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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

77-79

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hrabanus Maurus

Titel/Untertitel:

De institutione clericorum. Über die Unterweisung der Geistlichen. Hrsg., übers. u. eingel. v. D. Zimpel. 2 Teilbde.

Verlag:

Turnhout: Brepols 2006. 1. Teilbd.: 247 S. 8° = Fontes Christiani, 61/1. Lw. EUR 39,16. ISBN 978-2-503-52149-7; 2. Teilbd.: II, 448 S. 8° = Fontes Christiani, 61/2. Lw. EUR 46,64. ISBN 978-2-503-52151-0.

Rezensent:

Hanns-Christoph Picker

Frühmittelalterliche und speziell karolingische Literatur ist in der Quellenreihe der Fontes Christiani kaum vertreten. Ausgerechnet der als »öder Kompilator« (Ernst Robert Curtius) verschmähte Hrabanus Maurus macht hier eine Ausnahme, während sein berühmter Lehrer Alkuin im Editionsplan der Fontes bisher keine Berück­sichtigung fand. Ist das ein Zufall oder deutet sich hier eine Verschiebung überkommener Werturteile an?
Die von dem Freiburger Historiker Detlev Zimpel herausgegebenen drei Bücher »Über die Unterweisung der Geistlichen« lassen Hrabanus jedenfalls als hochgebildeten Autoren mit vielfältigen Interessen und einem be­achtlichen geistigen Horizont erscheinen. Weit gespannt ist der thematische Bogen der 819 dem Mainzer Erzbischof Haistulf ge­widmeten Schrift: von Fragen der Kirchenordnung und Hierarchie über die liturgischen Gewänder, Sakramente, Messe, Stundengebet, Fasten, Almosen, Buße, den kirchlichen Festkalender, Kirchenmusik, Bibel und Lehrfragen bis hin zu bildungstheoretischen und hermeneutischen Erwägungen, den sieben freien Künsten sowie Fragen der Rhetorik und der Moraltheologie. In ihrer Gesamtheit präsentiert sich die Schrift De institutione clericorum als durchkomponierter pastoraltheologischer Entwurf, der das damals für die Klerikerausbildung notwendig erscheinende Wissen prägnant zusammenfasste. Dabei erweist sich Hrabanus als profunder Kenner der biblischen, theologischen, liturgischen und kirchenrechtlichen Überlieferung. Vor allem aber redigierte, kommentierte und ergänzte er seine umfangreichen Quellen so ge­schickt, dass ein durchaus originelles Stück theologischer Literatur entstand.
Zimpel bietet in seiner Einleitung ein Porträt des Hrabanus (7–15). Er macht einen Vorschlag zur theologischen und historischen Einordnung der Schrift im Kontext der Aachener Reformgesetzgebung unter Ludwig dem Frommen, skizziert den Inhalt (16–45), stellt die verwendeten Quellen vor (45–59) und beschreibt die Ar­beitsweise des Hrabanus (59–86). Abschließend gibt Zimpel einen Überblick über die beachtliche Wirkung der Schrift bis hin zur Druck- und Editionsgeschichte (86–99). Zu Recht wird Hrabanus freigesprochen vom konventionellen Vorwurf, er habe keine eigenen Gedanken geäußert. Zimpel wertet seinen Umgang mit den Quellen gar als »Manipulation« (83). Dabei arbeitet er Charakteristika heraus, die exemplarische Bedeutung für die Erforschung der theologischen Literatur des Frühmittelalters gewinnen könnten.
Die eigentliche Textausgabe (106–647) basiert auf Zimpels sorgfältiger Edition von 1996 (Hrabanus Maurus: De institutione clericorum libri tres. Studien und Edition von Detlev Zimpel, Frankfurt a. M. 1996). Die Quellenbelege sind ergänzt (vgl. Hanns-Christoph Picker: Pastor doctus. Klerikerbild und karolingische Reformen bei Hrabanus Maurus. Mainz 2001, 32–35) und im Apparat einzeln nachgewiesen. Leider sind die Quellenpassagen im Text nicht durch Kursivdruck hervorgehoben wie in der ursprünglichen Edition. Insbesondere längere Zitate sind so nur mühsam zu identifizieren. Hier wäre ein flexiblerer Umgang der Herausgeber mit den Fontes-Richtlinien wünschenswert gewesen. Denn die Arbeitsweise des Hrabanus und die Eigenheiten seines Entwurfs erschließen sich erst nach einem Abgleich mit dem rezipierten Quellenmaterial. Wer sich hier einen plastischen Eindruck verschaffen will, sollte nach wie vor die ursprüngliche Edition konsultieren.
Zimpels textnahe Übersetzung wirkt durch ihre latinisierenden Konstruktionen mitunter spröde, bleibt aber gut verständlich. Diskutabel ist die Übersetzung mancher Fachausdrücke: für das Wortfeld ordinare besser durchgängig ›einsetzen‹ statt ›weihen‹ (132.142.148.152.298); für das Wortfeld praedicare besser durchgängig ›verkünden‹ statt ›predigen‹ (148.152.156.542.604.630.638.640); officium besser ›Amt‹ oder ›Amtshandlung‹ (234.246.454), spezifisch ›Verkündigungsamt‹ (152), ›Messamt‹ (234.246.248) oder ›Stundenamt‹ (248.252); sententia als dialektischer Fachbegriff besser ›Satz‹ statt ›Inhalt‹ (542). Der terminologische Unterschied zwischen presbiter (Priester) und sacerdos (Sammelbezeichnung für Priester und Bischof) ist nicht konsequent wiedergegeben (148–152.248). Eine Lösung böte der Begriff ›Geistlicher‹ für sacerdos. Clericus könnte man dann mit ›Kleriker‹ übersetzen. Corporalis bedeutet auf dem Hintergrund der rezipierten augustinischen Sakramentslehre nicht ›wirklich‹, sondern ›körperlich‹ (184). Bei Hrabanus kommt nicht dem körperlichen, sondern dem spirituellen Gehalt der sakramentalen Vollzüge die eigentliche Wirklichkeit zu. Insgesamt ist die Übersetzung Zimpels sehr zuverlässig. Erschlossen wird der Text durch eine ausführliche Bibliographie (655–675) und die üblichen Register: Bibelstellen, Personen, Sachen und lateinische Stichworte (676–695). So eröffnet Zimpels zweisprachige Ausgabe erstmals einen bequemen Zugang zu einem der kirchengeschichtlich bedeutendsten Texte der Karolingerzeit.
Die Bedeutung von De institutione clericorum liegt – soweit bin ich mit Zimpel einig – nicht nur in der inhaltlichen Qualität und in der Wirkungsgeschichte, sondern auch in der »politischen Brisanz« (25) auf Grund der Bezüge zur Aachener Reformgesetzgebung der Jahre 816–819. Dass es sich jedoch um »eine Art Kampfschrift« (25) zur Durchsetzung der entsprechenden Beschlüsse handeln soll, überzeugt mich nach wie vor nicht. Im Gegenteil! Zwar gibt es tatsächlich einige inhaltliche Berührungen, der Grundtendenz nach widerspricht De institutione clericorum jedoch den Aachener Reformen. Dies entgeht Zimpel auch deshalb, weil er fast ausschließlich das für die Kanoniker relevante Synodaldekret von 816 in den Blick nimmt. Josef Semmlers 1963 veröffentlichte Edition der monastischen Reformdokumente (CCMon 1) fehlt in Zimpels Untersuchung völlig, obwohl gerade dieser Überlieferungskomplex für den Fuldaer Klosterlehrer Hrabanus und seine ursprünglich monastischen Adressaten hätte Geltung haben müssen. So verkennt Zimpel den Sachverhalt, dass Hrabanus die Hauptanliegen der Aachener Reformer geradezu tor­pedierte: die strikte Trennung zwischen regelkonformem be­nediktinischen Mönchtum und ka­nonischem Klerus sowie die Verpflichtung dieser beiden Gruppen auf je eigene Formen des Stundengebets und der Lebensführung.
Letztlich steht Grundsätzliches zur Debatte: War Hrabanus ein weitgehend loyaler Hoftheologe, der eine Schrift »offiziösen Charakters« (42) zur Durchsetzung politischer Beschlüsse verfasste, oder verfolgte er – so sehe ich die Dinge – in kritischer Auseinandersetzung mit der kirchenpolitischen Entwicklung eine eigenständige Linie, die sich vor allem aus der Interessenlage seines Konvents und aus seinen spezifischen Überzeugungen ergab? Historisch noch wichtiger ist die weiterführende Frage, ob die Bildungs-, Ge­sellschafts-, Kirchen-, Kloster- und Liturgiereformen unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen unter einem gemeinsamen Vorzeichen betrachtet werden dürfen wie bei Zimpel (16–19), oder ob Hrabanus – das ist meine Meinung – in einem Spannungsfeld verschiedener, einander zum Teil widersprechender Reformströmungen zu verorten ist.