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Ausgabe:

Januar/2009

Spalte:

42-45

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Markl, Dominik

Titel/Untertitel:

Der Dekalog als Verfassung des Gottesvolkes. Die Brennpunkte einer Rechtshermeneutik des Pentateuch in Exodus 19–24 und Deuteronomium 5.

Verlag:

Freiburg: Herder 2007. 346 S. gr.8° = Herders Biblische Studien, 49. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-451-29475-4.

Rezensent:

Eckart Otto

Der Monographie liegt eine an der Jesuitenfakultät der Universität Innsbruck angenommene und von Georg Fischer betreute Dissertation zu Grunde. In der jüngsten Pentateuchforschung hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass erst eine synchrone Lektüre des Pentateuch die ihm zu Grunde liegende rechtshermeneutische Konzeption erkennen lässt. N. Lohfink (SBAB 5, 2005, 181–232) hat aber die »Fabel« des Pentateuch als »Gegenwelt« rekonstruiert, die rechtshermeneutisch die Torot nur deskriptiv verstanden haben wollte, während erst in chronistischer Literatur ein präskriptives (Miss-)verständnis Einzug gehalten habe. Dagegen hat D. Markl schon in der ZAR 11 (2005), 107–121, Einspruch erhoben. Damit war ein Diskussionsfeld eröffnet, das für das Verständnis des Penta teuch von grundlegender Bedeutung ist. Nur ein Verstehen der rechtshermeneutischen Konzeption des Pentateuch in seiner Gesamtheit kann Auskunft darüber geben, welche Funktion die Dekaloge innerhalb der Rechtsüberlieferungen des Pentateuch haben. Der Vf. zeigt auf, dass die u. a. von F. Crüsemann (Die Tora, 1992, 411) vertretene These, es sei »nirgends der Gedanke gegeben«, der Dekalog könne gegenüber dem übrigen Recht »einen höheren Rang haben«, keinen Anhalt an der Rechtshermeneutik des Pentateuch hat, vielmehr den Dekalogen Verfassungsrang in der Rechtshermeneutik des Pentateuch zukomme. Voraussetzung in den Analysen des Vf.s ist seine Sichtweise, dass der Endgestalt des Pentateuch gesellschaftskonstitutive Funktion zukomme, so dass zu untersuchen sei, wie seine Pragmatik funktioniere, wie er also »soziologisch faktisch wirkt«, so dass es einer pragmatisch orientierten Hermeneutik bedürfe, deren Grundlage in einer kommunikationsorientierten Textlinguistik entwickelt worden sei.
In einem ersten Schritt untersucht der Vf. die Dekaloge in Ex 20 und Dtn 5 in ihren narrativen Kontexten in Ex 19–24 und Dtn 5, um in einem zweiten Schritt die Funktion der Dekaloge in den Gesamtkontext des Pentateuch einzuordnen. Der Vf. zeigt auf, dass sich in Ex 19–31 räumliche und zeitliche Geschehens- und Kommunikationsstrukturen überlagern, so dass die Struktur dieser Kapitel nicht einlinig darstellbar ist. Im vorderen Teil (Ex 19–24) aber ist der Dekalog durch ein komplexes System von Rahmungen als Zentrum gestaltet. Einen inneren Ring bilden die Theophanieschilderungen in Ex 19,16–20; 20,18, einen zweiten Ring Bundesangebot und Bundesbuchrede in Ex 19,2–8; 20,21–24,4a, einen dritten Ring Ex 24,4b–11 mit Ex 19,2–8. Unerwartete Brüche wie die Redeeinleitung des Dekalogs ohne Vorbereitung seien als »dramaturgische Effekte« zu lesen. In der Analyse des narrativen Kontexts des De­kalogs in der vorderen Sinaiperikope ist strittig, ob in der Textwelt das Volk den Dekalog nicht verstanden habe, der Dekalog also nur Leserinformation sei, oder ob der Dekalog dem Volk verständlich promulgiert worden sei. Der Vf. spricht sich für die letztere Interpretation aus, doch ist das Fehlen der Adressatenangabe in Ex 20,1 nicht auf die »Universalität der Adressatenschaft« zu deuten. Die Dialogsituation ist alles andere als klar, weil gerade hier eine Mittlerschaft des Mose wie sonst im Kontext nicht im Blick ist.
Das »Sehen« der Theophanieerscheinung an Stelle des Hörens der Dekalogworte ist kaum als »Betonung der Zeugenschaft« zu deuten. Das Volk hat den Dekalog nicht gehört, sondern nur die Erscheinungen der Theophanie gesehen. Darauf, dass die Entscheidung in dieser Frage eine Schlüsselfunktion für die Rechtshermeneutik des Pentateuch hat, sei schon hier hingewiesen. Für den Vf. aber kommt es an dieser Stelle darauf an, den Nachweis zu führen, dass der Dekalog in der erzählten Welt der Sinaiperikope Verfassungsrang habe, da er wie moderne Verfassungen an einem Wendepunkt der Volksgeschichte eingeführt wurde, in formaler Hinsicht zentraler Text des Bundesschlusses sei und in materialer Hinsicht »aufgrund seines sachlich-hierarchischen Aufbaus nach Normen höchster Ordnung hinsichtlich rechtssystematischer und rechtsethischer Kriterien« die Funktion einer Verfassung erfülle. Das Verstehen des Dekalogs durch das Volk ist für den Vf. Voraussetzung dafür, dass er von der Zusage des Volkes als Verfassungskonsens sprechen kann, doch bezieht sich die Gebotsverschriftung wie die Zustimmung des Volkes zu diesen Geboten in Ex 24,3–8 nur auf das Bundesbuch, nicht aber auf den Dekalog, wie die Verschriftungsnotiz eindeutig zeigt, wird doch der Dekalog nach der pentateuchischen Verschriftungstheorie von JHWH selbst verschriftet, eine Sicht, die die Sinaiperikope mit dem Deuteronomium in diachroner wie synchroner Sicht teilt. So reicht es nicht, wenn der Vf. an einer für die Rechtshermeneutik so entscheidenden Stelle nur feststellt, der Text (sc. Ex 24,3) »verbietet aber nicht die Möglichkeit anzunehmen, Mose wiederhole nochmals die Worte des Dekalogs« (139), um darauf die These eines Verfassungskonsenses zu bauen. Hier wird man fragen, ob nicht die Suche nach Analogien zwischen den Dekalogen und modernem Verfassungsrecht zu weit getrieben wird und auch exegetische Fehlentscheidungen provoziert werden.
Zustimmen aber wird man dem Vf. darin, dass der narrative Kontext des Dekalogs in der Sinaiperikope rechtshermeneutisch von großer Bedeutung ist. Dem Dekalog wird innerhalb der sinaitischen Rechtsüberlieferung eine herausgehobene Funktion als »theophanem« Text zugewiesen. Bleibt noch die Frage zu beantworten, wie die Autoren der Sinaiperikope die hermeneutische Frage der Adressierung ihrer Hörer und Leser in der Erzählzeit lösen, und diese Frage ist auf der Basis der Analyse des Vf.s nicht lösbar, so dass er sich ein wenig durch die Hintertür hinausschleicht.
Er stellt selbst die Frage: »Was aber kann die Konstitution der ›Nachkommen Israels‹ in der erzählten Welt des Exodusbuches für deren reale Adressaten bedeuten?« und beantwortet sie damit, dass die bcnê Israel in Ex 1,1–7; 40,36–38 an narrativen Eckpunkten und auch sonst im Buch genannt werden und also als die »Nachkommen Israels« die Adressaten seien. Dass das keine Lösung ist, bedarf keiner weiteren Erörterung. Das Problem nachfolgender Generationen als Adressaten des Pentateuch stellt sich in den auch für die Rechtshermeneutik des Pentateuch zentralen Kapiteln Num 13–14, die Schlüssel sind für die narrative und rechtshermeneutische Relationierung von Sinai- und Moabtora (s. im Folgenden) und damit auch der Dekaloge in Ex 20 und Dtn 5.
Damit wenden wir uns der Analyse von Dtn 5 durch den Vf. zu. Gegen die Analyse durch N. Lohfink (SBAB 5, 111–130), der der Vf. attestiert, sie neige »zu einer auf die rechtlichen Aspekte des Textes verengten Sicht« (175), will der Vf. umfassender den Zusammenhang von Dtn 5 mit dem gesamten Deuteronomium ebenso in den Blick nehmen wie einen Vergleich mit Ex 19–31. Auch in Dtn 5 steht, so der Vf., der Dekalog im Zentrum, gerahmt durch die Ho­reb­reminiszenz in Dtn 5,2–5.22–31 und Paränesen in Dtn 5,1.32 f.
Ein Grundproblem jeder Interpretation des Deuteronomiums ist nicht nur die Frage, wie Sinai- und Moabtora narrativ aufeinander bezogen sind, sondern auch Horeb- und Moabbund innerhalb des Deuteronomiums. Die letztere Frage ist diachron insofern recht eindeutig zu beantworten, als das Deuteronomium der Horebre­daktion (DtrD) durch die Moabredaktion (DtrL) überarbeitet wurde. Wie aber sind auf synchroner Ebene Horeb- und Moabbund aufeinander bezogen? Der Vf. zeigt erneut, dass der Moabbund in Dtn 29 als Gegenpol zur Aktualisierung des Horebbundes in Dtn 5 gestaltet sei. Gegen die These von Chr. Hardmeier (FAT 46, 2005, 123–154), die Moserede in Dtn 5 wolle die Moab-Versammlung zur Bundesversammlung »wie am Horeb selbst« transformieren, hält der Vf. an der Unterscheidung fest (Dtn 28,69). Dtn 5 aktualisiere den Dekalog als verbindliches Bundesdokument des Horebbundes, während mit Dtn 6,1 die Vermittlung von Gottesworten beginne, die im Horebbund noch nicht verpflichtend waren, so dass dem Moabbund die Funktion zukomme, das Gesetz in Dtn 12–26 in die Bundesbeziehung zu integrieren. Das ist jedoch keine ausreichende Lösung, da in gesamtpentateuchischer Perspektive sich dann die Frage stellen muss, wie sich das von Mose am Sinai promulgierte Bundesbuch zum Deuteronomium im Moab verhalten soll. Wa­rum wird das den Dekalog auslegende Gesetz des Deuteronomiums erst jetzt dem Volk mitgeteilt? Die rechtshermeneutisch gelenkte Erzählstrategie bekommt der Vf. so nicht in den Blick. Entscheidend ist das hermeneutische Aktualisierungsbemühen der Erzähler, die über die narrative Erzählstrategie in der erzählten Zeit des Mose auf ihre Erzählzeit und die ihrer Adressaten zielen.
Schlüssel dazu ist der durch Num 13–14 motivierte Generationswechsel, der in Dtn 1,19–46 aus dem gutem Grund narrativer Logik wiederholt wird. Die »zweite Generation« repräsentiert (Dtn 29,14) in der Erzähllogik des Pentateuch alle nachmosaischen Generationen, die – vermittelt über den Moabbund – Anteil am Sinaibund haben sollen. Dann aber ist es von rechtshermeneutisch entscheidender Bedeutung, in welcher Gestalt die Sinaitora auf die nachfolgenden Generationen kommen soll, nämlich in der der Auslegung (Dtn 1,5) der Sinaitora, wobei Mose als erster Schriftgelehrter die Funktion der Schriftauslegung selbst grundlegt. Das gilt auch für den Dekalog in Dtn 5 als Auslegung des Sinaidekalogs. So beantwortet sich die Frage, warum die Autoren in Dtn 5 vom Wortlaut des von Gott selbst gegebenen Dekalogs abweichen. Sie ist die Grundfrage in der Rechtshermeneutik der Dekaloge, denn die Abweichung vom Gotteswort am Sinai ist keine Beiläufigkeit, die nicht dadurch erledigt wird, dass man, wie meist in der bisherigen Forschung, diachrone Überlegungen darüber anstellt, welches die ursprünglichere Fassung der Dekaloge sei. Nein – Mose wagt es, im Zitat des Sinaidekalogs vom göttlichen Wort abzuweichen. Das allerdings wäre der Erklärung bedürftig.
Dazu bedarf es der gesamtpentateuchischen Perspektive, der sich der Vf. im exegetischen Teil der Studie zuwendet. Er zeigt auf, dass narrative und rechtliche Linien die Dekaloge mit dem gesamten Pentateuch vernetzen, wobei die beiden Dekalogfassungen im Pentateuch zwei Brennpunkten einer Ellipse gleichen. Hauptanliegen des Pentateuch sei nicht die Konstruktion einer »Gegenwelt«, sondern die Antwort auf die Frage, wer Israel sei und wie es handeln solle. Der Vf. betont zu Recht die präskriptiv-pragmatische Intention des Pentateuch als Ganzen, der, so ist zu­zu­spitzen, narrativ gerahmte Tora ist. Die Antwort auf diese Frage lautet, so der Vf., dass Israel das Volk Gottes sei, auf ihn vertrauen und nach seinem Willen handeln solle. Der Pentateuch vermittle moralische Identität und konstituiere »Israel« polyvalent als Na­tion, deren Gesetze an das verheißene Land gebunden sind, aber auch als Subgesellschaft in fremder kultureller Umwelt, womit je­weils Gegenwartserfahrungen real im Blick seien. Die Adressaten von Ex 19–24 sollen sich in das überwältigende Theophanie-Ge­schehen versetzen und mit dem Volk am Gottesberg den Dekalog hören. Die Hörer von Dtn 5 sollen dieses Geschehen noch einmal in der Gewissheit erleben, dass der Dekalog auch für sie Gültigkeit habe.
In Exodus und Deuteronomium werden mit der Kontextualisierung des jeweiligen Dekalogs zwei komplementäre rechtsdidaktische Pole verfolgt: Im Exodusbuch liege der Schwerpunkt auf der existentiellen Entscheidung, die der Hörer jeweils zu treffen habe (Ex 19,5), im Deuteronomium auf der konsequenten methodischen Umsetzung (Dtn 5,1.31). »Die unmittelbare kollektive Er­fahrung, der momentane, begeisternde Eindruck muss durch eine stärkere rationale Aneignung ergänzt werden« (270). Die Abweichungen der Formulierungen der Dekaloge deuten auf eine mosaische Aktualisierung nach 40 Jahren Erfahrung, was darauf hinweise, »dass selbst die sprachlich gewählteste gött­liche Gesetzgebung der menschlichen kontextuellen Aktualisierung bedarf« (271).
So richtig das ist, so wird man doch festhalten müssen, dass es den Autoren um mehr als um eine allgemeine Wahrheit theologischer Hermeneutik geht. Texte zu Recht und Ethik mit präskriptivem Anspruch sind in der Regel auf Eindeutigkeit aus. Wenn hier Divergenzen in die Dekalogtexte eingebaut wurden, musste es dafür tiefere Gründe geben, und es gibt sie. Das Deuteronomium ist in die Situation des Überganges in die nachmosaische Zeit im Verheißenen Land loziert und zielt auf die Beantwortung der Frage, wie der Wille Gottes nach Moses Tod in seinem Volk von Generation zu Generation erkennbar sein werde. Die Antwort ist, dass die von Mose verschriftete Tora seine Mittlerfunktion ersetzen werde, in diesem Sinne also Mose in die Tora »auferstanden« sei. Diese Tora aber werde stets nur als ausgelegte Tora im Gottesvolk sein, so wie Mose selbst die Sinaitora im Land Moab für das Leben im Verheißenen Land auslegte. In diesem Sinne wird man sagen können, Mose war kein Fundamentalist, vielmehr für die Autoren des Pentateuch der Begründer jüdischer Schriftgelehrsamkeit. Hier hat der Vf. wesentliche Aspekte synchron lesender Rechtshermeneutik des Pentateuch übersehen.
Der Vf. schließt seine Studie mit Überlegungen zur jüdischen und christlichen Dekalogrezeption sowie in moderner »offener Gesellschaft«. Das theologische Interesse des Vf.s am Thema wird deutlich, wenn er feststellt, der Dekalog stelle inhaltlich einen von Seiten der christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften einzubringenden Basistext für die heutige Grundwertediskussion dar.
Der Vf. hat eine Studie vorgelegt, die Respekt abnötigt. Zwar lässt sich noch manches rechtshermeneutisch tiefer erfassen. Doch enthält die Studie eine Fülle von Detailbeobachtungen, die in die weitere synchron lesende Pentateuchforschung, die sich allerdings anders als der Vf. stets um eine diachrone Aufklärung ihrer selbst bemühen sollte, eingehen werden.