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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

56-58

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bell, Richard H.

Titel/Untertitel:

The Irrevocable Call of God. An Inquiry into Paul’s Theology of Israel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XXV, 550 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 184. Lw. EUR 99,00. ISBN 3-16-148009-0.

Rezensent:

Dieter Sänger

Die paulinischen Aussagen über Israel, sein gegenwärtiges und zu­künftiges Geschick, lassen sich auf keinen einheitlichen Nenner bringen. Vielen gelten sie als widersprüchlich, zumindest jedoch als ambivalent. Dafür gibt es Gründe. Auf der einen Seite hält Paulus ungeachtet der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit Israels sich dem Evangelium von Jesus Christus verschließt, an der bleibenden Erwählung des Gottesvolkes fest. Auf der anderen Seite hat es den Anschein, als sei für ihn die Kirche aus Juden und Heiden das neue Israel, das an die Stelle des empirischen Israel getreten ist. Ob diese beiden Sinnlinien miteinander konkurrieren oder kompatibel sind, wie sie exegetisch zu beurteilen sind und welche Konsequenzen sich aus alledem für das Verhältnis von Kirche und Israel im Gesamt des paulinischen Denkens ergeben, ist überaus umstritten. Deshalb ist jeder Versuch zu begrüßen, die zur Debatte stehenden Texte auf dem Hintergrund des in sie eingeschriebenen Wirklichkeitsverständnisses theologisch zu profilieren, was zugleich heißt, sie nicht durch das Anlegen sachfremder Kriterien hermeneutisch zu domestizieren. R. Bell, Senior Lecturer für Neues Testament an der Universität Nottingham und Verfasser zweier thematisch einschlägiger Monographien zum Römerbrief (vgl. ThLZ 120 [1995], 433–436; 125 [2000], 62–64), unterzieht sich in seiner umfangreichen Studie dieser ebenso schwierigen wie notwendigen Aufgabe.
Der Röm 11,29 entlehnte Titel des Buchs ist Programm. Er bringt kurz und prägnant das im Schlusssatz formulierte Ergebnis der Untersuchung auf den Begriff: »Israel remains the people of God and ... the ultimate assurance of her salvation is grounded in the fact that ›the gifts and call of God are irrevocable‹« (422). Seine Sicht der Dinge entfaltet B. in mehreren Schritten. Zunächst geht er auf die wichtigsten Faktoren ein, die das Leben des Apostel von Beginn an geprägt haben und auch später noch Wirkung zeigen (1–37): seine jüdische Herkunft, seine Erziehung und Ausbildung in Jerusalem, die Zugehörigkeit zur pharisäischen Bewegung und das an ihren Grundsätzen orientierte Schriftverständnis. Als »Eiferer für [die] väterlichen Überlieferungen« (Gal 1,14) ging Paulus in Judäa ge­waltsam gegen die Hellenisten (Apg 6,1) vor, deren kult- und tempelkritische Haltung ihm als blasphemisch galt.
Mit dem christlichen Missionar Paulus befasst sich das nächste Kapitel (38–84). Seine Berufung zum Völkerapostel – B. spricht durchweg von »conversion« – impliziert eine Umkehrung der bisher für ihn gültigen Werte: Gott hat den gekreuzigten Jesus nicht verflucht (vgl. Dtn 21,23), sondern auferweckt und erhöht. Damit verbindet sich eine neue Sicht auf die Tora. Sie behaftet den Menschen zwar weiterhin mit der Forderung, das in ihr Gebotene zu tun, aber Heilsrelevanz besitzt sie nicht mehr. Post Christum fungiert sie »simply as a condemning word« (42). Diese im Damaskusgeschehen wurzelnde Erkenntnis bestimmte fortan die missionarische Verkündigung des Paulus und ließ ihn vom Verfolger zum Verfolgten werden. Vor allem jüdische Kreise begegneten ihm mit Feindschaft. Solche Erfahrungen stehen im Hintergrund der verbalen Attacke in 1Thess 2,14–16. – Anschließend behandelt B. »Paul’s Critique of Israel’s Religion« (85–186). In betontem Gegensatz zur sog. New Perspective on Paul, der er vorwirft, ihre Interpretation der frühjüdischen Texte im Sinne der von E. P. Sanders etablierten Kategorie des »Bundes­nomis­mus« blende gegenläufige Tendenzen von vornherein aus oder marginalisiere sie, charakterisiert er das zeitgenössische Judentum als »a religion of works-righteousness« (131.155, vgl. 419). Denn trotz der nicht zu leugnenden Pluralität gerade auch im Blick auf ihre unterschiedlich konzeptualisierten Heilsvorstellungen stimmten »all forms of Judaism at the time of Paul« (143) darin überein, »that salvation was to a large extent by works« (131). Gegen diese dem menschlichen Tun zugeschriebene soteriologische Effizienz richtet sich die rechtfertigungstheologisch fundierte Kritik des Apostels: Sowohl das »getting in« als auch das »staying in« verdanken sich einzig der Gnade Gottes (151).
In den folgenden Kapiteln akzentuiert B. das paulinische Israelverständnis, wie es sich in den einzelnen Briefen darstellt. Leitend sind die Fragen, ob die Kirche aus Juden und Heiden Israel als Gottesvolk abgelöst hat (157–217), warum Israel verstockt wurde und im Unglauben verharrt (218–237), wie die endzeitliche Rettung von »ganz Israel« sich vollzieht (238–270) und worin sie begründet ist (271–291). Als Resümee ergibt sich: Der exegetische Befund ist durch positionelle Differenzen gekennzeichnet. Im konfrontativ ausgerichteten Gal, den B. früh datiert (nach dem 1Thess verfasst), vertritt Paulus ein Substitutionsmodell (178 f.). Nur die an Christus Glaubenden sind Kinder Abrahams; sie konstituieren jetzt das »Israel Gottes« (Gal 6,16). Die beiden Korintherbriefe und der Phil lassen davon nichts mehr erkennen, obwohl 2Kor 10–13 und Phil 3,2 ff. einen Konflikt mit judaistischen Gegnern spiegeln. Der Röm markiert den Durchbruch zu einem neuen Verständnis von Israel. Gott hat sein Volk verstockt, damit das Evangelium zu den Heiden gelangt, aber nicht endgültig verstoßen. In der Begegnung mit dem zur Parusie kommenden Christus begegnet Israel dem Evangelium, das den rettenden Glauben bewirkt (268–270). Paulus entfaltet diese soteriologische Perspektive auf der Basis seines Gottesverständnisses. Gott steht zu seinen Verheißungen, die er Israel gegeben und in Christus erfüllt hat (291).
Sodann wendet sich B. dem Problem zu, wie das Nebeneinander der von Widersprüchen gekennzeichneten Israelaussagen im Corpus Paulinum zu erklären und theologisch zu bewerten ist (»Towards a Coherent Theology of Israel« [292–337]). Dass die Unterschiede in erster Linie situations- und kontextbedingt sind, wie vielfach vermutet wird, erscheint ihm wenig plausibel. Deshalb rechnet er mit einem Erkenntnisfortschritt zwischen der Abfassung des 1Thess und Gal einerseits und dem Röm andererseits (217.292 f.). Der 1/2Kor sowie der Phil nehmen auf Grund der Tat­sache, dass in ihnen der Substitutionsgedanke fehlt, eine »inter­mediate position« (217) ein. Hinsichtlich der wirkungsgeschichtlich dominant gewordenen israelkritischen Passagen, die sich (kirchen-) politisch leicht instrumentalisieren ließen, ist allerdings theologische Sachkritik nicht nur angebracht, sondern gerade von Paulus her unabweisbar. Wenn der Apostel im Streit um die soteriologische Bedeutung der Tora die »Wahrheit des Evangeliums« (Gal 2,5.14), d. h. Jesus Christus in Person, zum Präferenzkriterium er­hebt, fällt z. B. seine Aussage in 1Thess 2,14–16 hinter diese Wahrheit zurück. Nicht weil sie antijüdisch missdeutet werden kann, sondern weil si e– mit M. Luther gesprochen – nicht »Christum treibet« (333 f.).
Es folgen noch Überlegungen zu den systematisch-theologischen Implikationen der paulinischen Israeltheologie, ihrer Rezeption vor und während der Zeit des Nationalsozialismus sowie zu ihrer bleibenden Aktualität als Herausforderung für eine Kirche, die untrennbar mit Israel verbunden ist (338–408). Die Frage, ob Paulus aus heutiger Sicht als ein Antisemit oder Philosemit zu gelten habe (beide Kategorien sind m. E. historisch unangemessen), beantwortet B. im Sinne der zuletzt genannten Alternative (408–422).
Die exegetisch wie hermeneutisch gleichermaßen tiefschürfende Studie enthält ein engagiertes und weithin überzeugendes Plädoyer für einen konfessorisch geführten Dialogus cum Judaeis, der zugleich auf eine der Vergewisserung dienenden Reflexion über die Grundlagen des eigenen Glaubens drängt. Der Horizont, den B. abschreitet, ist weit gesteckt. Hilfreich sind die knapp formulierten Zwischenbilanzen. Vor- und Rückverweise auf noch zu erörternde oder schon behandelte Texte dienen der besseren Orientierung. Ohne seine Präferenzen zu verleugnen, argumentiert B. differenziert und bewegt sich auf der Höhe der Forschung (allein das Literaturverzeichnis umfasst 67 Seiten). Trotz seiner Option für die »lutherische« Paulusperspektive nimmt er das Anliegen der New Perspective ernst und belässt ihm sein relatives Recht (85–156). Meine Rückfrage konzentriert sich auf einen Punkt.
Von der Frühdatierung des Gal, die ohne größere Diskussion vorausgesetzt wird (217), hängt für B. viel ab. Sollte das Zirkularschreiben nicht lange vor dem Röm entstanden sein, wofür einiges spricht (Parallelen in der Gedankenführung, gleiche Reihenfolge bestimmter Topoi, hier wie dort rechtfertigungstheologisch grun­dierte Argumentation), wäre seiner These, in den Jahren zwischen dem Gal und Röm habe Paulus neue Einsichten gewonnen und sein bisheriges Israelverständnis revidiert, der Boden entzogen. Zudem bleibt unklar, welche Bedingungsfaktoren hier in An­schlag zu bringen sind. Verdankt sich dieser Erkenntnisprozess, bei dem unterschwellig eine genetische Entwicklung vom ältesten (1Thess) bis zum jüngsten Paulusbrief (Röm) suggeriert wird, vornehmlich endogenen oder exogenen Faktoren? Dass der Streit über diese Frage kein rein akademischer und alles andere als überflüssig ist, hat B. mehr als deutlich gemacht. Auch dafür ist ihm zu danken.