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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

82-83

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Walters Adams, Gwenfair

Titel/Untertitel:

Visions in Late Medieval England. Lay Spirituality and Sacred Glimpses of the Hidden Worlds of Faith.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. XXIII, 273 S. gr.8° = Studies in the History of Christian Traditions, 130. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-15606-7.

Rezensent:

Volker Leppin

Visionen sind in dieser Studie von G. Walters Adams ein Schlüssel zum Verständnis spätmittelalterlicher Frömmigkeitswelten am Vorabend der Reformation. Ausgangspunkt sind einerseits »Didactic Visions«, worunter sie lehrhafte Erzählungen von Visionen hervorgehobener Gestalten aus nachbiblischer Zeit versteht, andererseits untersucht sie Visionsberichte spätmittelalterlicher Laien. Dieser methodisch reflektierte Aufbau ermöglicht es, normative Vorgaben durch den Klerus und ihre potentielle Umsetzung durch Laien aufeinander zu beziehen. Manche Vorannahme dürfte durch den Befund, dass die normativen Vorgaben durch den Klerus in hohem Maße Umsetzung unter den Laien – jedenfalls den hier zur Rede stehenden religiös hochengagierten – fanden, erheblich korrigiert werden.
Die Einführung stellt diese Quellen vor, dient vor allem aber der Etablierung eines Grundrasters, das sich an fünf Dynamiken spätmittelalterlicher Frömmigkeit orientiert: die Ökonomie von Sühne und Satisfaktion, das auf Gegenseitigkeit angelegte Verhältnis zu den Heiligen, der geistliche Kampf mit den Dämonen, der visuelle Charakter der Liturgie sowie die Frage der Kraft und Be­grenztheit von Visionen als vermittelten Offenbarungen. Ob man hier tatsächlich so allgemein von den »key dynamics of Late Medieval Spirituality« sprechen kann wie W. A. dies tut (4), scheint mir fraglich. Faszinierend ist aber, dass W. A. einen Beitrag zu einer Erfassung der spätmittelalterlichen Frömmigkeitswelt bietet, der diese nicht eindimensional auf diesen oder jenen Aspekt zuspitzt, sondern ihrer Vielfalt und gelegentlichen Gegenläufigkeit Raum gibt – übrigens ohne dass dadurch die Erklärungskraft für die Beschreibung der Differenz zur reformatorischen Frömmigkeit im mindesten schwände (ausgeführt 207–209).
Die fünf Dynamiken prägen den Aufbau des Buches. Das erste Kapitel behandelt die erste der Dynamiken, also die Frage nach Satisfaktion und Sühne. Hier geht es um Kontakte mit dem Jenseits, die vor den Folgen falschen Lebens im Diesseits warnen. So werden Visionäre von Geistern aus dem Fegefeuer besucht, die daran appellieren, zu ihren Gunsten zu beten oder Messen zu lesen, um ihnen so in ihrem schweren Schicksal Linderung zu verschaffen. Das kann das Anliegen der Besucher aus der Hölle nicht mehr sein: Sie unterstreichen weniger die kirchlich approbierte Solidargemeinschaft zwischen Lebenden und Toten als die Schwere des ewigen Verhängnisses in der Hölle. In einer anderen Aktivitätsform erhielten die Visionäre nicht nur Besuch, sondern machten sich auf die Reise, um andere Welten zu besichtigen. Dabei musste es sich nicht nur um die etablierte geographische Topographie handeln, sondern Margery Kempe reiste durch das Heilige Land der Bibel: Nachdem sie zuvor als reale Pilgerin das Heilige Land bereist hatte, begegnete sie nun den biblischen Vätern und Müttern (48).
Handelt es sich hier überwiegend um warnende Visionen, so geht es im zweiten Kapitel um die gegenseitige Stützung zwischen den irdisch Lebenden und den Heiligen. Die Heiligen sind dabei einerseits in den didaktischen Visionen selbst Empfänger visionärer Botschaft und gerade hierin durch Gott ausgezeichnet. Andererseits werden sie als Boten aus dem Jenseits zu Besuchern in Visionen und können sie im Idealfall sogar dazu beitragen, visionär begabte Personen wie etwa Heinrich VI. oder, wiederum, Margery Kempe in die Nähe der Heiligkeit zu rücken.
Die Untersuchung des Kampfes mit den Dämonen im dritten Kapitel bringt ein erstaunliches Ergebnis: Die gelegentlich in der Hexenforschung anzutreffende Annahme einer Steigerung der Kräfte des Widergöttlichen bestätigt sich nicht. Vielmehr ähneln die Formen der Auseinandersetzung den hochmittelalterlichen. Es werden dieselben Bannsprüche gebraucht wie Generationen zuvor. Es scheint, als hätte sich das dämonische Panoptikum hier ungebrochen, aber eben auch ohne nennenswerte Steigerung erhalten. Freilich wird man hier die oben gestellte Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von W. A.s Beobachtungen wiederholen müssen. Es ist immerhin möglich, dass die Visionsliteratur – die didaktische wie die berichtende – innerhalb der spätmittelalterlichen Frömmigkeit nur einen bestimmten Diskurskreis repräsentiert und sich in anderen auch andere Wahrnehmungen dämonischer Wirklichkeit zeigen.
Mit einer Fülle von Material legt W. A. im vierten Kapitel dar, wie Visionen gewissermaßen zur Steigerungsform der visuell ge­prägten sakramentalen Frömmigkeit werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die Gregorsmesse (152–154) ein Phänomen, das in die visionäre Frömmigkeit passt und hier vielfache Vergleichsformen findet. Der Frage allerdings, warum unter all diesen Erzählungen ausgerechnet der von der Gregorsmesse ein solcher Erfolg beschieden war, geht W. A. nicht nach. Nicht nur dies könnte noch wichtige Facetten der Arbeit eröffnen, sondern auch ein Blick darauf, dass die Reaktion auf eucharistische Frömmigkeit etwa in mystischen Kreisen zwar visionär sein konnte, aber auch bildlos verinnerlichend. Blickt man über das interessante Quellenkorpus hinaus, das W. A. in den Mittelpunkt stellt, so eröffnet sich noch eine Fülle weiterer Frömmigkeitsformen.
Das fünfte Kapitel stellt in subtiler Interpretation die spätmittelalterlichen Diskussionen um die Legitimität von Visionen dar und arbeitet die Schwierigkeit heraus, die visionäre Ansprüche innerhalb einer Kirchlichkeit mit sich brachten, die auf eine ekklesiale Vermittlung des heilsnotwendigen Wissens setzte. Anhand des Falles der Elisabeth Barton schließlich, die unter der Regierung Heinrichs VIII. wirkte, zeigt sich, wie der Diskurs um Visionen durch reformatorische Theologie mit dem klaren Kriterium der Schriftgemäßheit konfrontiert wurde.