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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

68-71

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mutschler, Bernhard

Titel/Untertitel:

Das Corpus Johanneum bei Irenäus von Lyon. Studien und Kommentar zum dritten Buch von Adversus Haereses.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XVIII, 629 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 189. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-148744-6.

Rezensent:

Rolf Noormann

In der Rezension meiner 1994 erschienenen Untersuchung »Irenäus als Paulusinterpret. Zur Rezeption und Wirkung der paulinischen und deuteropaulinischen Briefe im Werk des Irenäus von Lyon« (Tübingen 1994) wurde wiederholt auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Untersuchung zur irenäischen Johannesrezeption hingewiesen, spielt doch neben Paulus unübersehbar auch Johannes eine zentrale Rolle für die irenäische Theologie. Nachdem zwischenzeitlich eine Monographie zu »Irenaeus’ Use of Matthew’s Gospel in Adversus Haereses«, verfasst von D. Jeffrey Bingham, er­schienen war (Leuven 1998), hat sich nun, angeregt durch Martin Hengel, Bernhard Mutschler ausführlich der irenäischen Johannesauslegung angenommen. Nach der im Jahr 2004 unter dem Titel »Irenäus als johanneischer Theologe. Studien zur Schriftauslegung bei Irenäus von Lyon« veröffentlichten Dissertation, die sich in erster Linie mit Fragen des »Schriftgebrauchs« befasst (s. ThLZ 131 [2006], 529–532), legt er nun einen ausführlichen »Kommentar zu den johanneischen Bezugnahmen bei Irenäus von Lyon, Adversus Haereses III« vor (81–490), ergänzt um Studien zu »Aufbau, Gliederung und Themen von Haer. III« (13–63) sowie zur »Reihenfolge der Evangelien« bei Irenäus (65–80).
Der Vf. liefert damit die bislang fehlende eingehende Untersuchung der irenäischen Johannesrezeption, freilich »aus pragmatischen Gründen« beschränkt auf das dritte Buch des irenäischen Hauptwerkes Adversus haereses: Um »eine möglichst genaue Wahrnehmung der irenäischen Verwendung johanneischer Gedanken und Sprache« zu erreichen, entscheidet der Vf. sich für die Methode des »Kommentar(s)«, eine »durchgängige Kommentierung der Bezugnahmen auf das Corpus Johanneum« bei Irenäus aber wäre zu umfangreich geworden (7). Da Haer. III bei Weitem die dichteste Johannesrezeption im irenäischen Werk aufweist, konzentriert sich der Vf. auf dieses Buch (7 f.). Biblischer Bezugspunkt ist dabei stets das gesamte Corpus Johanneum, da Irenäus die Johannesbriefe und die Johannesoffenbarung demselben Autor zuschreibt wie das Johannesevangelium.
Die »Methode der Kommentierung« wird in Kapitel 3 (83–93) detailliert dargelegt. Die von Köhler, Koch, Noormann u. a. entwi­ckelten Methoden zur Analyse und Interpretation der Rezeption biblischer Bücher bei frühchristlichen Autoren werden vom Vf. aufgenommen und zu einer Methodik der Kommentierung von Bezugnahmen weiterentwickelt, die in ihrer Durchführung an philologischer Gründlichkeit und exegetischer Genauigkeit kaum etwas zu wünschen übrig lässt. Textgeschichtliche Fragen sowohl auf irenäischer als auch auf biblischer Seite werden ebenso sorgfältig erörtert wie mögliche oder tatsächliche Veränderungen gegenüber dem jeweils herangezogenen biblischen Text. Darüber hinaus findet auch der jeweilige Kontext gründlich Beachtung; die Ausführungen zu den einzelnen Abschnitten sind durch die erwähnte einleitende Untersuchung zu »Aufbau, Gliederung und Themen von Haer. III« fundiert. Wer sich über die Johnnesrezeption in Haer. III informieren will, findet in diesem philologischen Kommentar in fast jeder Hinsicht erschöpfend Auskunft.
Neben philologischen Fragen soll auch »der theologische Skopus der Bezugnahme(n) erarbeitet« werden (90). Besonderes Gewicht erhält in diesem Zusammenhang etwas überraschend die Frage der Übersetzung: Der Vf. erhebt nicht nur den Anspruch, »die bislang beste Übersetzung des jeweiligen Textausschnitts« vorzulegen, er bietet zudem durchgängig einen »Übersetzungsvergleich« (Abweichungen der wichtigeren modernen Irenäusübersetzungen von Hayd bis Brox werden fortlaufend in den Fußnoten notiert, die Übersetzungen insgesamt zusammenfassend auf S. 497, Anm. 9 einem überaus kritischen Urteil unterworfen), durch den nicht nur »weitere Interpretationen des Textausschnitts« in den Blick treten sollen, sondern, so der Vf., »fast der gesamte neuzeitliche Horizont bisheriger Interpretationen, der sich in den verwendeten Übersetzungen wie in einem Brennglas verdichtet« (91). De facto ersetzt der Übersetzungsvergleich die Diskussion mit der Sekundärliteratur zur irenäischen Theologie; diese fehlt wie schon in der ersten Monographie auch hier fast vollständig. So werden etwa die für die untersuchte Thematik wichtigen theologischen Studien von Al­bert Houssiau zur irenäischen Christologie und von Gustaf Wingren zu seiner Inkarnationstheologie kaum herangezogen. Wenn einmal eine Stelle ausführlicher inhaltlich diskutiert wird, beschränkt sich die herangezogene Sekundärliteratur nicht selten weitestgehend auf Kommentare zu den neutestamentlichen Texten, deren Aussagen mehr oder minder direkt auf Irenäus übertragen werden (vgl. etwa 315–325 zur Haer. III 16,5); die entsprechende Literatur zu Irenäus selbst wird kaum einbezogen (vgl. beispielsweise noch 413–428 zu III 19,1). Theologische Deutungen bleiben so fast zwangsläufig hinter dem wissenschaftlichen Diskussionsstand zurück (vgl. etwa 315 ff. zum Ausdruck novissima hora, wo eine Auseinandersetzung mit van Unniks Aufsatz »Der Ausdruck ›in den letzten Zeiten‹ bei Irenäus« fehlt). Der theologische Kommentar vermag damit nicht in gleicher Weise zufrieden zu stellen wie der philologische.
Die wesentlichen Ergebnisse des Buches werden auf S. 491–520 unter den Stichworten »Kontexte« und »Schwerpunkte« zusam­mengefasst. Der Vf. betont den »exegetische(n) Fortschritt« des Irenäus gegenüber seinen Vorgängern, den er »in methodischer Hinsicht ... in seiner vergleichsweise sehr hohen Zitiergenauigkeit und einer inhaltlich vom kirchlichen Bekenntnis her reflektierten kanonischen Exegese« sieht (496). Dass die irenäische Antwort auf die gnostische Herausforderung »zeitübergreifende Bedeutung« gewinnen konnte, hat für den Vf. seinen »formale(n) Grund ... in einer zitiergenauen Schriftauslegung«, den »materiale(n)« aber »in dem durch sie zum Leuchten gebrachten trinitarisch gerahmten Christusbekenntnis sowie der entfalteten Heilsgeschichte«. Durch diese Vorzüge sei Irenäus »im Rückblick zum Exegeten, Systema­tiker und Johannesausleger eines ganzen Jahrhunderts geworden« (520). Mit Recht stellt der Vf. heraus, »Schriftauslegung« sei für Irenäus »gleichzeitig Theologie im Vollzug, praktische Kirchen- und Gemeindeleitung im Vollzug ..., christliche Lehre und Orientierung im Vollzug« (ebd.). Wenn er freilich bemerkt, die »kirchlich-theologische Schriftstellerei« des Irenäus beziehe zwar »ihre Themen und Adressaten aus den Herausforderungen und Auseinandersetzungen der Gegenwart, ihre Positionen aber fast durchgängig aus der Exegese, die auf dem Hintergrund einer kirchlichen Lehr­tradition gewonnen« werde (496, Hervorhebungen R. N.), so scheint mir der inhaltliche Einfluss der ihrerseits situationsbedingten »Lehrtradition« auf die in der irenäischen Schriftauslegung vertretenen »Positionen« doch unterschätzt zu sein. Dass Irenäus sich selbst, vermittelt durch seinen Lehrer Polykarp von Smyrna, »ge­wissermaßen als Enkelschüler von Johannes« verstehe, ist für den Vf. »der unaufdringliche, aber mitzuhörende Re­sonanzboden« seiner Johannesauslegung (502 f.). Inhaltlich sei für Irenäus in seiner antignostischen Frontstellung Joh 1,14 »das untrügliche Schibbolet« für die Christologie geworden (499, vgl. 512), wie johanneische Aussagen bei Irenäus überhaupt »für die Christologie und Inkarnation ... die Messlatte theologisch angemessener Rede schlechthin« bildeten (520). Die Frage, wie Irenäus Joh 1,14 (oder andere johanneische Aussagen) genau versteht, bleibt freilich unterbelichtet (vgl. dazu jüngst Ch. Uhrig, »Und das Wort ist Fleisch geworden«, Münster 2004, 188–203).
Ein Anhang mit textkritischen Emendationen gegenüber der Sources Chrétiennes-Ausgabe, detaillierten Übersichten über die irenäischen Bezugnahmen auf das Corpus Johanneum in Haer. III und »Korrekturen und Ergänzungen« zu B. Reynders’ »Lexique comparé ...« (521–537), ein ausführliches Literaturverzeichnis (539–571) sowie umfassende Register (573–629) runden das Buch ab.
Der Vf. hat mit seinen beiden Monographien die Forschung zur Schriftrezeption bei Irenäus von Lyon vor allem in methodischer Hinsicht weiter vorangetrieben. Mit seinen Analysen zum irenä­ischen Schriftgebrauch im Allgemeinen und zu seiner Verwendung des Corpus Johanneum im Besonderen hat er zum Teil me­thodisches Neuland betreten; die exemplarisch anhand von Haer. III vorgenommene Analyse und Kommentierung johanneischer Bezugnahmen ist ein Musterbeispiel philologischer Gründlichkeit. In theologischer Hinsicht freilich bleiben Wünsche offen. Die Frage, wie johanneisches im irenäischen Denken neue Gestalt gewinnt und was es zur Entwicklung der irenäischen Theologie beiträgt, scheint mir noch nicht zureichend beantwortet zu sein. Dazu müsste die irenäische Theologie in stärkerem Maße, als dies hier ge­schieht, als eine Größe sui generis in den Blick genommen werden.