis hin zum Umgang mit dem Übriggebliebenen als auch das Quellenmaterial zu Luther vollständig bietet (Kapitel 3: 141–165, einschließlich einer gewagten Interpretation der Wittenberger Konkordie, 161). Zwar lassen die folgenden Kapitel eine solche thematische Konzentration vermissen, doch ist spannend zu beobachten, wie die extra usum-Formulierung und die unklare usus- und actio-Terminologie über Jahrzehnte mit den unterschiedlichsten Ansichten zum Abendmahl verbunden werden können. Erst die Konkordienformel bringt dann die Klärung, indem sie usus und actio identifiziert und damit die »ganze äußerliche, sichtbare, von Christo geordente Handlung des Abendmahls« bezeichnet (291), freilich ohne etwas zum Umgang mit den reliquiae zu sagen (292 f.)!
Es ist das Verdienst D.s, die unklare Verwendung insbesondere des usus-Begriffes im Zusammenhang mit dem Abendmahl aufgedeckt zu haben. Außerdem legt er zu Recht den Finger darauf, dass man bei der Behandlung der Abendmahlslehre die praktischen Vollzüge und die Realia bis hin zu Hostienkästlein etc. (vgl. 18–24) im Auge behalten muss. Was allerdings das Erste angeht, wird D. der Fülle und Komplexität des Materials kaum gerecht.
So tendiert er dazu, alle, die die extra usum-Formel verwenden, auf die Seite der Kryptocalvinisten zu schlagen (vgl. nur die widersprüchliche Verortung von J. Brenz, 202 und 239). Damit verbunden ist ein grundsätzlicheres Problem der Darstellung: So interessant es ist, das Verständnis des Abendmahls von seinen Rändern, man kann sogar sagen: von seinen Resten her zu erschließen, so wenig überzeugend ist es, wenn die zentralen Fragen damit zur Peripherie werden. Das gilt schon für die Darstellung Luthers, aus der man zwar erfährt, dass und wie Luther Sakramentsanbetung und Elevation für möglich hält, was aber der »hermeneutische Angelpunkt in Luthers Meßreform« (R. Schwarz) und seines Abendmahlsverständnisses ist, kommt kaum in den Blick. Nur so ist es möglich, dass D. Luthers Abendmahlslehre immer wieder nahe an die Transsubstantiationslehre heranrückt (129 ff.), die Luthers differenziertem Verständnis der unio sacramentalis ebenso wenig gerecht wird wie die pauschale Rede vom Mysterium oder vom »kultischen Charakter« des Gottesdiens­tes (312 f. u. ö.). Daneben unterläuft D.s einseitige Betonung der Konsekration Luthers Gesamtkonzept, in dem die Einsetzungsworte nicht nur den Charakter eines sermo operatorius haben, sondern auch als Verkündigungs- (promissio) und Spendeworte (verba distributionis) zu verstehen sind, die auf den Empfang zielen.
Abschließend sei angemerkt, dass die ohnehin nicht ganz einfache Lektüre durch zahlreiche Druck- und Satzfehler erschwert wird. Da die Arbeit nicht im akademischen Kontext entstanden ist, sollte man die zahlreichen unvollständigen oder ungenauen Literaturangaben nicht zu hoch bewerten. Befremdend wirkt allerdings, dass zwar der Anspruch erhoben wird »die Fachliteratur aus dem skandinavischen und englischsprachigen Raum ... weitgehend berück­sichtigt« (2) zu haben, dies für die deutsche Literatur aber nicht annähernd gilt. Die einschlägigen Titel zu Abendmahl und Messopfer von R. Schwarz, D. Wendebourg, W. Simon u. a. werden ebensowenig hinzugezogen wie eine neuere Lutherbiographie.