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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

63-66

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Breytenbach, Cilliers, u. Jörg Frey [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XII, 364 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 205. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149252-5.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Von außen betrachtet mag die gegenwärtige neutestamentliche Wissenschaft gelegentlich erscheinen, als treibe sie allerhand Allotria und scheue sich, zur Sache zu kommen. Der anzuzeigende Band belegt eindrücklich das Gegenteil, zumal er sich durchgehend auf ein Werk bezieht, das in gewisser Weise als eine Summe neutestamentlicher Arbeit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s angesehen werden kann, wenn auch vorwiegend aus deutschem akade­mischem Blickwinkel: die Theologie des Neuen Testaments von Ferdinand Hahn (Tübingen 2002, 22005; vgl. die Besprechung von Eduard Lohse, ThLZ 130 [2005], 40–44).
Der Band geht auf Beiträge zur Tagung einer Projektgruppe der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie im Jahr 2004 zurück, die sich mit neueren Gesamtdarstellungen der neutestamentlichen Wissenschaft beschäftigt. In diesem Rahmen wurden in den vergangenen Jahren neben der Theologie des Neuen Testaments von Ferdinand Hahn einschlägige Werke von Larry W. Hurtado, James D. G. Dunn und Martin Hengel vorgestellt und eingehend diskutiert, jeweils unter Beteiligung der Autoren. Den Initiatoren Jörg Frey (München) und Cilliers Breytenbach (Berlin) geht es dabei nicht nur, wie schon die Auswahl der Autoren zeigt, um den Brü­ckenschlag zwischen der deutschen und der angelsächsischen Sprachwelt – eine Grenzüberschreitung, die heute verstärkt von deutscher Seite aus gesucht werden muss, da sie in der Gegenrichtung immer weniger für nötig gehalten wird. Sie wollen darüber hinaus auch gezielt die Isolation bekämpfen, in die die deutschsprachige neutestamentliche Wissenschaft innerhalb der theologischen Fachdisziplinen geraten ist. Deshalb werden zu den Arbeitstagungen neben Neutestamentlern regelmäßig auch Systematiker sowie gelegentlich Alttestamentler, Patristiker oder Vertreter anderer theologischer Fächer eingeladen. Dass die konfessionelle Ökumene repräsentativ vertreten ist, versteht sich inzwischen von selbst.
In diesem Band lädt auch das ihm zu Grunde liegende Werk zu solcher Öffnung ein, stellt es doch die erste vollständig erschienene Theologie des Neuen Testaments aus jüngerer Zeit dar, in der ne­ben die historisch analysierende und differenzierende Erschließung der neutestamentlichen Einzelzeugnisse und ihrer theolo­gischen Konzeptionen programmatisch als zweiter Band eine systematisierende Gesamtdarstellung der Theologie des Neuen Testaments (im Singular!), geordnet nach Sachthemen, getreten ist. Nicht wenige der Beiträge zu diesem Band beschäftigen sich mit der Frage, ob dieser Versuch gelungen ist – dass er in der aktuellen Diskussionslage für notwenig erachtet wird, ist dabei vorherrschende Meinung.
Neben der Frage der Möglichkeit und der Art und Weise der Durchführung einer solchen systematisierenden Gesamtschau der Theologie des Neuen Testament stehen zwei weitere Grundsatzfragen im Fokus verschiedener Beiträge des Bandes: die Einbindung der Verkündigung und des Wirkens Jesu in eine Theologie des Neuen Testaments und die Bedeutung des biblischen Kanons der Kirche für Ansatz und Zielstellung einer solchen Gesamtdarstellung. Waren diese beiden Grundsatzfragen in Teilen der deutschsprachigen Exegese des 20. Jh.s gegenüber einer »rein« historisch-gene­ tischen, analytisch-differenzierenden Darstellungstendenz mit historischen und theologischen Argumenten geradezu an den Rand gedrängt worden, so haben sie sich inzwischen ihren Platz im Zentrum der Theologie des Neuen Testaments eindrucksvoll zurückerkämpft. In der Tat kann eine Theologie des Neuen Testaments, die als theologische Disziplin ihrem Namen und Anspruch gerecht werden, also nicht bei historischen Relativitätsurteilen stehen bleiben, sondern zu theologischen Wahrheitsaussagen vordringen will, nicht vor den methodischen Schwierigkeiten des Zugangs zum vorösterlichen Jesus einfach kapitulieren oder, schlimmer noch, sich einen solchen Zugang von zeitbedingten philosophischen Prämissen her schlichtweg verbieten, und ebenso wenig kann sie davon absehen, dass Gestalt und Wahrheitsanspruch der schriftlichen Überlieferung, auf der sich die aktuelle Kommunikation des Evangeliums aufbaut, uns heute nur durch einen kanonischen Prozess zugänglich sind, in welchem die Kirche in ihren vielfältigen konfessionellen Ausprägungen durchaus auch Subjekt eines Tradierungsvorgangs war und ist.
Freilich gilt zugleich, dass auch Theologie des Neuen Testaments in der gegenwärtigen Forschungslage nur noch mit einem klar entwickelten, differenziert ausgeprägten Bewusstsein und Verständnis für die religionsgeschichtlichen Kontexte der Entstehung der biblischen Schriften und der religiösen Bewegungen, von denen sie zeugen, betrieben werden kann, einschließlich des Wirkens Jesu im Kontext des antiken Judentums in hellenistisch-römischer Zeit. Und ebenso ist es für diejenigen, die lehrend oder schreibend Theologie des Neuen Testaments treiben, unumgänglich, dass sie dies im Gespräch mit den geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen tun, wollen sie nicht einem kirchlichen oder bin­nentheologischen Provinzialismus verfallen, der den Platz akademischer Theologie in der universitas litterarum nachhaltig schwächen oder gar gefährden kann. Auch von solchem Bewusstsein zeugen einige Beiträge zu diesem Band eindrucksvoll.
Solche methodischen und hermeneutischen Herausforderungen an eine Theologie des Neuen Testaments im Gesamtzusammenhang akademischer Theologie an der Universität stellen sich insbesondere hinsichtlich des geschichtlichen Charakters des christlichen Glaubens, wie er sich exemplarisch mit Blick auf das Jesus-Christus-Geschehen selbst, aber eben auch schon mit Blick auf das Grundgeschehen zwischen Israel und seinem Gott, der christlichen Religion identitätsstiftend eingeprägt hat. Die Entfaltung eines den Glaubenszeugnissen des Christentums gerecht werdenden und zugleich auf der Höhe der aktuellen Diskussionen zur Historik kommunizierbaren Geschichtsbegriffs und -verständnisses scheint mir eines der vordringlichsten Prolegomena zur Theologie des Neuen Testaments zu sein.
Solche (und weitere) grundlegenden Fragen werden im vorliegenden Band im einleitenden Beitrag von Jörg Frey aufgegriffen und mit einem problemgeschichtlichen Durchgang durch die Forschungsgeschichte seit Gabler verbunden. Rudolf Hoppe erweitert den Blickwinkel aus aktueller katholischer Perspektive. John Reumann und Robert Morgan beleuchten Fragestellungen einer an­geblich »typisch deutschen« Disziplin im Kontext nordamerikanischer und britischer Bibelwissenschaften. Eigene Konzeptionen oder Entwürfe einer Theologie des Neuen Testaments, mehr oder weniger im Gespräch mit Ferdinand Hahn, stellen Jürgen Becker, Jens Schröter, François Vouga und Heikki Räisänen vor und zur Diskussion. Noch einmal aus dem Kontext der aktuellen britischen Forschung und jeweils auf der Grundlage jahrzehntelanger eigener theologisch engagierter exegetischer Arbeit geschrieben er­scheinen die Beiträge von C. K. Barrett und James D. G. Dunn besonders eindrucksvoll. Johan S. Vos rückt die rhetorische Perspektive kritisch in den Blick, um, ähnlich wie Räisänen, für eine prinzipielle Trennung zwischen religionsgeschichtlichen bzw. -wissenschaftlichen (an­geb­lich »säkularen«) und theologischen (angeblich »konfessionsgebundenen«) Ansätzen scharf zu unterscheiden.
Unter den systematisch-theologischen Beiträgen sind diejenigen von Notker Slenczka und Wolf Krötke hervorzuheben, die das Gesprächsangebot von Ferdinand Hahn in kritischer Auseinandersetzung mit ihm aufnehmen, Slenczka mit Blick auf Hahns »of­fenbarungstheologischen« Ansatz, dem er seinen eigenen »an­thropologischen« entgegenstellen will, Krötke hinsichtlich des Wahrheitsanspruchs eschatologischer Aussagen des Neuen Testaments, deren Eindeutigkeit in Hahns Suche nach »gemeinsamen Strukturen« oder »Tendenzen« der verschiedenen neutestamentlichen Einzelzeugnisse nicht ausreichend Rechung getragen werde. Friedrich Wilhelm Horn wendet sich der Ethik in Hahns Theologie zu, insbesondere dem nur unzureichend gelungenen Brü­ckenschlag von einer »Jüngerethik Jesu« zu einer »urchristlichen Gemeindeethik«. Hinzu kommen fundamentaltheologische Überlegungen zu Schrift und Offenbarung von Peter Neuner und Karl Kardinal Lehmann. Am Ende steht eine knappe Replik von Ferdinand Hahn auf die vorgebrachten Kritiken und Anregungen.
Es ist zweifellos ein Verdienst der Theologie des Neuen Testaments von Ferdinand Hahn, zu so weitreichenden und grund­legenden Reflexionen Anlass geboten zu haben, wie sie hier do­kumentiert werden. Auch wer seinen Versuch, analytische und synthetische Zugänge zur Theologie des Neuen Testaments miteinander zu verbinden, noch nicht für völlig überzeugend hält, wird von der Auseinandersetzung mit ihm profitieren und dazu in dem vorliegenden Band zahlreiche weiterführende Anregungen erhalten. Es ist zu wünschen, dass insbesondere auch Vertreter anderer theologischer Disziplinen das Gespräch aufgreifen, das hier in Gang gesetzt worden ist, selbst wenn es nur dazu dient, das eingangs zitierte Urteil über die gegenwärtige neutestamentliche Wissenschaft zu korrigieren.