Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

80-82

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kim, Yul

Titel/Untertitel:

Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2007. 230 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, 51. Geb. EUR 59,80. ISBN 978-3-05-004256-5.

Rezensent:

Volker Leppin

Der Übergang von einer eher intellektualen zu einer eher voluntativen Fassung des Menschen- und Gottesbildes gilt als eines der markanten Kennzeichen, anhand derer man Hoch- und Spätscholastik unterscheiden kann. Dabei ist schon lange deutlich, dass auch die Betonung des Willens in Anthropologie und Gotteslehre bei Duns Scotus nicht unvorbereitet war, wobei immer wieder auf Traditionen seines eigenen Ordens verwiesen wird. Yul Kim, der Autor der hier anzuzeigenden Regensburger philosophischen Dissertation, fragt nun nach den Gründen dafür, dass sich bei Thomas von Aquin im Früh- und Spätwerk Aussagen zur Thematik des menschlichen Willens finden, die sich unterschiedlich interpretieren lassen und die gelegentlich sogar in einen Gegensatz gestellt wurden; mit den entsprechenden Thesen O. Lottins setzt K. sich auf S. 183 ff. ausführlich auseinander.
Dem liegt eine genaue Analyse der Texte zu Grunde: Im Frühwerk, worunter K. die Schriften der 50er und 60er Jahre fasst, leitet er zunächst ab, dass und warum Wille sich vor allem als Bewegung fassen lässt (64 f.). Der Verstand kann nun den Willen bewegen, ja besitzt schon allein dadurch, dass er dasjenige Objekt, auf das sich der Wille strebend zubewegt, im Erkennen überhaupt erst dem Willen vorlegt, eine gewisse Priorität (71 f.). Das ist etwa das, was man klassischerweise von Thomas erwarten würde. Überzeugend zeigt K. nun, dass Thomas es hierbei nicht bewenden lässt, sondern auch den umgekehrten Fall, eine Bewegung des Verstandes durch den Willen, beschreibt: Der Wille kann erkennen wollen (76) und dieses Gewollte auch bewirken – in diesem Fall kann der Wille dann sogar als dem Verstand gegenüber höherrangiges Vermögen angesehen werden (78). Wie eng die Seelenvermögen miteinander verknüpft sind, zeigt K. in seiner Nachzeichnung der thomasischen Argumentation für die Freiheit des Willens: Diese beruht nämlich darauf, dass der Mensch als Vernunftwesen in der Lage ist, ein vernünftiges Urteil über die Mittel zur Erreichung des gewollten Ziels zu fällen, so dass der jeweils konkrete Willensakt einer rationalen Entscheidung folgt, die ihrerseits nicht determiniert und mithin frei ist (86 f.). Um die klare Argumentation von K. schlagwortartig zusammenzufassen: Willensfreiheit gründet als Freiheit der Entscheidung über die zu wählenden Mittel im reflexiven Urteil (89).
Gegenüber diesen Darlegungen sieht K. auch im späten Werk des Thomas keine entscheidende Erhöhung der voluntativen Elemente, auch wenn die Entwicklungen im späteren Werk durchaus die Zuordnung von Verstand und Willen betreffen: Während Thomas in den frühen Schriften den Verstand als Zielursache des Willens sieht, insofern er ihm sein Objekt im Erkenntnisakt vorgibt (72), bestimmt er ihn im späten Werk nur noch als formale Ursache (164) – K. sieht darin aber keine konstitutive Änderung, sondern lediglich eine begriffliche Verschiebung auf Grund einer durch voluntaristische Kritik geschärften Fragestellung nach der Selbstbewegung des Willens (198). Die Betonung von Gottes Einwirken auf den Menschen vermittels des Willens wiederum deutet K. nicht als Gegensatz zu der früheren Betonung des Ansatzpunktes in der Vernunft, insofern beides nicht disjunkt zueinander stehe (202).
Diese Argumentationen deuten an, dass K. die Veränderung im Denken des Thomas zwar nicht ganz leugnet, aber doch merklich abschwächt. Leitbegriff für seine Deutung ist die »Selbsterklärung des Thomas« (137): Thomas hat nicht neue Thesen gelehrt, freilich auch nicht nur Akzente verschoben (204), sondern er hat, durch Kritiker herausgefordert, expliziert und man wird wohl sagen müssen: präzisiert, was in den frühen Schriften angelegt war. Dabei merkt man K.s Argumentation das Bemühen um eine Harmonisierung gedanklicher Differenzen an und käme bei einer methodisch stärker kontrastiven Vorgehensweise wohl zu einem anderen Ergebnis. Gleichviel: In jedem Falle ist von einer Entwicklung zu sprechen – dies will K. auch gar nicht bestreiten. Indem er nun in der Entwick­lung stärker die Kontinuität betont als die Veränderung, gewinnt Thomas zwar an lehrhafter Einheitlichkeit, verliert aber an historischer Dynamik. Um ihr nachzugehen, müsste man freilich auch mehr Wert auf die Kontexte legen, die die Veränderung bei Thomas veranlassten.
Nun ist es nicht so, dass K. gänzlich auf eine Kontextualisierung verzichtete. Das dritte Kapitel seiner Arbeit dient der sensiblen Nachzeichnung der Willenslehre Walters von Brügge und Gerhards von Abbeville als Kritikern des Thomas. Durch die Heranziehung des Letzteren, eines Weltklerikers, hat K. die Möglichkeit, eine Festlegung auf einen bloßen Schulstreit zwischen Domini­kanern und Franziskanern zu vermeiden – und doch folgt er wie­derum diesem gängigen Schema, wenn er die Thomas entgegenstehenden Positionen als »franziskanisch ausgerichtete[n] Freiheitslehren« zusammenfasst (138).
Diese Perspektivierung verstellt möglicherweise den Blick für eine komplexere Beschreibung der Debattenlage. K. selbst verweist darauf, dass die späteren Texte zur Willensfrage in einem Kontext entstanden, in dem Thomas auf die Bestrebungen der konsequenten Aristoteliker um Siger von Brabant in Paris reagierte (137, Anm. 1), und reflektiert auch den Zusammenhang mit dieser Debatte (33–36). Nicht nur weil Kurt Flasch der Philosophie- und Theologiegeschichtsschreibung ins Stammbuch geschrieben hat, welche Be­deutung diese Auseinandersetzungen bis hin zur Lehrverurteilung 1277 – drei Jahre nach dem Tod des Thomas – hatten, muss man fragen, ob K.s Buch nicht deutlich gewonnen hätte, wenn dieser denkerische Kontext stärkere Berücksichtigung gefunden hätte.
Thomas selbst hat sich an dieser Auseinandersetzung bekanntlich intensiv beteiligt, ja sogar das Jahrhunderte überdauernde Etikett der »lateinischen Averroisten« für die konsequenten Aristoteliker geprägt. Einer der zentralen Punkte der Auseinandersetzung mit ihnen war in Paris die Frage nach Determination oder Freiheit – auch wenn K. zu Recht darauf verweist, dass ein radikaler Determinismus bei ihnen nicht nachweisbar ist (34, Anm. 42). Das hebt aber das Gewicht chiffrehafter Kritik auch dort nicht auf, wo sie, wie in diesem Falle, ihr Ziel verfehlt: Gerade dieser Prozess der Übersteigerung der Lehren der konsequenten Aristoteliker durch ihre Kritiker prägt die Vorgänge um die Pariser Lehrverurteilung von 1277. An dieser Stelle wäre durchaus, wenn auch methodisch komplex, eine weitere Konturierung möglich gewesen, Thomas würde innerhalb seines Kontextes noch besser verständlich.
Doch diese Andeutung, dass das Buch noch Fragen offenlässt, die sich K. auf Grund einer etwas anderen Interessenlage wohl so gar nicht gestellt haben, darf den Blick dafür nicht verstellen, dass hier eine gründliche und sensible Textuntersuchung vorliegt, der es gelingt, einen wichtigen Aspekt im Denken des Thomas vorsichtig und erhellend zu rekonstruieren.