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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

45-47

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Nitsche, Stefan Ark

Titel/Untertitel:

Jesaja 24–27: ein dramatischer Text. Die Frage nach den Genres prophetischer Literatur des Alten Testaments und die Textgraphik der großen Jesajarolle aus Qumran.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 304 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 166. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-17-018672-9.

Rezensent:

Melanie Köhlmoos

Die Studie zu Jes 24–27 stellt die Neuendettelsauer Habilitationsschrift N.s von 2004 dar. Methodisch greift sie Impulse Kesslers, Utzschneiders und auch Baltzers zur Prophetenexegese auf, ihr Gegenstand ist ein Text, der zuletzt 2000 in einer deutschsprachigen Monographie vollständig gewürdigt wurde (Reinhard Scholl, Die Elenden in Gottes Thronrat, BZAW 274).
N.s Untersuchung verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen will N. einen weiteren Beleg für die Annahme beibringen, dass sich prophetische Texte als dramatische Texte verstehen und beschreiben lassen. Zum zweiten soll die Arbeit einen Beitrag zum Verständnis der auffallenden Textgraphik von 1QJesa leisten, wobei ebendiese Textgraphik als empirischer Beweis für das dramatische Genre von Jes 24–27 dienen soll.
Nach einer Einleitung, die diese Fragen ausformuliert und einen knappen Forschungsüberblick zu Jes 24–27 und 1QJesa gibt (11–39), befasst sich der erste Hauptteil in fünf Einzelabschnitten mit Jes 24–27 als dramatischem Text (40–228). Dabei setzt N. seine Definition des Dramatischen deutlich von der herkömmlichen Dramendefinition ab: Als »dramatisch« gilt ein Text, dessen Haupttext aus Figurenrede besteht (Lexis: 42 f.), in dieser seine Welt durch »Wortkulissen« organisiert (Opsis: 44 f.), die Reden kohärent zu­sam­menfügt (Plot/Dramaturgie: 45 f.) und in dem schließlich an­hand dieser Kriterien der Leser/Inszenator zum Erzähler wird (46 f.). Konstitutiv für das dramatische Genre ist N. zufolge außerdem eine charakteristische Zeitstruktur: Anders als in der »Epik« (Erzählung), in der die erzählte Zeit als Vergangenheit von der Erzählzeit als Gegenwart abgesetzt ist, ist in dramatischen Texten nicht immer deutlich, ob ein zeitliches Ereignis der Autorenzeit oder der Buchzeit entstammt. Das hat Konsequenzen für die Interpretation, insofern die Zukunft Teil des Redeninventars und damit des Plots werden kann (49 f.). Es liegt auf der Hand, dass Jes 24–27 als Reden­text ohne Erzählung, aber mit Sprecherwechsel und Verknüpfung der Reden als Paradigma für dramatische Texte in der alttestamentlichen Prophetie gelten kann.
Nach einer Darlegung der Kriterien der Abgrenzung einzelner Figurenreden (58–61), die nicht nur formal, sondern auch inhaltlich bestimmt ist, folgt eine »Rekonstruktion der Lexis von Jes 24–27 (MT), die erkennbare Zäsuren bei 24,16.20; 25,1.6.12; 26,1.8.12.13.15.16.20; 27,1.2.6.9.10.12.13 setzt« (67–78). Dabei gilt, dass der zeitliche Bezugspunkt dieser Redenkomposition die Schauung des Jesaja ben Amoz ist (79).
Anhand einer detaillierten Analyse von Jes 26,8–21 (82–99) ist N. dann in der Lage, den gesamten Text in 25 Figurenreden aufzuteilen, die sich auf folgende Sprecher verteilen: der Prophet (24,1–15.21–23; 25,1–5; 26,1–7.16.21; 27,12), Zion (24,16–20; 26,8–10.17–19b), Chor (26,11.12.13–14.15), JHWH (26,20: zwei Reden; 27,2–5), Sprecher 1 (27,6.8–9) und Sprecher 2 (27,7.10–11). Die Sprecherzuweisung mancher Abschnitte muss offen bleiben (25,6-8.9–11.12; 27,1.13), hier kann es sich um den Propheten oder den Chor handeln. Die jeweils gerade nicht Sprechenden sind als implizite Adressaten auf der Szene präsent, explizite Dialoge gibt es nur in 25,1–5; 26,1–7 (Prophet spricht mit JHWH); 26,8–19 (verschiedene Sprecher sprechen mit JHWH); 26,20 (JHWH spricht zu »meinem Volk« bzw. »Zion«): Nur in Kapitel 26 wird daher die Figurenrede auch zum Dialog. 24,1–15 bestimmt N. als Prolog der gesamten Einheit, in der der sprechende Prophet als Teichoskop agiert, dessen Sicht den gesamten Redediskurs in Gang setzt (111–114). Das zitierte JHWH-Wort umfasst nur V. 3 (112 f.); die hiermit verbundenen Probleme eines scheinbaren Sprecherwechsels löst N. (und für 24,14. 16–17; 25,9–11), indem er mit Zitaten rechnet, die vom jeweils Sprechenden geäußert werden: 25,9–1; 26,1–7 sind demnach »Zitate aus der Zukunft« (115 f.).
Dem analytischen Durchgang durch Jes 24–27 MT schließt sich ein Vergleich mit 1QJesa an (135–152). N. kommt zu dem Ergebnis, dass die Textsegmentierung von 1QJesa mit seiner eigenen Gliederung fast vollständig übereinstimmt (135–138): Die Abweichung in 26,8–11 ergibt sich aus dem unterschiedlichen Text. Das Ergebnis lautet demzufolge: »Zumindest eine hebräische Handschrift gliedert den Text erkennbar nach Sprecherwechseln!« (138). Aus diesem Grund erfolgt die weitere Analyse der Opsis, des Plots und der diachronen Schichtung von Jes 24–27 anhand des Textes von 1QJesa (152–228). In einem zweiten Hauptteil sichert N. seine Ergebnisse mit einem stichprobenartigen Vergleich der Textgraphik von 1QJesa außerhalb von Jes 24–27 ab (229–278). Dieser ergibt: Die Qumranrolle als Ganze weist auf öffentlichen Vortrag des Jesajabuches mit mehreren Sprechern hin, als dramatischer Abschnitt im engeren Sinne kann aber lediglich die Komposition 13–23.24–27 gelten (258–278). N. fasst seinen Ertrag dahingehend zusammen, dass ein Verständnis prophetischer Texte als dramatischer Texte – der Gestalt der Texte angemessen – für diachrone Fragen anschlussfähig ist (283 f.). Außerdem zieht N. die hermeneutische Konsequenz, dass prophetische Texte dramatischen Genres nur im Rahmen einer Diskurs-Hermeneutik angemessen rezipiert werden können: Die prinzipielle Offenheit prophetischer Literatur ist konstitutiv für den Rezeptionsvorgang.
Mit Jes 24–27 hat N. einen Text gewählt, dessen Gestalt eine Analyse in – im weitesten Sinne »dramatischen« – Kategorien geradezu verlangt. Diese Methode lässt sich nicht für alle prophetischen Texte anwenden (15 f. und passim), ist aber m. E. offen für ihre Applikation außerhalb der Prophetie, z. B. auf das Hiobbuch, das Hohelied, möglicherweise auf Psalmen. Gerade, weil N. das »dramatische Genre« von seinem genuinen Handlungselement entkoppelt, erscheint die Methode vielversprechend. Es ist dabei überaus erfreulich, dass N. sehr deutlich macht, dass sein Verfahren nicht an allen Stellen zu eindeutigen Ergebnissen führt, sondern manches offenbleiben muss. Der Umgang mit 1QJes a zeigt – über Steck hinausgehend – neue Perspektiven auf Textgeschichte und Textkritik, obwohl diese Qumranhandschrift offensichtlich einen Sonderfall darstellt. Weiterhin kann N. in Auseinandersetzung mit den Ergebnissen von Wildberger und Kaiser deutlich machen, dass literaturwissenschaftliche und redaktionsgeschichtliche Analysen einander nicht grundsätzlich ausschließen, sondern dass literaturwissenschaftliche Analyse die diachron gewonnenen Ergebnisse noch einmal stützen kann (221–228). Schon N.s Textgliederung entspricht auf weiten Strecken Wildberger und der (stärker synchron orientierten) Studie von Scholl, Abweichungen sind in der Regel durch den Sprecherwechsel gut begründet. Ungewöhnlich ist die Identifikation von Zion als Sprecherin von 24,16–20; 26,8–10.17–19b, die (inhaltlich) auf der Mutter-Metaphorik beruht und nicht ganz befriedigend mit einer Rede in der 1. Pers. Pl. verknüpft wird (88– 95); hier dienen vor allem motiv- und traditionsgeschichtliche Überlegungen zur Stützung einer literaturwissenschaftlichen These, was möglicherweise die Grenzen der Methode überschreitet. Wenn N. auch mehrfach darauf hinweist, dass sein Verständnis des »Dramatischen« die Frage nach der aktuellen Performanz ausblendet, so gehen seine minutiösen Sprecheridentifikationen und auch seine Hypothesen zum Vortrag prophetischer Bücher im Grunde doch in diese Richtung – es bliebt daher die Frage, ob es ein Drama ohne Performanz geben kann. Ob Textgraphik und Varianten von 1QJesa die Sprecheridentifikationen N.s so klar stützen, wie er behauptet, müsste noch einmal en detail überprüft werden. Plot und Opsis von Jes 24–27 (153–159 in Form einer hypothesis; 185–220 als Paraphrase) lesen sich faszinierend und ebenso dramatisch wie ihre Textgrundlage, man vermisst jedoch – trotz der weitgehenden Übernahme der Ergebnisse von Scholl – eine Einbettung in den Diskurs der »Autorenzeit«. Fragen nach der Entstehungssituation lässt N. weitgehend offen. Die literarische Eigenart von Jes 24-27 als Text tritt darum umso deutlicher hervor.
Ein Literaturverzeichnis beschließt den Band (290–304). Leider fehlt ein Stellenregister. Der außerordentlich lesbare und flüssige Stil N.s macht dieses Manko jedoch mehr als wett. Das Buch ist allen zu empfehlen, die sich intensiv mit Jes 24–27 befassen wollen, außerdem allen, die einer Methodik alttestamentlicher Textanalyse auf der Spur sind.