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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

54-56

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baumert, Norbert

Titel/Untertitel:

Sorgen des Seelsorgers. Übersetzung und Auslegung des ersten Korintherbriefes.

Verlag:

Würzburg: Echter 2007. 448 S. 8° = Paulus neu gelesen. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-429-02893-0.

Rezensent:

Roland Gebauer

Mit diesem Band eröffnet Norbert Baumert, emeritierter Professor für Neutestamentliche Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen (Frankfurt a. M.), die von ihm be­sorgte Reihe »Paulus neu gelesen«. Es handelt sich dabei um die Präsentation einer neuen Gesamtschau der Paulusbriefe, die auf 15 Jahre lang monatlich durchgeführte Kolloquien des sog. »Frankfurter Pauluskreises«, einer Arbeitsgemeinschaft B.s mit seinen Doktoranden, zurückgeht. Geplant sind Übersetzungen und Erklä­rungen aller Briefe des Corpus Paulinum. Die Reihe wird aus arbeitsökonomischen Gründen mit dem 1. Korintherbrief eröffnet, in dem der sich um und für seine Gemeinde sorgende »Seelsorger« Paulus er­kennbar wird. Ausgangspunkt der neuen Sicht auf den Apostel und seine Briefe war nach B. nicht »irgendeine ›Idee‹ von einem veränderten Paulusbild« (320), sondern waren zunächst sprachliche, grammatische und inhaltliche Einzelprobleme, bei deren gründlicher Untersuchung sich im Laufe der Zeit »einige Grundlinien paulinischer Theologie« (ebd.) ab­zeichneten. Bereits der Band zum 1Kor lässt einige dieser Züge erkennen, die in der Tat eine aus heutiger Perspektive neue Lesart der Paulusbriefe darstellen.
Der Kommentar bietet im traditionellen Stil jeweils Übersetzung und Auslegung einzelner Textabschnitte. Den Abschluss bilden neben den üblichen Verzeichnissen und Registern ein Überblick über veränderte Gesamtlinien paulinischer Exegese und Theo­logie zum 1Kor (im Gegenüber zu deren herkömmlichem Verständnis), Exkurse zu einzelnen Fragen der Übersetzung sowie eine durchgängige »Arbeitsübersetzung« des gesamten Briefes, die ne­ben der eigentlichen Textwiedergabe eine Fülle von erklärenden Zusätzen (als Interpretationshilfen) und Verweise auf Literatur bietet, die den von B. jeweils bevorzugten Wortlaut stützt. Da Fragen der Übersetzung durchweg im Vordergrund stehen und deren Lösung immer wieder höchst überraschend ausfällt, trägt der Band den Untertitel »Übersetzung und Auslegung ...« zu Recht.
Doch bevor B. sich diesen Dingen zuwendet, konfrontiert er den Leser erst einmal mit der These, der 1Kor verdanke sich einer sekundären Zusammenstellung zahlreicher einzelner Briefe oder Briefteile, denen je unterschiedliche Situationen zu Grunde liegen und die deshalb ein jeweils anderes pastorales Eingehen des Apostels darauf erweisen. Auf dieser Grundlage gliedert B. seine Auslegung in zehn Teile, entsprechend der Anzahl der von ihm ausgemachten »relativ selbständigen Blöcke« des 1Kor (1,1–9; 1,10–4,21; Kapitel 5 f.; 7; 8; 9; 10 f.; 12–14; 15; 16 [9]). Man mag Derartiges für historisch möglich halten oder nicht – die Begründungen, die B. dafür liefert, entstammen jedenfalls einem Vor-Verständnis davon, wie Paulus diesen Brief hätte schreiben müssen, wenn er als einheitlich gelten sollte (vgl. besonders 328 ff.).
So drängt sich gleich zu Anfang der Verdacht auf, die neue Paulus-Sicht verdanke sich bestimmten Vor-Urteilen. So unvermeidbar ein solcher Zusammenhang im hermeneutischen Zirkel des Verstehens und Auslegens auch ist, so unterschiedlich scheint er allerdings im Einzelnen zum Tragen zu kommen. Denn B. präsentiert neben einleuchtenden und überzeugend begründeten Übersetzungen und Interpretationen auch solche, für die das nicht gilt. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Er übersetzt βαπτίζειν in 1,13–17 durchweg mit »tauchen« oder »ins Tauchbad tauchen«. Die der Auslegung zu Grunde liegende Übersetzung lautet dann unter anderem: »Seid ihr in den Namen und die Person des Paulus getaucht worden? Ich bin dankbar, daß ich keinen von euch ins Tauchbad getaucht habe außer Krispus und Gajus ... Nicht nämlich hat mich Christus ausgesandt, ins Tauchbad zu tauchen, sondern das Evangelium zu künden ...« (17). Zur Begründung verweist B. darauf, dass βαπτίζειν im Urchris­tentum zur Zeit des Paulus noch die ursprüngliche, ins Rituelle gehende Bedeutung »ein Tauchbad vollziehen« hatte und der Apos­tel hier mit den möglichen theologischen Nuancen des Wortes spiele, die allerdings erst eine Generation später durch die Wiedergabe mit »taufen« ihre spezifische inhaltliche Prägung erhalten hätten (21). Gegen diese Interpretation ist einzuwenden, dass die Taufe von Anfang an das entscheidende äußere Zeichen der Zugehörigkeit zu Christus und seiner Heilsgemeinde war – und von daher alles dafür spricht, dass die ersten Christen dies auch durch ein neues Verständnis des alten Wortes zum Ausdruck brachten, gerade um die Differenz zu vergleichbaren jüdischen und paganen Riten zu verdeutlichen.
Derartige Übersetzungsprobleme gibt es in B.s Werk zuhauf. Man wird die Dinge im Einzelnen prüfen und sich dann entscheiden müssen. Dabei wird man in den meisten Fällen von den profunden grammatischen und semantischen Analysen B.s profitieren. Freilich sind damit auch inhaltlich-theologische Konsequenzen verbunden. Diese nehmen zwar an einzelnen Übersetzungen ihren Ausgang, sind aber an größeren Kontexten zu verifizieren. So schließt B. aus dem sozusagen urtümlichen Taufverständnis der Korinther (als rituelles Hineingenommenwerden »in eine Person« [vgl. 21]), aber auch anhand anderer Beobachtungen, auf einen allzu menschlichen und deshalb fragwürdigen Personenkult als Hintergrund der Gruppenbildung. Damit spricht er sich dezidiert gegen etablierte Lösungen der Frage aus (gnostische und/oder weisheitliche Ideologie, griechisch-römische Rhetorik usw.). Die Freiheit von dem Zwang, ständig derartige Hintergründe aus dem Textbefund postulieren zu müssen und die Aussagen des Apostels trotzdem als sinnvoll, in sich konsistent und auf eine bestimmte Grundproblematik bezogen zu interpretieren, scheint ihm in diesem Fall Recht zu geben.
Richtig spannend wird es im Bereich der Eschatologie. Nach B. spricht Paulus nicht nur der Sache nach von einem gegenwärtigen neuen Leben der Glaubenden, sondern bezeichnet »dies auch mit ›Auferstehung‹ (Derivaten)« (324). Diese »präsentische Auferstehung« (ebd.) sei an- bzw. ausgesprochen in 6,14b; 15,12.14–23.29 f.56–58. So lautet die Übersetzung von 6,14: »Gott aber hat den Herrn erweckt und erweckt in der Tat uns auf durch dessen Kraft.« Bei dieser Interpretation greift B. (wie so oft) auf die Lesart des Papyrus 46 zurück, die statt des Futurs den Aorist bietet (den er präsentisch-punktuell übersetzt [»in der Tat«]).
Die Erwägungen im Exkurs zu dieser Stelle (334 ff.) wird man nicht einfach vom Tisch wischen können – zumal P 46 Zeuge einer Auseinandersetzung um die richtige Zeitform ist. Die Frage, ob hier sekundär spiritualisiert wurde oder bereits Paulus ein derartiges Auferstehungsverständnis vertrat, wird man nur durch Vergleich mit anderen analogen Aussagen des Apostels klären können. Und hier vermögen die Ausführungen B.s zu Kapitel 15 (275 ff.) nicht wirklich zu überzeugen (zumal er sich dabei durchweg auf die Vorarbeiten seines Schülers Sebastian Schneider beruft): Vor allem der Vorbehalt von Röm 6,4 im Blick auf eine präsentische Auferstehung scheint mir doch zu deutlich gegen seine Thesen zu sprechen. Ähnliches gilt auch für präsentische Deutungen der Rede von der Parusie Christi bzw. des letzten Tages (vgl. 15.68.176.225.280 ff.297 f.301 f.313.324.327 u. ö.) – so zutreffend die Feststellung auch sein mag: »Der auferstandene und erhöhte Herr, nicht seine ›Wie­derkunft‹ oder das Ereignis des Letzten Tages ... steht im Mittelpunkt des paulinischen Denkens, wie es im 1Kor sichtbar wird« (323).
Alles in allem: B.s neue Reihe scheint eine Herausforderung zu werden. Jedenfalls provoziert ihr erster Band ein neues Nachdenken über Paulus, seine Briefe und seine Theologie, und zwar gerade im Bereich anerkannter und scheinbar fest etablierter Positionen. Auch wenn man nicht allem folgen kann – ein Gewinn für die Forschung ist es allemal.